Dunkler Tanz

Voodoo-Roman

Seit seiner Kindheit fühlt sich der exzentrische Performance-Künstler Daniel von Voodoo angezogen. Doch die gemeinsame Karibikreise mit seiner Freundin, der glamourösen Lifestyle-Journalistin Elsie, entwickelt sich rasch zum Albtraum: Elsie gerät in die Fänge eines Kartells, das seine Opfer mit Voodoo gefügig macht. Um sie zu befreien, bleibt Daniel nur eine Chance ... "Dunkler Tanz" ist ein doppelbödiger Thriller, der die Nerven seiner Leser strapaziert und den scheinbar so fest gefügten Boden der Realität ins Wanken bringt. Prolog Sein Körper war wie aus Stein. Er spürte sein Herz nicht. Seine Hände nicht –... alles anzeigen expand_more

Seit seiner Kindheit fühlt sich der exzentrische Performance-Künstler Daniel von Voodoo angezogen. Doch die gemeinsame Karibikreise mit seiner Freundin, der glamourösen Lifestyle-Journalistin Elsie, entwickelt sich rasch zum Albtraum: Elsie gerät in die Fänge eines Kartells, das seine Opfer mit Voodoo gefügig macht. Um sie zu befreien, bleibt Daniel nur eine Chance ...



"Dunkler Tanz" ist ein doppelbödiger Thriller, der die Nerven seiner Leser strapaziert und den scheinbar so fest gefügten Boden der Realität ins Wanken bringt.



Prolog

Sein Körper war wie aus Stein. Er spürte sein Herz nicht. Seine Hände nicht – gar nichts.

Was ist mit mir passiert? Wo bin ich? Still lag er da und horchte in sich hinein.

Nichts als Nacht. Nur tief in ihm drin ein winziges Pünktchen Glut.

Schwerfällig rollten die Gedanken hinter seiner Stirn. Wie Felsbrocken auf einem flachen Hang. Wie bin ich hierher geraten? Was war vorher?

Nichts. Nur dieses glimmende Pünktchen in einem Meer aus Nacht.

Versuch dich zu bewegen! Deine Kampfhand – beweg sie!

Wer spricht da? Starr lag er da, und die Steinbrocken kollerten in seinem Kopf herum.

Plötzlich Bildfetzen, alles grau in grau. Ein feixendes Gesicht, eine riesengroße Spiegelbrille. Eine Hand, schwarz, schmutzig, um eine Spritze gekrallt. Die Nadel in seinem Arm. Ein Gefühl wie Stein, das sich rasend schnell in ihm ausbreitet. Dann nichts mehr – nur noch Nacht. Alles starr.

Deine Kampfhand – ball sie zur Faust! Beweg die Finger!

Wer ist das? Wer bin ich, verdammt? Mein Name, ich muss mich erinnern. Mit dem Namen fängt alles an. Ohne Namen hört alles auf.

Bildfetzen, wie zerschlissene Plakate zwischen den Steinbrocken herumwehend. Das hämisch grinsende Gesicht – die Hand drohend über ihm. Die Spritze, die Nadel in seinem Arm. Die helle, längliche Kiste, die von links ins Bild schießt, als er den Halt verliert. Schlamm in den Beinen, und er fällt hin. Will sich an der Kiste festhalten, aber auch seine Finger sind plötzlich wie aus Lehm.

In der Kiste war jemand drin. Jemand, den er gut kannte. Den er mehr liebte als jeden anderen Menschen auf der Welt. Aber wer war das? Und warum in diesem länglichen Kasten von der Farbe frisch gefällter Pinien?

Versuch dich zu bewegen! Deine Kampfhand! Mach die Finger auf und zu!

Der Kasten, durchfuhr es ihn – ein Sarg! Wer war da drin, wer? Und wo zum Teufel bin ich – was ist das hier? Diese Wände um mich herum, das ist kein Stein. Es ist Holz, verdammt noch mal.

Hartes, federndes Holz. In seinen Knöcheln begann es zu brennen und zu stechen, als er gegen die Wände schlug.

Besser Schmerz als gar kein Gefühl. Besser das dumpfe Dröhnen als gar kein Ton. Besser Panik, als gar nichts zu spüren. Besser lebendig begraben als tot.

Verdammte Scheiße, Danny, du liegst in einem Sarg!

Sie haben dich hier verbuddelt, aber du lebst!

Ein Gutes zumindest hatte seine Panik – der schwarze Schlund in seinem Kopf hatte seinen Namen wieder ausgespuckt.

Danny. Daniel.

Sie haben dir Gift in den Körper gepumpt. Warum? Was für ein Gift?

Sie haben dich in diesen Sarg gesteckt, lebendig begraben – warum, zum Teufel, warum?

Ewigkeiten lag er in der Holzkiste, atmete Pinienduft und modrigen Erdgeruch. Und belauerte den schwarzen Schlund in seinem Kopf.

Das ist kein Gedächtnis, das ist ein Abgrund. Das ist kein Bewusstsein, das ist ein Loch ohne Boden! Schmeiß irgendwas rein, und du siehst es nie mehr wieder.

Doch als der Schlund die Antwort dann endlich ausspuckte, wünschte er sich, dass sein Gedächtnis für immer leer geblieben wäre.

Die Hand, Danny, die Spritze − sie haben Voodoogift in dich reingepumpt! Du bist ein Zombie cadavre ...

Die Starre kehrte zurück. Erfasste wieder seine Hände, sein Gedächtnis, breitete sich überall in ihm aus. Starr und leer. Schwarz drinnen, schwarz draußen. Sonst gar nichts mehr.

Versuch dich zu erinnern – gib nicht auf!

Es kam ihm absurd vor, aber er hatte wirklich den Eindruck, dass der glühende Punkt in seinem Innern ihm diese Befehle schickte.

Du musst die Versteinerung auflösen, indem du alles noch einmal erlebst.

Du musst dich bereitmachen – für die Stunde, wenn sich dein Grab wieder öffnet. Wenn sie dich aus der Erde herausholen. Wenn sie glauben, dass dein Wille für immer erloschen ist.

Aber in mir ist alles schwarz.

Versuch’s trotzdem – es ist deine einzige Chance!

Da fiel ihm unvermittelt ein Satz ein, den er überhaupt nicht begreifen konnte. »Die Loas haben dich erwählt, aber du bist in großer Gefahr, Hazzide.«

Was soll das bedeuten? Wer oder was ist Hazzide?

Er verstand den Satz immer weniger, je öfter er ihn in seinem Kopf hin und her drehte. Aber er zog an dem Satz, riss und rüttelte wieder und wieder daran und zerrte nach und nach ein ganzes Spinnennetz aus Sätzen und Bilderfetzen aus dem Schlund in seinem Kopf hervor.

Aus dem Abgrund, dem Loch ohne Boden, das hinter seiner Stirn begann und bis in Erde und Schlamm hinabzureichen schien.

Du bist in großer Gefahr, Hazzide ...

Erinnere dich, Danny – deine einzige Chance!





1

Irgendwas stimmte nicht mit diesem Club, das spürte Daniel sofort. Er sah sich in der Eingangshalle des »Paraíso« um − an den Wänden pseudo-karibische Kunst, Ölgemälde in naivem Stil, bunte Dämonenmasken, ein flammenrotes Bild von Ogu, dem Feuergott des Voodoo – alles billiger Touristen-Fake. Aber das war es nicht, was ihn schon beim Hereinkommen irritiert hatte. Mit so einem Mist musste man natürlich rechnen, wenn man zwei Urlaubswochen in der Dominikanischen Republik buchte, Vier-Sterne-Club, all inclusive. Er spürte ein Kribbeln hinter dem Nabel, sein inneres Warnsystem, auf das er sich immer schon blindlings verließ.

Gerade eben waren sie angekommen, mit dem Shuttlebus vom Flughafen Puerto Plata in halbstündiger Fahrt an die Playa Dorada gekarrt. Die Klimaanlage schleuderte eiskalte Luftwellen durch die Hotelhalle, trotzdem hatte er auf einmal schweißfeuchte Hände. Achte auf deine Ahnungen, und du wirst niemals in die Falle tappen − eine seiner Weisheiten, mit denen er ständig allen auf die Nerven fiel. Früher seiner Mutter, dann den Kollegen beim Ethnologie-Studium, das er letzten Winter nach vier Semestern geschmissen hatte, und jetzt Elsie.

Der strahlenden Elsie im goldenen Minikleid, die im Pulk der Neuankömmlinge neben ihm stand, die schönste Frau, der Daniel je begegnet war − lange Haare, lange Beine, minzegrüne Augen, hypnotisierendes Lächeln. Seit fast einem Jahr waren Elsie und Daniel ein Paar. Eigentlich konnte er immer noch nicht fassen, dass sie ausgerechnet ihn bei sich aufgenommen hatte. In ihrem bestens organisierten Leben, ihrem Penthouse im Frankfurter Westend, ihrem golden überdachten Himmelbett.

Schwarze Kellner in Bermudashorts und bunten Hemden tänzelten durch die Menge und balancierten Tabletts mit bonbonroten Getränken. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung, dachte Daniel wieder, und er würde herausbekommen, was es war. Argwöhnisch sah er sich in der Halle um, die voll war mit erwartungsfrohen Neuankömmlingen. Alle aus Deutschland, besser verdienend, Mitte zwanzig bis Mitte dreißig, vorherrschende Tonlage: dröhnend selbstbewusst. Einige dieser Typen hatten ihn schon im Flieger genervt. Zum Beispiel der breitschultrige Blonde da drüben mit seinem prahlerischen Gerede und dem abschätzigen Blick, der zu besagen schien: Du bist keiner von uns. Du gehörst nicht hierher. Besser, du verschwindest.

Womit er zweifellos recht hatte.

Dieses Vier-Sterne-Ding war ein Kompromiss zwischen ihm und Elsie, Voodoo und Wellness, Trancetrip und Hochglanztraum. Elsie arbeitete als freie Redakteurin für so ziemlich alle großen Frauenmagazine. Genauso gut hätte sie auf den Titelseiten erscheinen können, als Topmodel oder mysteriöser Vamp mit Rundum-Dekolleté und männermordenden Stilettos. Ihre Schönheit, ihr Glanz, ihre glamourösen Talente waren wie eine Schatztruhe, die Elsie jederzeit zur Verfügung stand. Sie hätte alles werden können, Herrscherin über ein Imperium von Beautyfarmen beispielsweise oder die erfolgreichste Heiratsschwindlerin der jüngeren Menschheitsgeschichte. Doch wundersamerweise hatte sie beschlossen, mit Daniel Messner zusammenzuleben, dem kaum jemand auch nur bescheidene Erfolge zutraute. Außer vielleicht mit seinen seltsamen Kunstprojekten, doch die interessierten höchstens ein paar Szene-Freaks und exzentrische Galeristen. Explodierende Skulpturen auf Video und Schwarz-Weiß-Fotos von dem schlammverschmierten, buckligen Burschen im Wald. Von Stricknadeln durchbohrte schwarze Puppen, die sich auf den zweiten Blick als tote Baumstrünke herausstellten, mit ein paar Lumpen, verspiegelter Sonnenbrille und reichlich Schminke präpariert. Voodoo im Spessart. Einer der nicht gerade zahlreichen Kritiker, die sich letztes Jahr in Daniels Ausstellung Primitive Kunst und Verbotener Traum verirrt hatten, war mit versteinerter Miene an den Bildern entlangmarschiert und hatte dann für sein Magazin einen winzigen Artikel geschrieben, kaum mehr als eine Notiz: »Aufwühlende Grenzgänge zwischen Albtraum, Voodoo-Spuk und Wahn.«

Auch Elsie hielt wenig von Daniels Begeisterung für Voodoo. Wochenlang hatte er versucht, sie für eine Rundreise durch Haiti zu begeistern, das Herzland des Voodoo, das einzige Land auf der Erde, wo Voodoo nicht als gefährlicher Irrsinn galt, sondern mehr oder weniger von der gesamten Bevölkerung gelebte Wirklichkeit war. Aber Elsie war nicht zu erweichen gewesen. Sie hatte behauptet, dass sie überhaupt nicht verstünde, was er ausgerechnet in Haiti wollte. »Das ist doch nur wieder eine deiner Verrücktheiten, Danny, das meinst du nicht im Ernst, oder? Dass ich mit dir in eines der ärmsten Länder der Welt fahren soll? Wo das Trinkwasser verseucht ist, die Leute sich gegenseitig erschießen, vergiften, die Hälse durchschneiden? Und wo sie an diesen blutigen Unfug glauben, Zombies, grässliche Götter, von denen man besessen wird, sodass man zuckend im Kreis tanzen, sich am Boden wälzen muss, wie die Dämonen es einem gerade befehlen? Nicht mit mir, Daniel Messner.« Das wusste sie natürlich alles aus ihren Frauenmagazinen, in denen gepriesen wurde, was schön und glamourös, schick und stilvoll war, und angeprangert, was dieser übersichtlichen Checkliste nicht entsprach.

Rätselhafte Elsie. Sie konnte sich hinreißend hochnäsig geben und hinter einem Panzer aus makellosem Make-up und synthetischen Hochglanzphrasen verschanzen, und alle Welt glaubte, dass dies die wahre und wirkliche Elsie Rohgast war. Aber Daniel wusste es besser, er hatte Elsie tiefer in die Augen gesehen, als sie selbst es jemals bei ihren unendlichen Sessions vor dem Badezimmerspiegel gewagt hatte. Elsie hatte Angst vor ihrer eigenen Leidenschaftlichkeit, nur deshalb klammerte sie sich an alles, was ihr geeignet schien, ihre Selbstkontrolle zu verstärken. Aber gleichzeitig sehnte sie sich wie wahnsinnig danach, von dieser starren Selbstkontrolle erlöst zu werden. Deshalb liebte sie ihn, Danny, und wehrte sich gleichzeitig gegen all das, was er unablässig in ihr Leben, ihr Apartment, ihre Gedanken und Gefühle hineinschleuste, einfach dadurch, dass er bei ihr war. Wahnsinn, Chaos, Leidenschaft, Magie.

Voodoo.

Also Dominikanische Republik, Retortenparadies an der Nordküste, hundertfünfzig Kilometer östlich der Grenze zu Haiti. Und die vage Aussicht auf einen Tagestrip nach Port-au-Prince, die Hauptstadt von Haiti, »mit Teilnahme an einer echten Voodoo-Zeremonie«, falls die aktuelle Sicherheitslage den Grenzübertritt erlaubte. Ein Abstecher auf eigene Faust kam für Daniel nicht in Frage, leider. Elsie würde ihm eine schreckliche Szene machen, sie würde sich verraten und im Stich gelassen fühlen, wenn er ihr mit dem Plan käme, sie für ein paar Tage im »Paraíso« allein zu lassen.

Vor allem aber konnte er überhaupt nicht einschätzen, wie er selbst reagieren würde − wie er sich verändern würde, wie schnell und wie tiefgreifend, wenn er erst einmal ganz und gar in die Welt des Voodoo eingetaucht wäre. Ob er überhaupt zurückkehren würde. Ob irgendetwas von Daniel Messner übrig bleiben würde, das zurückkehren konnte.

Ein schwarzer Kellner, lang und hager wie eine Bambusstange, kam mit finsterer Miene auf sie zu. »Welcome-Drink.« Sein Englisch war mehr oder weniger unverständlich, auf dem Namensschild an seiner Hemdbrust stand »Jean Baptiste«. Daniel beobachtete ihn aufmerksam, er war vielleicht Anfang dreißig, und mit seinem grimmigen Gesicht und den unwirschen Bewegungen passte er überhaupt nicht in diese Inszenierung unbekümmert karibischen Lebensstils. Er pflügte durch die Gästeschar, als ob Gott selbst ihn mit der Säuberung seines Gartens Eden beauftragt hätte. Schon vor ein paar Minuten, als sie hier reingekommen waren, hatte er sich auf diese gebieterische Weise einen Weg gebahnt und dabei Elsie am Arm angerempelt. Mit einer königlichen Gebärde hatte sie ihr goldenes Haar über die Schulter geworfen, ohne dem Grobian auch nur einen Blick zu schenken.

Jetzt unterbrach sie ihr Gespräch mit der langweiligen jungen Psychotante, die seit dem Check-in in Frankfurt nicht mehr von ihrer Seite gewichen war. Paula Blessing, wohnhaft in einer westfälischen Kleinstadt, Spezialgebiet schwermütige Senioren. Dabei machte sie den Eindruck, selbst jemanden zu brauchen, der sie aus ihrer Single-Depression befreite. Unglücklicherweise schien sie ausgerechnet ihn, Daniel, für diese Aufgabe erkoren zu haben. Jedenfalls starrte sie ihn bei jeder Gelegenheit mit schwärmerischem Gesichtsausdruck an, und wenn er ihren Blick erwiderte, wurde sie rot wie ein Teenie-Girl. Die hat mir gerade noch gefehlt, dachte Daniel. Paula war ihm nicht direkt unsympathisch, aber sie war mehr der kumpelhafte Typ, mit selbstlosem Herzen und sportlicher Ponyfrisur.

Elsie machte Jean Baptiste ein Zeichen − erhobener Zeigefinger, umwerfendes Lächeln. Der Kellner starrte durch sie hindurch und machte keinerlei Anstalten, ihr ein Glas zu reichen. Elsie schaute irritiert, und das Kribbeln hinter Daniels Nabel wurde stärker. Er nahm zwei Gläser vom Tablett, reichte Elsie einen der knallroten Drinks, aber sie schien ihn kaum wahrzunehmen. Sie griff nach dem Glas, doch dabei sah sie den finsteren Kellner an, und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den Daniel bei der immer coolen und selbstbeherrschten Elsie noch nie gesehen hatte – erschrocken, eher schon alarmiert.

Neben dem Rezeptionstresen stand ein kleines Podest mit einem Stehpult darauf. Eine junge Frau im Khaki-Kostüm enterte die Plattform und klopfte gegen das Mikrofon. Es folgten die üblichen Begrüßungsformeln und floskelhaften Schwärmereien. Zumindest nahm Daniel an, dass die Gäste sämtlicher Ferienclubs in der Karibik mit solchem Willkommensgeschwätz eingeseift wurden, wenn auch nicht überall in schwäbisch gefärbtem Deutsch: »paradiesisches Eckle« und hier im Club natürlich »Luxus pur«. Kilometerlanger Strand, exklusiv für die »Paraíso«-Gäste, vier Pools, zwei Discos, Wellness- und Fitnessstudios, fünf verschiedene Restaurants, ein halbes Dutzend Bars. »Und wenn Sie trotz allem einmal den Drang verspüren, unser Paradiesle für ein paar Stunden zu verlassen, wenden Sie sich einfach an mich, Carola Schmitz, wie schon gesagt. Ich bin die Event-Managerin und habe eine reiche Auswahl an Exkursionen für Sie vorbereitet – nach Puerto Plata oder zu einem der Natur-Reservate im Osten der Insel.« Sie knipste ihr Abschlusslächeln an. »Hat jemand noch eine Frage? Ansonsten stehen da hinten gleich die Boys bereit, um Sie mitsamt Ihrem Gepäck zu den Bungalows zu bringen. Und damit noch einmal Hallöle und herzlich willkommen.«

»Eine Frage noch, hier.« Daniel hob die Hand mitsamt dem Welcome-Drink, an dem er nur einmal genippt hatte – grauenvoll süß. »Wie steht’s mit der Exkursion nach Haiti – findet die statt?«

Der breitschultrige Blonde, der ihn schon im Flieger genervt hatte, wandte sich zu ihm um. »Muss das jetzt sein, Mann?«

Zorn begann in Daniel zu brodeln. Eigentlich war er ein friedlicher Zeitgenosse, aber dieser Typ legte es offenbar drauf an, ihn von seiner anderen Seite kennen zu lernen − Daniel der Vulkan. Manchmal schoss Wut wie glühende Lava in ihm empor, dann konnte es passieren, dass er sich brüllend auf seinen Widersacher stürzte. Er erkannte sich dann selbst kaum wieder.

Mit Mühe gelang es ihm, seine Wut zu zügeln. »Dauert ja nur eine Minute.«

Der Blonde sah ihn noch einen Moment unter gerunzelten Brauen an, als ob er sagen wollte: Beim nächsten Mal bist du dran, du mieser Typ.

»Also haben wir tatsächlich wieder mal einen Haiti-Freak im Club?« Carola Schmitz schenkte Daniel ein amüsiertes Lächeln. Sie trat hinter dem Rednerpult hervor, erstaunlicherweise trug sie zum Khaki-Kostüm senfgelbe Netzstrümpfe. »Wie bereits in unseren Reiseunterlagen erläutert, hängt es nicht von uns, sondern von der Sicherheitslage in Haiti ab, ob unsere Tour über die Grenze stattfinden kann. Momentan geht es drüben wieder ziemlich hoch her − Schießereien, Entführungen, Aufstände, Typhusgefahr, die ganze Palette. Wir tun aber unser Möglichstes, damit der Ausflug am nächsten Samstag trotzdem über die Bühne gehen kann – falls sich hier im Club zumindest eine Handvoll Interessenten finden.«

Daniel wollte noch weitere Fragen stellen, aber die Geduld der anderen Gäste war offenbar erschöpft. »Ich will jetzt zu meinem Boy!«, rief eine Frau. Gelächter und zweideutige Zurufe zeigten, dass den Leuten ihr Begrüßungscocktail zu Kopf gestiegen war. Und dass die jungen Schwarzen, die in Bermudashorts und geflissentlicher Haltung neben den Koffern warteten, bei einigen Ladys schwüle Fantasien auslösten.

»Mister? Miss?« Neben ihnen erschien einer der Boys, ein riesiger Bursche mit Kindergesicht. »Name, bitte? Ich euch bring zu Ihre Haus.«



+++



Sie folgten dem Träger aus der Halle heraus, und die tropische Schwüle stürzte auf sie ein. Es fühlte sich an, als ob man in heiße, klatschnasse Laken gewickelt würde. Daniel wollte dem Schwarzen anbieten, ihm beim Schleppen ihrer Gepäckstücke zu helfen, aber der Bursche lief, die Koffer wie gewichtslose Anhängsel schwenkend, mit so riesengroßen Schritten voraus, dass sie Mühe hatten, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Anlage war viel weitläufiger, als Daniel erwartet hatte. Sie kamen an diversen Pools vorbei, mit Rutschen, Fontänen, Cocktailbars mitten im Wasser. Auf den Liegen um die Pools herum rekelten sich jede Menge Leute, fast alle unter dreißig, Drinks in der Hand, Sonnenbrille im Gesicht, alle lässig, gebräunt und relaxt. Reggae-Rhythmen dröhnten aus Lautsprechern, Animateure schrien Kommandos, wie man sich amüsieren sollte, ins Mikrofon. Palmenreihen und blühende Hecken trennten verschiedene Bereiche der Clubwelt voneinander ab. Es gab gläserne Sporthallen, überdachte Büffets, ein Restaurant im Pagoden-Stil und eines, dessen Dach wie ein Sombrero geformt war.

Im Gehen sah sich Elsie nach links und rechts um, offenbar begeistert von all den Herrlichkeiten, die das »Paraíso« zu bieten hatte. Daniel dagegen würgte an seiner Wut. Mit dieser Horde hirnloser Sonnenanbeter sollte er die nächste Zeit verbringen? Leuten, die einen Haufen Geld ausgaben, um zwei oder drei Wochen lang nichts anderes zu machen, als am Pool rumzuhängen, sich mit Cocktails abzufüllen und höchstens noch draußen bei den Korallenriffs ein bisschen zu tauchen? Warum hatte er sich auf diesen Club-Schwachsinn eingelassen? Jetzt saß er in dieser beschissenen Anlage fest, während keine zweihundert Kilometer westlich von hier seine Traumwelt anfing. Haiti, das magischste Land des ganzen Planeten. Aber da hinten, ein paar Kilometer landeinwärts, gab es auch einen Wald, der eine Hügelkette bedeckte. Diesen Wald würde er sich bald mal näher ansehen. Oder vielleicht auch besser nicht. Im Wald fühlte sich Daniel geborgen, zu Hause, so war es ihm immer schon ergangen, schon als kleiner Junge. Aber Elsie fand seine Waldleidenschaft unheimlich, und er wollte keinen Streit.

»Herrje, wohin ist der denn jetzt verschwunden?« Elsie beschleunigte ihre Schritte und reckte im Gehen den Hals. »Und warum trödelst du so, Danny?«

»Sind wir im Urlaub oder beim Marathonlauf?« Er beschirmte die Augen mit der Hand. »Da vorne steht er und wartet auf uns. Siehst du nicht – er hat ja dein Goldköfferchen unterm Arm.«

»Der da?«, wunderte sich Elsie. »Das ist doch der Kellner, der vorhin die Cocktails verteilt hat. Hatten wir nicht eben noch einen anderen Boy – so einen jüngeren, der andauernd gegrinst hat?«

»Wunschdenken, Elsie.« Aber sie hatte natürlich recht. Das Kribbeln kehrte zurück, Daniel nahm ihre Hand und zog sie weiter, hinter dem hageren Schwarzen her. Der schien sich mit einem Blick zu vergewissern, dass sie hinter ihm waren, dann bog er unvermittelt ab.

Sie folgten ihm einen Seitenpfad entlang, der von blühenden Hecken gesäumt war und vor einem weiß verputzten Häuschen endete. Flachdach, türkisgrüne Klappläden vor den Fenstern. »Sieht toll aus«, kommentierte Elsie.

Daniel zuckte mit den Schultern. Einen üblen Eindruck machte die Hütte nicht, auch wenn die Bungalows ziemlich eng beisammen standen, durch Hecken und Büsche notdürftig voneinander abgeschirmt. Falls ihre Nachbarn links oder rechts zu lautstarken nächtlichen Betätigungen neigten, würde ihnen kein Stöhnen erspart bleiben.

Jean Baptiste schloss die Tür auf und trug ihre Koffer hinein. Ein großes Bett, unter dem Fenster zwei Sesselchen und ein kleiner Tisch. Die Fensterläden waren geschlossen, trotzdem war es dampfend warm. Jean Baptiste trat neben das Bett, beugte sich vor, machte sich kurz am Bettgestell zu schaffen, richtete sich wieder auf und deutete auf einen Schalter neben der offenen Badtür. »Air condition«, sagte er in seinem fast unverständlichen Englisch.

Erst da wurde Daniel das eigentlich Offensichtliche klar. Der nasale Akzent und der französische Name, Jean Baptiste. Die Leute auf dieser Seite der Grenze hatten ja spanische Namen, sprachen Spanisch oder allenfalls ein paar Brocken Deutsch oder Englisch. Aber Französisch – oder Kreyòl, eine Schwundform des Französischen – wurde auf der ganzen Insel nur in Haiti geredet, der einstigen französischen Kolonie.

»Vous-êtes Haïtien, Monsieur?« Das Herz klopfte ihm auf einmal so heftig, als ob er in Frankfurt sämtliche Treppen zu ihrer Wohnung im siebzehnten Stock hochgesprintet wäre. Ihrer, Einzahl − Elsies Wohnung.

Jean Baptiste nickte so knapp, dass es eben noch als Nicken zu erkennen war. Er wirkte immer noch so grimmig wie in der Hotelhalle. Und seine Miene wurde nur noch finsterer, als Daniel einen kleinen Stapel Geldnoten aus der Tasche fischte, drei einzelne Dollarscheine abzählte und ihm mit einer verlegenen Geste hinhielt.

»Vielen Dank«, sagte er auf Französisch. »Für das Koffertragen«, fügte er hinzu, da Jean Baptiste keinerlei Anstalten machte, die Dollarnoten an sich zu nehmen.

Das hagere Gesicht des Haitianers hatte einen fast höhnischen Ausdruck, als er endlich zugriff. Aufreizend langsam nahm er die Scheine entgegen, faltete sie zweimal zusammen und schob sie in seine Brusttasche.

Als Daniel zu Elsie hinüberschaute, stand sie am Fenster und sah Jean Baptiste wieder mit diesem seltsamen Gesichtsausdruck an − alarmiert und gleichzeitig irgendwie ergeben. Was aber wirklich nicht sein konnte. Elsie Rohgast und ergeben? Das passte zusammen wie Cartier und Heilsarmee.

Blödsinn, das bildete er sich doch nur ein! Was hatte Elsie denn mit diesem Burschen zu schaffen, dieser Bambusstange mit der finstersten Miene, die er jemals bei einem Hotelbediensteten gesehen hatte? Elsie liebte es, wenn die Männer sie anhimmelten, ihr die Tür aufhielten, unter ihren Blicken dahinschmolzen. Für so einen ungehobelten Kerl, der düster durch sie hindurch starrte, anstatt ihr die Wünsche von den Augen abzulesen, hatte sie normalerweise keinen Blick.

Normalerweise. Das Kribbeln fühlte sich mittlerweile an, als ob hinter Daniels Nabel ein Nest roter Waldameisen wäre.

»Was hältst du von diesem Burschen?«, fragte er, als Jean Baptiste endlich die Tür hinter sich geschlossen hatte, selbstverständlich ohne sich zu verabschieden.

»Von welchem Burschen denn?« Elsie hob ihren Koffer auf ihre Betthälfte und klappte ihn auf.

»Na, dem Mann, der uns die Sachen hier reingetragen hat – diesem Jean Baptiste.«

Sie lächelte ihn über den Kofferrand hinweg an. »Was soll ich schon von ihm halten – gegen dich würde ich ihn nicht eintauschen, glaube ich.« Ihre Bemerkung war sicher scherzhaft gemeint, doch noch während sie es sagte, verblasste Elsies Lächeln.

Daniel nahm sich vor, Jean Baptiste bald mal auf den Zahn zu fühlen. Wenn in diesem Club irgendwas nicht stimmte, hing das höchstwahrscheinlich auch mit ihm zusammen. Und falls er bei dieser Gelegenheit das eine oder andere über die Beschwörung der Voodoo-Götter und den Tanz der Besessenen erfahren könnte – umso besser.



Andreas Gößling, geboren 1958 in Gelnhausen.



Der promovierte Literatur- und Kommunikationswissenschafter beschäftigt sich seit vielen Jahren mit kultur- und mythengeschichtlichen Themen. Neben Romanen für erwachsene und junge Leser hat er zahlreiche Sachbücher publiziert und Forschungsreisen unter anderem im karibischen und südostasiatischen Raum unternommen. Andreas Gößling lebt mit seiner Frau, der Autorin und Sprachdozentin Anne Löhr-Gößling, bei Berlin.

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  • Autor find_in_page Andreas Gößling
  • Autoreninformationen Andreas Gößling, geboren 1958 in Gelnhausen. Der promovierte… open_in_new Mehr erfahren
  • Wasserzeichen ja
  • Verlag find_in_page MayaMedia Verlag
  • Seitenzahl 256
  • Veröffentlichung 24.03.2020
  • ISBN 9783944488424

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