Mit falschem Pass

Erlebnisbericht

Mit falschem Pass schlägt sich ein Mann durch die Welt. Von Berlin über Tallinn nach Moskau, über Prag, Wien, Paris nach Spanien, über Frankreich, Belgien nach Holland - und endlich zurück nach Berlin. Diesen Weg ging Ewald Munschke, später Generalmajor der NVA, in den Jahren 1933 bis 1945. Sein fast abenteuerlich anmutendes Leben schildern die Autoren in diesem spannenden Erlebnisbericht. Am nächsten Tag hatte ich eine weite Fahrt vor, nach Haarlem, der Stadt der Blumenzwiebeln. Dort tagte die Parteileitung. Durch die größere Entfernung, die mir mein neues Quartier auferlegte, und einige Umwege, die ich wählte, um den... alles anzeigen expand_more

Mit falschem Pass schlägt sich ein Mann durch die Welt. Von Berlin über Tallinn nach Moskau, über Prag, Wien, Paris nach Spanien, über Frankreich, Belgien nach Holland - und endlich zurück nach Berlin. Diesen Weg ging Ewald Munschke, später Generalmajor der NVA, in den Jahren 1933 bis 1945. Sein fast abenteuerlich anmutendes Leben schildern die Autoren in diesem spannenden Erlebnisbericht.



Am nächsten Tag hatte ich eine weite Fahrt vor, nach Haarlem, der Stadt der Blumenzwiebeln. Dort tagte die Parteileitung. Durch die größere Entfernung, die mir mein neues Quartier auferlegte, und einige Umwege, die ich wählte, um den Hauptkontrollpunkten zu entgehen, kam ich zu spät. Die Genossen waren schon in großer Sorge und atmeten bei meinem Erscheinen hörbar auf. Lebenswichtige Fragen standen auf der Tagesordnung. Der von Hitler eingesetzte „Reichskommissar“ für die Niederlande, ein verkrachter Intellektueller aus Wien, bemühte sich, preußische Zucht und Ordnung einzuführen. Als Erstes verfügte er die Lebensmittelrationierung auf Karten. Schon hatten die Faschisten begonnen, ihre Fleischtöpfe aus holländischen Beständen aufzufüllen. Es konnte an ihrer Entschlossenheit, das Land rücksichtslos auszuplündern, kein Zweifel bestehen. Das war eine für uns peinliche Maßnahme, waren wir doch nirgends gemeldet und hatten so keine Chance, zu Lebensmittelkarten zu kommen.

Viel schlimmer aber war Seyß-Inquarts zweiter Befehl: Alle Bürger des Reichskommissariats müssen im Besitz eines Personalausweises sein. Die Parteileitungssitzung hatte nun die Aufgabe, für alle Genossen die Frage zu beantworten, wie sie zu Lebensmittelkarten und Personalausweisen gelangen.

Wegen der Lebensmittelkarten einigten wir uns schnell. Wir würden sie kraft unseres revolutionären Rechtes drucken lassen. Drucker hatten wir, und solche Papierchen würden ihnen keine unüberwindlichen technischen Schwierigkeiten bereiten.

Für die Personalausweise war dieser Weg nicht zu beschreiten, die Staatsdruckerei stand uns leider nicht zur Verfügung. „Stehlen“, sagte ich, „das ist die einzige Möglichkeit.“

Einige Genossen rümpften die Nase: Stehlen ist nichts für Kommunisten. Das war mir schon klar, aber Not kennt kein Gebot, heißt es. Wir fassten also den für eine Parteileitung der Kommunistischen Partei recht seltsamen Beschluss, den Genossen zu empfehlen, sich durch Taschendiebstähle schnellstens zu einem Personalausweis zu verhelfen. Einen Graveur, der uns die nötigen Stempel besorgte, um die Beute auf den neuen Besitzer umzufrisieren, kannten wir. Natürlich dachten wir auch an die braven holländischen Bürger, die da eines Tages erschrocken den Verlust ihres Ausweises feststellen mussten. Was half’s. Ihre Wohlanständigkeit würde ihnen rasch zu einem Ersatz verhelfen. Jedenfalls durfte es für sie weitaus gefahrloser sein, ihr Missgeschick der Polizei zu melden, als für uns, jener ohne Ausweis in die Arme zu laufen.

Die Not, die uns diesen Beschluss aufzwang, half den Genossen auch, ihn zu realisieren. Besonders als die Badesaison begann, hatten wir eine, wie Spaßvögel sagten, erfolgreiche Ernte. Es gab auch ungeschickte Genossen beziehungsweise solche, die ihre natürlichen Hemmungen nicht überwinden konnten. Sie brachten keinen Ausweis und mussten von besser geeigneten Genossen versorgt werden. Manche machten gezielte Jagden. Sie trafen irgendwo einen Menschen, der ihnen in Alter, Statur und Aussehen ähnelte. Seine Personalbeschreibung musste also auf den Jäger passen, so dass in dem begehrten Ausweis nur noch das Bild ausgewechselt zu werden brauchte. Es dauerte in einzelnen Fällen wochen-, ja monatelang, bis solche Ausweise nach Maß beschafft waren, aber es klappte im Allgemeinen. Ich selbst erwies mich als unbrauchbar im Stehlen und war froh, als mir der Parteisekretär eines Tages den wunderschönen Ausweis des Getreidegroßhändlers Mijnheer van Singel brachte, der vielleicht mein Zwillingsbruder hätte sein können. (Vielen herzlichen Dank, Mijnheer, noch nachträglich, bitte entschuldigen Sie die verursachte Aufregung, es soll ganz gewiss nicht wieder vorkommen!)



Am 21.10.1911 in Leipzig geboren, Besuch der Mittelschule, Lehre als Buchhändler.

1929 Mitglied des KJVD, 1930 KPD-Mitglied. 1934 wurde er wegen der Teilnahme am antifaschistischen Widerstandskampf verhaftet und blieb bis 1938 im Zuchthaus Waldheim, danach bis 1940 KZ Buchenwald. 1942 kam er ins Strafbataillon 999. U. a. war er auf Korfu stationiert und arbeitete als Funker in Karousades. Dort half er griechischen Partisanen und warnte die Juden vor der Deportation. Er konnte der Erschießung entgehen, setzte sich in Sarajevo von der Truppe ab und kehrte über Österreich nach Leipzig zurück.

Er beteiligte sich am Aufbau der Jugendausschüsse und der FDJ und wurde 1946 SED-Mitglied. Er hatte wechselnde Tätigkeiten: Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Regierungsrat in Sachsen, Hauptdirektor der VESTA (Vereinigung Volkseigener Stahlwerke), Werkleiter im VEB Guss Köthen, Leiter des Aufbaustabes des Kombinats Schwarze Pumpe, Personalchef im Konstruktions- und Ingenieurbüro Leipzig.

Von 1955 bis 1957 absolvierte er ein Fernstudium am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ und war seit 1958 freischaffender Schriftsteller.

Grabner wurde mehrmals mit Parteistrafen belegt, seit 1961 vom MfS überwacht und erhielt nach dem 11. Plenum 1965 ein vorübergehendes Berufsverbot.

Er war in zweiter Ehe mit der Schriftstellerin Sigrid Grabner verheiratet.

Er starb am 3. April 1976 in Werder.

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