Die Nacht davor

Die Titelgeschichte beruht auf einer ungewöhnlichen Idee: Der Mann, Franz Krug, war einst für die großen Paraden auf der Karl-Marx-Allee verantwortlich. Nun aber gab es bereits zum dritten Mal keine solchen Paraden mehr. Das ärgerte ihn. Aber nicht nur das: Franz Krug hatte sich am Abend über die Frau geärgert, wie so oft in der letzten Zeit. Sie hatte sich nach dem Abendessen den Mantel übergezogen und gesagt, dass sie zur Tochter fahre, die kleine Kristina sei wieder mal krank, und Constanze käme ja erst um Mitternacht nach Hause. Er ärgerte sich, weil seine Frau gerade heute zur Tochter gehen musste und ihn allein ließ. Er... alles anzeigen expand_more

Die Titelgeschichte beruht auf einer ungewöhnlichen Idee: Der Mann, Franz Krug, war einst für die großen Paraden auf der Karl-Marx-Allee verantwortlich. Nun aber gab es bereits zum dritten Mal keine solchen Paraden mehr. Das ärgerte ihn. Aber nicht nur das:

Franz Krug hatte sich am Abend über die Frau geärgert, wie so oft in der letzten Zeit.

Sie hatte sich nach dem Abendessen den Mantel übergezogen und gesagt, dass sie zur Tochter fahre, die kleine Kristina sei wieder mal krank, und Constanze käme ja erst um Mitternacht nach Hause.

Er ärgerte sich, weil seine Frau gerade heute zur Tochter gehen musste und ihn allein ließ. Er wusste erst gar nicht, was er tun sollte, ging dann entschlossen ins Schlafzimmer und holte die Uniform aus dem Kleiderschrank. Er befreite sie vom Plasteüberzug und hängte sie an den Schrank. Seine Uniform, die letzte, die er trug, bis sie ihn entließen. Die geflochtenen Schulterstücke glänzten, die Ordensschnalle hatte drei Reihen. Er strich behutsam über die Schnalle. Das ist mein Leben, dachte er. Ja, das ist mein Leben. Zum Teufel, das nimmt mir keiner weg.



Dann kam dem Ex-NVA-Oberstleutnant ein höchst ungewöhnlicher Gedanke. Er zog sich seine Uniform an, die er das letzte Mal vor genau drei Jahren getragen hatte. Und er legte die rechte Hand an den Mützenschirm und sagte: „Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik.“

Er wird jetzt in seiner Uniform auf die Straße gehen. Er wird dorthin marschieren, wo er vor drei Jahren auch war in der Nacht vor der Parade.

In „SPUCK' VOR IHR AUS …“ wird ein Mann verhaftet. Und seine Tochter Tanja versteht das alles nicht.

In „KATARINA UND DIE BIRKE VOM HOF“ beginnen in der neuen Nach-Wendezeit Bauarbeiten, auch auf dem Hof, wo die Birke steht. Und dabei stört die Birke …

In „WAS WÄRE WENN …“ fragt sich Görlich, was wäre, wenn der aus der Kriegsgefangenschaft entlassene 21-Jährige 1946 nicht in Ludwigsfelde, sondern in Schleswig-Holstein gelandet wäre …

In „EINE INSEL AUS TRÄUMEN GEBOREN IST HAWAII“ geht es um Grundstücksfragen.

„NACHDENKEN ÜBER ANNA SEGHERS“ zwingt den Autor auch zum Nachdenken über sich selbst.

Außerdem präsentiert der Band die 1995 geschriebene Urfassung seines Stücks „In der Kneipe zur deutschen Einheit“ oder „Das Fell versaufen“. Die zehn Szenen spielen in einer Berliner Kneipe in Prenzlauer Berg und in der damaligen Gegenwart – 1995 eben.



DIE NACHT DAVOR

SPUCK' VOR IHR AUS …

KATARINA UND DIE BIRKE VOM HOF

WAS WÄRE WENN …

EINE INSEL AUS TRÄUMEN GEBOREN IST HAWAII

NACHDENKEN ÜBER ANNA SEGHERS

„In der Kneipe zur deutschen Eintracht“ oder „Das Fell versaufen“



Am dritten Tag des neuen Jahres wurde Klaus Tauber verhaftet.

In der ersten Zeit danach weinte Mutter oft, doch bald hatte sie keine Tränen mehr. Aus dem Briefkasten holte sie Karten und Zettel, las sie und zerriss die meisten in kleine Schnipsel.

„Warum machst du das, Mama?“, fragte Tanja. „Ist nicht wichtig“, sagte die Mutter, „Papa muss Post, auf der kein Absender angegeben ist, nicht lesen.“



Wenige Tage später wartete Tanja wie an jedem Morgen vor der Kaufhalle auf ihre Freundin Peggy. Sie musste lange warten.

Als sie Peggy kommen sah, war sie froh, wunderte sich aber, dass sie so langsam ging.

„Hallo, Peggy“, sagte Tanja, „wir müssen uns beeilen.“

Peggy sah Tanja abweisend an.

„Du brauchst nicht mehr auf mich zu warten“, sagte sie, „ich bin nicht mehr deine Freundin.“

„Du bist nicht mehr meine Freundin?“

„Dein Vater sitzt im Gefängnis. Er ist ein Betrüger“, sagte Peggy.

„Ja, er ist im Gefängnis“, sagte Tanja leise.



„Du musst dich schämen, sagt mein Vater. Du musst allen sagen, dass du dich für deinen Vater schämst.“

„Er ist kein Betrüger. Wer sagt so was?“

„Das steht in der Zeitung. Mein Papa hat mir die Stelle gezeigt. Dein Vater ist ins Gefängnis gekommen, weil er betrogen hat. Wir haben damals vor dem Wahllokal gesungen. Bei den Wahlen hat er betrogen.“

„Ich glaube das nicht“, flüsterte Tanja.

„Mein Papa sagt, solche wie dein Vater sind an allem schuld. Er will mit denen nichts mehr zu tun haben.“

„Und du willst mit mir nichts mehr zu tun haben.“

„Ich soll vor dir ausspucken, wenn du für deinen Vater eintrittst, hat mein Papa gesagt.“

„Dann spuck vor mir aus“, sagte Tanja.

Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie sah, wie Peggy davonging, sich immer weiter von ihr entfernte.



Günter Görlich

Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.

Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.

Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.

1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.

Weitere Auszeichnungen:

Kunstpreis des FDGB 1966, 1973

Nationalpreis 2. Klasse 1971

Held der Arbeit 1974

Nationalpreis 1. Klasse 1978

Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979

Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979

Ehrenspange zum VVO in Gold 1988

Goethepreis der Stadt Berlin 1983

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