Der rote Antares

Roman

«Was sind Wörter, wir sagen uns nur irgendwelche Wörter.» Als Wiebke diesen Satz denkt, fühlt sie sich als eine andere. Sie weiß nicht, ob sie froh darüber sein kann. Aber was nun folgen wird, hängt nicht nur von der Reaktion ihres Mannes Albrecht ab. In drei Tagen ist viel geschehen. Wiebke und Albrecht, seit wenigen Monaten verheiratet, leben an seinem ersten Dienstort. Was so idyllisch schien, wird für die junge Frau allmählich unerträglich. Der Zweifel an dem Sinn ihres Lebens wächst, und dieser Sinn reduziert sich mehr und mehr auf ihre Rolle als werdende Mutter. Sie zweifelt an diesem Sinn. Sie zweifelt auch an der... alles anzeigen expand_more

«Was sind Wörter, wir sagen uns nur irgendwelche Wörter.» Als Wiebke diesen Satz denkt, fühlt sie sich als eine andere. Sie weiß nicht, ob sie froh darüber sein kann. Aber was nun folgen wird, hängt nicht nur von der Reaktion ihres Mannes Albrecht ab. In drei Tagen ist viel geschehen.

Wiebke und Albrecht, seit wenigen Monaten verheiratet, leben an seinem ersten Dienstort. Was so idyllisch schien, wird für die junge Frau allmählich unerträglich. Der Zweifel an dem Sinn ihres Lebens wächst, und dieser Sinn reduziert sich mehr und mehr auf ihre Rolle als werdende Mutter. Sie zweifelt an diesem Sinn. Sie zweifelt auch an der Liebe Albrechts, der als junger Offizier der Nationalen Volksarmee von seinen Soldaten geachtet wird. Aber Albrecht, ausgefüllt von seinem Leben in der Truppe, ständig gefordert von Soldaten und Vorgesetzten, spürt nicht, wie es um sie steht, wie ernst es ist. Darum kann er ihre Flucht nicht begreifen und darum verschärft sich der Konflikt zwischen beiden schnell. Es geht nun nicht um das Zerschlagen eines flüchtig geschürzten Knotens oder um eine perfekt nachzuvollziehende Entscheidung.

Drei Tage (Frühling) im Leben der beiden Menschen, die in diesem Roman erzählt werden, bringen eine Lösung, die keiner von beiden gewollt oder bewirkt hat, aber die Partner treten sich nach drei Tagen anders gegenüber - um ihrer selbst willen. In das Geschehen der drei Tage, emotional tief und unmittelbar gestaltet, fließt die mögliche Antwort auf die Frage ein, wodurch Menschen wurden, wie sie sind, was sie selbst bewirkt haben könnten und inwiefern sie im jeweiligen Augenblick verwoben sind mit dem Schicksal anderer, mit dem Leben auf dieser Welt. Schwer ist die Verantwortung, das Menschenmögliche zu tun, für andere und für sich selbst.



Obermeier liest langsam, Zipolles Schrift lässt sich nicht schnell lesen. Eine schreckliche Pfote schreibt der Mann, denkt er. Je länger er liest, desto erstaunter wird er, das schreibt nun ein Mann wie Zipolle.

... ich fühle mich viel wohler, seitdem ich wieder im Zug des Leutnants Wenze bin, bei dem war ich schon einmal, das habe ich Dir geschrieben. Eine Zeit lang hatten sie mich einem Leutnant Fürst übergeben, in dem seinen Zug war ich Schütze Arsch, entschuldige bitte, aber es stimmt, oder was ist, wenn man immer die Klos sauber machen soll, die andere einsauen? Bei Leutnant Wenze, da geht es gerecht zu, da hatte ich mächtigen Dusel. Wenn Du kannst, liebe Mutter, dann sammle doch wieder Kreuzworträtsel, du kannst sie ja aus der Wochenendbeilage ausschneiden und herschicken, ich habe mir nämlich ein Heft angelegt, wenn ich Wörter nicht weiß, dann schreibe ich sie hinein. Später kann ich nachblättern. Mach Dir keine Sorgen um mich, das Essen geht schon, es ist besser geworden, und rede lieber nicht mit dem Mädchen, soll sie einen anderen haben. Wenn ich entlassen werde, suche ich gründlich, ich habe auch mit dem Leutnant Wenze darüber gesprochen, er hat gemerkt, wie ich im Dalles war. Auspacken die Probleme, hat er gesagt, die Wahrheit auf den Tisch, treu muss ein Mädchen schon sein, süße Reden und falsches Herz, das hat keinen Zweck. Wenn ich entlassen bin, bauen wir das Haus um, ich arbeite weiter als Baumschulengärtner, ich muss an der Luft sein. Liebe Mutter, ich bleibe doch bei Dir wohnen, mach Dir keine Sorgen. Ich liege im Zimmer zusammen mit Radieschen, mit dem ich Dich mal besucht habe, weißt Du, der immer so viel Zwiebeln isst, und Rotmann, der studiert ist und in seinem Koffer lauter Bücher hat, die hat der auch im Kopf. Im Unterricht bin ich vom Leutnant gelobt worden, ich habe ganz frei gesprochen, das erste Mal in meinem Leben. Kannst Du Dir das vorstellen? Franz Zipolle steht vorn und redet wie der Vorsitzende zur Vollversammlung? Das habe ich in der Schule nie gekonnt. Ich habe früher kein Wort rausgekriegt, wenn ich vorn stehen musste.

Liebe Mutter! Du bist zu jung, Du hast bestimmt keine böse Krankheit, lass Dir das nicht einreden von den Alten, es kann bloß so eine Geschwulst sein. Mein Leutnant meint das auch, nicht dass Du denkst, ich sage dem Leutnant alles, aber er fragt mich öfter. Meinem Gruppenführer Obermeier kann ich das nicht sagen, der würde mich auslachen, der würde nicht verstehen, dass ich ihm mit solchen Sachen komme, der ist kein ausgetretenes Ei wert, der ist leicht eingeschnappt und will, dass man ihm um den Bart geht, der ist wie der Vorsitzende in unserem Dorf, lobt man ihn, dann ist alles gut, man muss ihn anstaunen und so tun, als könnte man nie so gut sein wie er. Na, Du kennst das ja. Entschuldige meine Schrift. Ich schreibe so in den Pausen. Der Urlaub ist beantragt, in vierzehn Tagen komme ich und streiche Dir den Zaun an und Sentas Hütte auch, und wir werden uns beide in Staat werfen und in die Stadt gehen, ich habe jetzt endlich eine Hose bekommen, die nicht mehr so weit ist, und so kurz auch nicht, darin kann ich mich schon eher mit Dir sehen lassen. Im letzten Kreuzworträtsel stand: König von Theben, mit fünf Buchstaben, ich hatte keine Ahnung und fragte meinen Leutnant, aber der hatte keine Zeit. Oder er wusste es selber nicht, und so fragte ich Rotmann, der ja lange studiert hat und sogar Doktor wird, aber nicht einer, der Menschen untersucht, Rotmann sagte: Laios, mit ai. Und dann erzählte er mir die Geschichte, die ist vielleicht spannend. Ein Sohn war von seinem Vater ausgesetzt worden. Viele Jahre später kam er als Fremder in die Heimat zurück. Dort tötete er Laios, seinen Vater, von dem er ja nicht wusste, dass es sein Vater war, und heiratete Jokaste, seine Mutter, von der er ebenfalls nicht wusste, dass es seine Mutter war. Als er nun die Wahrheit erfuhr, machte er sich selber blind. Ich hätte gern meinen Vater kennengelernt, du musst wieder mal von ihm erzählen, wie er war, ich höre das gern, er wäre jetzt vierzig Jahre alt, so alt ist Oberstleutnant Hyder, unser Bataillonskommandeur. Besorgst Du mir in der Kreisstadt griechische Sagen? Es soll zwei Bände geben. Dann wollte ich Dir noch mitteilen, dass ich inzwischen elf Klimmzüge schaffe und das Zentnergewicht zehnmal stemme, aber davon brauchst Du dem Mädchen nichts zu sagen, wenn Du die mal triffst. Denn es soll ja keine Angabe sein, mach ihr auch keine Vorwürfe, es war nämlich schön mit ihr, wenn ich mit ihr im Weinbergsgrund war. Aber treu muss ein Mädchen sein, da hat der Leutnant recht, der ist verheiratet, seine Frau sieht sehr schön aus. Ich werde mich richtig umsehen. Wenn ich ein Mädchen finde, dann müsste sie so sein wie Du. Liebe Mutter! Ich möchte dem Leutnant gern den Tabaksbeutel von Vater schenken, weißt Du, den Vater aus dem Herzbeutel des Rindes angefertigt hat, Wenze raucht nämlich Pfeife. Der Beutel liegt doch noch im untersten Kommodenfach? Und wenn Du wieder was schickst, pack mir eine große Dauerwurst ein, für die Stube, essen können wir immer. Wie macht sich die kleine Simone in der Schule, schielt sie noch auf einem Auge, oder hat sich das gegeben? Bier trinke ich nur noch selten, es soll keine Dummheit wieder vorkommen. Ich spare nämlich, Du wirst staunen, wir streichen den Zaun ganz blau an ...

Als sich Zipolle im Schlaf bewegt, unbeholfen wie ein junger Hund, schlägt Obermeier den Block zu und steckt ihn dem Soldaten in den Stiefelschaft. Zipolle liegt auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, als möchte er den Himmel umfangen. Er schnarcht mit geöffnetem Munde. Die beiden Raffzähne im Mäusegebiss wirken wie kurze Hauer. Vielleicht träumt er von dem blauen Zaun, dem Hund Senta und von allen vier Straßen der Welt. Es riecht nach Schweiß und Erde.

Obermeier fühlt sich nicht mehr müde. Er ist aufgekratzt, sieht auf Zipolle hinab und denkt: So einen Brief schreibt der nun, ich hätte nicht gedacht, dass er so einen Brief überhaupt schreiben kann. Wir haben ihn so oft zum Affen gemacht. Erzähl mal, wie du deine Fahrerlaubnis losgeworden bist, erzähl doch mal, wie du neben der Frau des Vorsitzenden aufgewacht bist und gar nichts dafür konntest, weil sie dich blau in die Kammer getragen hatten. Und dann erzählte Zipolle, naiv und zum wiederholten Male, weil er sich freute, andere unterhalten zu können und im Mittelpunkt zu stehen. Da wirkte er zufrieden mit sich und mit allem, was mit ihm geschah.

Nun hat Obermeier durch einen Brief einen ganz anderen Zipolle kennengelernt und denkt daran, wie er ihn ausgelacht hat.

Solche Gedanken macht der sich über mich, denkt er, er schätzt mich so ein, kein ausgetretenes Ei soll ich wert sein. Na warte, Bursche, ich fühle mich, als wäre ich gegen den Strich geleckt worden. Dass der überhaupt nachdenken, dass er einen so langen Salm schreiben kann, das sieht man diesem Gesicht gar nicht an. So soll ich also sein. Da hört doch der Gurkenhandel auf. Ich komme mir ja vor, als hätte mich in kurzer Zeit einer aus und in den Sack gespielt. Das saugt sich doch ein Mensch wie Zipolle nicht aus den Fingern, dazu reicht ihm die Fantasie gar nicht. So kann ich doch nicht sein.

Obermeier friert. Er denkt über sich nach. Er beugt sich zu Zipolle herab und verscheucht einen Nachtfalter, der sich auf die Stirn des Schlafenden gesetzt hat. Er friert, weil er übermüdet ist, Schauer laufen über seinen Rücken.

Obermeier weckt die Schläfer genau zur vorgegebenen Zeit und wäscht sich in einem Wassertümpel, der im Gold der frühen kalten Sonne schwimmt, das Gesicht und den nackten Oberkörper.

Verstohlen blickt er auf den gedrungenen Zipolle, der sich mit dem kühlen Wasser bespritzt und nicht darauf achtet, dass dabei die Hose nass wird.

Obermeier denkt: Mich wirft das nicht um, deswegen bleibt er doch zu lahm im Angriff. Aber warum schätzt der Zipolle den Wenze so hoch ein? Natürlich zeigt Zipolle guten Willen, aber was soll ich schon mit einem guten Willen anfangen? Ich kann ihn nicht fragen, warum er mich so sieht. Ich darf ja von diesem Brief nichts wissen. Ich bin also kein ausgetretenes Ei wert.

Er zieht sich an und geht zu dem Leutnant, der mit Turner redet. Turners Gruppe ist die langsamste. Obermeier möchte sagen: Dann setzen Sie doch endlich einen Unteroffizier ein, Turner ist Gefreiter und macht nur seine eineinhalb Jahre, der ist in drei Wochen fertig und dreht nicht mehr voll auf. Aber er verbeißt sich die Bemerkung. Dabei kommt es ihm vor, als ob Wenze auf eine Bemerkung von ihm gewartet hat.



Heinz Kruschel, 1929–2011, Sohn eines Bergmanns und späteren kaufmännischen Angestellten der Staßfurter Salzbergwerke, entging nur knapp dem für seine Generation typischen Schicksal, im finalen Aufgebot der letzten Kriegstage - dem "Volkssturm" - verheizt zu werden.

Noch ehe er seine Modelltischlerlehre beendet hatte, beschloss die Partei, in die er jung eingetreten war, dass er Neulehrer zu werden habe, und ließ ihn 1949/50 am Lehrerbildungsinstitut in Staßfurt studieren. Anschließend war er Lehrer in Sandersdorf - den Schülern jeweils ein Kapitel im Lehrbuch voraus -, danach in Magdeburg und Egeln sowie Direktor einer Erweiterten Oberschule in Havelberg.

Nach einem berufsbegleitenden Fernstudium der Germanistik war er Journalist und Kulturredakteur bei der "Volksstimme" in Magdeburg. Ab 1963 lebte er als freier Schriftsteller in Magdeburg, bereiste im Auftrag von Illustrierten wie der "Für dich" Ungarn, Bulgarien, Usbekistan und Kuba und schrieb zahlreiche Erzählungen und Romane für Jugendliche und Erwachsene.

Sein Roman "Das Mädchen Ann und der Soldat" wurde 25 Jahre lang immer wieder neu aufgelegt, während Bücher wie "Der Mann mit den vielen Namen" oder "Leben. Nicht allein" erst nach erbitterten Auseinandersetzungen mit jenen Behörden, die Literatur zu genehmigen hatten, erscheinen durften.

Sein Roman "Gesucht wird die freundliche Welt", der als erster in der DDR das Thema des Umgangs mit straffällig gewordenen Jugendlichen thematisierte, wurde 1978 von Erwin Stranka unter dem Titel "Sabine Wulff" verfilmt.

Auszeichnungen:

Erich-Weinert-Preis der Stadt Magdeburg

Theodor-Körner-Preis

Banner der Arbeit

Literaturpreis des FDGB

Vaterländischer Verdienstorden

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