Der Kinderbaum

Roman

Diesem Buch ist ein Zitat von Albert Einstein vorangestellt: Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt. Trotzdem aber erzählt der Autor von einem unglücklichen Kind. Sein Name ist Franz, Franz Weidauer. Und wer ein anderes Buch von Wolfgang Eckert kennt, der kennt auch diesen Familiennamen. Franz ist der Enkel von Matthias und Lu, die wir aus dem „Familienfoto“ kennen. Der Junge wusste nicht, dass er ein Junge ist. Er wusste überhaupt noch nichts. Vielleicht ist das die beste Zeit in einem Menschenleben: Noch nichts zu wissen. Er lag frisch gewindelt unter einer himmelblauen... alles anzeigen expand_more

Diesem Buch ist ein Zitat von Albert Einstein vorangestellt: Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.

Trotzdem aber erzählt der Autor von einem unglücklichen Kind. Sein Name ist Franz, Franz Weidauer. Und wer ein anderes Buch von Wolfgang Eckert kennt, der kennt auch diesen Familiennamen. Franz ist der Enkel von Matthias und Lu, die wir aus dem „Familienfoto“ kennen.

Der Junge wusste nicht, dass er ein Junge ist. Er wusste überhaupt noch nichts. Vielleicht ist das die beste Zeit in einem Menschenleben: Noch nichts zu wissen.

Er lag frisch gewindelt unter einer himmelblauen Zudecke. Nur sein kleiner rötlicher Kopf ragte daraus hervor. Ein paar verschwitzte schwarze Härchen standen davon ab wie der Flaum eines noch nicht flüggen Sperlings. An den Seiten liefen spitze Kotletten zu den Bäckchen, als hätte sich ein Friseur schon an ihm zu schaffen gemacht. Wenn er die noch ganz hellblauen Augen öffnete, war kein Glanz darin. Betrachter rätselten, ob sie schon von ihm gesehen werden, weil er manchmal lächelte. Experten behaupten, da bilde sich das Hirn. Aber seine Eltern dachten eitel, ihr Anblick rufe bereits Freude bei ihm hervor.

Wenn er frei lag, zappelten seine Ärmchen und Beinchen ruckartig wie die Beine eines auf dem Rücken liegenden Käfers. Dann hörte er zum wiederholten Mal eine dunkle Stimme in seiner Nähe, spürte eine sanfte Berührung und hielt sofort auf zu zappeln. Er wurde hochgenommen, gegen etwas Weiches und doch zugleich Pralles gedrückt und seine Lippen begannen zu schmatzen. Er saugte eine warme süßliche Flüssigkeit in sich hinein ohne dabei jemals eine Anleitung bekommen zu haben. Er war unersättlich. Aber schließlich ließ er erschöpft davon ab. Jemand klopfte ihm behutsam auf dem Rücken herum, bis er ein lautes Prösterchen von sich gab, das ihm viel später in der Öffentlichkeit vorgetragen, als unhöflich ausgelegt werden wird. Am Ende lag er wieder unter der hellblauen Decke und schlief sich eine weitere Stunde seines noch sehr kurzen Lebens ab.

Er hieß übrigens Franz. Aber selbst, wenn sein Name gerufen wurde, begriff er nicht, er sei gemeint.

Wie gesagt, er wusste noch nichts und war deshalb in einem glücklichen Zustand.

Jetzt aber ist der Fünfzehnjährige spurlos verschwunden. Eine Vermisstenanzeige wird aufgegeben. Sogar ein Polizeihubschrauber wird zur Suche eingesetzt. Was war passiert? Auf jeden Fall hat sein Verschwinden eine lange, traurige Vorgeschichte.



Sein Tod beschäftigte das Wohngebiet. Stirbt einer langsam, sind die anderen darauf vorbereitet. Wenn es dann soweit ist, nicken sie einander stumm zu. Sein Tod aber schlug wie ein Blitz in die Köpfe. Erst lief das Gerücht, er habe sich umgebracht. Ausweglosigkeit eines Säufers. Denn das wussten sie auch. Die Ehe ging nicht mehr, hieß es. In so einer kleinen Stadt braucht man keine Zeitung. Die Geschichten laufen ihr ungedruckt voraus. Aber kaum ein Säufer brachte sich um den Genuss des Alkohols. Als die Ursache des Todes durchsickerte, hatte er das Bedauern auf seiner Seite. Und das Erschrecken. Denn so etwas konnte jedem passieren. Da wurde sein Sterben plötzlich zur Unruhe aller. Im Tod eines Menschen suchen Unbeteiligte immer nach Ursachen, die sie trösten. Als bekannt wurde, er sei sturzbetrunken in das Auto gefahren, beruhigte sie das. Sie tranken nicht. So sprachen sie sich frei von solchem Tod. Und damit war sein Abgang für sie bewältigt. Ob ein Mensch hundert Jahre oder einen Tag tot ist, das zählt dann nicht mehr. Er ist weit weg. Die Zeit läuft weiter, gleichgültig, man wendet sich dem Leben zu. Die Witwe wurde verständnisvoll gegrüßt oder angesprochen. Sahen sie Holm oder Zoe auf der Straße, strichen ihnen die Leute über die Köpfe und dachten noch ein bisschen: Arme Kinder.

Die jedoch wussten nichts von Anfang und Ende. Für sie gab es nur ein Dazwischen, ein Heute. Holm war stolz, nun der alleinige Besitzer eines Fahrrades zu sein. Für Zoe war der Vater fortgegangen. Manchmal blickte sie noch abends ängstlich die Straße hinab, ob er mit seinem Alkohol- und Zigarettengestank von irgendwoher wiederkäme und sie beschimpfte, weil sie etwas falsch gemacht hatte. Beinahe tat ihr deshalb sein Wegbleiben leid.

Aber das Leben war umgestürzt. Die Mutter bekam Arbeit im Lager eines nahegelegenen Metallbetriebes. Drei Kinder erwiesen sich plötzlich als zu viel. Früh brachte sie nun Mareili in die Krabbelgruppe des Kindergartens. Zoe wurde noch mehr als zuvor die kleine Mutter. Sie nahm Holm als Erstklässler mit in ihre Schule. Danach ging auch er bis zum Abend in den Kindergarten. Zoe musste nach der Schule einkaufen. Einen Zettel brauchte sie nicht mehr. Sie wusste genau, was sie vom Geld ihrer Mutter kaufen sollte. Die Beutel, welche sie heimschleppte, schleiften fast auf dem Boden. Sie verstaute die Essereien im Kühlschrank, wusch das vom frühen Weggang herumstehende Geschirr, trocknete es ab, räumte alles ein und erledigte dann ihre Schularbeiten. Es gab keinen Grund zur Besorgnis, sie könnte die nächste Klasse nicht erreichen. Mit dem gleichen Ernst, wie sie ihre häuslichen Pflichten erledigte, tat sie das auch mit ihren Hausaufgaben. Sie hatte gelernt, sich selber in alles hineinzufinden.

Wen sollte sie auch fragen? Dazu blieb ihr keine Zeit. Manchmal schaltete sie am Tag ihr einziges Spielzeug, den Fernseher, ein. Märchen, in denen arme Mädchen Prinzessinnen wurden, gefielen ihr am besten. Aber sie schlief gelegentlich dabei ein und verpasste den Prinz, auf den sie gewartet hatte. Die Nachbarn redeten mit ihr über ganz vernünftige Dinge, wie man eben mit einer zwölfjährigen Erwachsenen sprach. Das Haar trug sie nun kurz geschnitten. Unter dem Kleid zeigten sich behutsam leichte Rundungen. Am Türrahmen ihres Zimmers markierte sie ihre Größe mit einem Bleistiftstrich, den sie fast nach jedem Monat jubelnd nach oben verändern musste. Als wolle sie schnell ihrer Kindheit entfliehen. Wenn in der Klasse schallend über einen Spaß gelacht wurde, brachte sie es nur zu einem Lächeln. Das war ihr alles zu kindisch. Und wenn ihr dann einmal ein Lachen gelang, geschah das hinterher, wo alle wieder still waren. Deshalb galt sie als sonderlich. Sie glaubten, sie habe alles erst jetzt verstanden. Da verließ sie trotzig, ihren Kopf nach hinten werfend, ohne Bedauern ihre Klassenkameradinnen. Allein sein hatte sie ja gelernt.

Und dennoch schmiegte sie sich eines Abends plötzlich an ihre Mutter. Sie saßen beide wie ein Ehepaar vor dem Fernseher. Die Kinder Holm und Mareili waren zu Bett gebracht. Im Fernseher gab es einen Krimi. Eine Frau lief durch eine nächtliche regennasse Straße, verfolgt von einem Schatten. Außer der aktuellen Kamera und dem Kessel Buntes sah die Mutter nur Krimis. Als hätte es in ihrem Leben zu wenig Aufregendes gegeben. Zoe erahnte nicht, was dort drinnen passierte. Sie empfand nur die unverhoffte Nähe der Mutter. Und sie lehnte den Kopf an ihre Schulter, umschlang mit beiden Händen ihren Arm. Die Mutter war überrascht. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich beinahe erschrocken von Zoe lösen. Es war nur eine schwache Geste der Abwehr. Aber Zoe spürte sie und klammerte sich umso fester an ihre Mutter.

„Hast du etwa Angst!“, rief die Mutter. „Das ist doch nur ein Film!“

Zoe ließ sie nicht los. Die Mutter saß steif. Sie fühlte sich unbehaglich. Dann drückte sie die Arme ihres Kindes weg und schob es neben sich auf das Sofa wie eine Puppe.



Geboren am 28. April 1935 in Meerane.

Nach der Grundschule Besuch der Meeraner Webschule mit dem Abschluss als Wollstoffmacher und arbeitete anschließend in Webereien.

Von 1960 bis 1963 studierte er am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“. Danach leitete er die Gewerkschaftsbibliothek im VEB „Palla“. Neben der Halbtagstätigkeit widmete er sich seinem schriftstellerischen Schaffen.

Er gründete einen Literaturklub, war künstlerischer Betreuer des Zirkels Schreibender des Kulturbundes des Kreises Glauchau.

Von 1989 bis 1992 war er Redakteur beim „Meeraner Blatt“ und von 1992 bis 1993Referent des sächsischen Landtagsabgeordneten Joachim Schindler (SPD).

Seit 1970 schrieb Eckert als freiberuflicher Schriftsteller zwei Fernsehspiele, ein Theaterstück, zwei Romane, Erzählungen, Feuilletons, Geschichten, Aphorismen, Autobiografien, eine Biografie und Gedichte. Außerdem verfasste er Beiträge für 24 Anthologien sowie Artikel für zahlreiche Zeitungen. Eckerts Erzählweise reicht von humoristischen, ironisch-satirischen, politisch bissigen bis hin zu ernsten Tönen.

Auszeichnungen:

Förderpreis des Institutes für Literatur „J. R. Becher“ Leipzig und des Mitteldeutschen Verlages Halle 1972

Hans-Marchwitza-Preis der Akademie der Künste der DDR 1974

Kurt-Barthel-Preis des Bezirkes Karl-Marx-Stadt 1983

Johannes-R.-Becher-Medaille in Silber und Bronze des Kulturbundes der DDR

Bürgermedaille der Stadt Meerane 2016

weniger anzeigen expand_less
Weiterführende Links zu "Der Kinderbaum"

Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)

Als Sofort-Download verfügbar

eBook
7,99 €

  • SW9783965218109458270.1

Ein Blick ins Buch

Book2Look-Leseprobe

Andere kauften auch

Andere sahen sich auch an

info