Die Wassermühle

Roman

Klaus Winterfeldt ist seit zwanzig Jahren glücklich mit Krankenschwester Hedi verheiratet, Vater von zwei wohlgeratenen Kindern und der Meinung, dass einen altgedienten Großstadtpolizisten wie ihn so schnell nichts aus der Bahn werfen kann. Doch als sich seine Frau mit der ausgeflippten Künstlerin Vivienne Belrot zusammentut, um eine baufällige Wassermühle im Odenwald zu restaurieren, verwandeln sich seine Kinder plötzlich in Rebellen und Hedi wirft ihren Job hin und fordert die Scheidung. Als wäre das nicht genug, verdonnert ihn sein Chef, mit der jungen Polizistin Dagmar Streife zu fahren, die gerade ihre Ausbildung beendet hat und alles besser... alles anzeigen expand_more

Klaus Winterfeldt ist seit zwanzig Jahren glücklich mit Krankenschwester Hedi verheiratet, Vater von zwei wohlgeratenen Kindern und der Meinung, dass einen altgedienten Großstadtpolizisten wie ihn so schnell nichts aus der Bahn werfen kann. Doch als sich seine Frau mit der ausgeflippten Künstlerin Vivienne Belrot zusammentut, um eine baufällige Wassermühle im Odenwald zu restaurieren, verwandeln sich seine Kinder plötzlich in Rebellen und Hedi wirft ihren Job hin und fordert die Scheidung. Als wäre das nicht genug, verdonnert ihn sein Chef, mit der jungen Polizistin Dagmar Streife zu fahren, die gerade ihre Ausbildung beendet hat und alles besser weiß.

Während der Streifenbeamte Klaus, souverän und mit Gleichmut, pöbelnde Taxifahrerinnen und ausländerhassende Ausländer besänftigt, Unfälle aufnimmt und Gespenster aus Wohnstuben alter Damen vertreibt, gerät das Leben des Ehemanns und Vaters Winterfeldt immer mehr aus den Fugen. Um seine Ehe zu retten, will er beweisen, dass Vivienne Belrot eine Betrügerin ist. Doch je mehr Indizien er seiner Frau präsentiert, desto abweisender reagiert sie. Klaus ahnt nicht, dass sich hinter der Fassade der erfolgreichen Malerin eine tragische Geschichte verbirgt, die mit Hedis Kindheit und der alten Mühle verknüpft ist. Und dass nicht nur seine Frau, sondern auch seine junge Kollegin ihm gewisse Dinge verschwiegen haben. Als Klaus endlich merkt, welchen Fehler er gemacht hat, geht es für ihn um Leben und Tod … // aus: Lesart, Unabhängiges Journal für Literatur: "Was wäre nicht alles zu tun gewesen: den Müll vier Etagen hinunter tragen, ein paar Blusen bügeln, die Treppe putzen. aber da war dieses verflixte Buch "Die Wassermühle", dessen Lektüre so schwer zu unterbrechen ist. Kann eine Frau durch die Lektüre gar kurzzeitig zur "Rabenmutter" werden? Vor diesem Buch sei also gewarnt, sollten Sie Vergnügen an der Lebensnähe eines Romangeschehens haben."//



--- Einladung zu einer Reise in die Literatur und Kunst.---



Wenn Sie gerne wissen möchten, wie und warum die Brüder Grimm, Monet und seine Seerosen, Wilhelm Busch, Goethe & Co in Nikola Hahns heiteren Roman hineinfanden, können Sie die Antworten auf einer literarischen Reise im Anhang des eBooks entdecken.



Klaus Winterfeldt ist Streifenpolizist, seit zwanzig Jahren verheiratet und mit seinem Leben ziemlich zufrieden. Sein Beruf macht ihm Freude, seine beiden Kinder findet er gelungen und sein Eheleben in Ordnung. Hedi Winterfeldt ist Krankenschwester, seit zwanzig Jahren verheiratet und gründlich unzufrieden. Ihr Sohn liest heimlich Schwangerschaftsratgeber, ihre Tochter hört Musik, dass sich die Nachbarn beschweren und ihr Mann verbringt seine Abende lieber mit seinem Kumpel als mit ihr.

Als Hedi überraschend eine alte Wassermühle im Odenwald erbt, gerät das Leben der Winterfeldts gehörig aus den Fugen …





Ein Roman über die alltägliche Suche nach dem Glück. Eine Geschichte zum Lachen und Weinen, voller Herz, Witz und Wahrheit. +++



Aus den "Mühlengesprächen" mit Nikola Hahn:



Frage: Sie sagen "Die Wassermühle" sei ein zeitgenössischer Roman. Also nur Unterhaltung? Oder haben Sie auch eine Botschaft?

Nikola Hahn: Zunächst einmal: Jeder Leser darf und soll diesen Roman zur Freude und Unterhaltung lesen, über die Späßchen lächeln oder ein bisschen traurig werden beim Auf und Ab in der Beziehung zwischen Klaus und Hedi, ohne groß darüber nachzudenken. Was die Botschaft angeht, halte ich es mit Reiner Kunze, der in seiner Apfelweinkneipe Viviennes Kunstwerke ausstellen will: "Wir sind davon überzeugt, dass auch die sogenannten normalen Leute für anspruchsvolle künstlerische Arbeiten zu begeistern sind, wenn sie sie in einem Umfeld präsentiert bekommen, das sie nicht einschüchtert." Insofern hoffe ich, dass der eine oder die andere vielleicht auch zwischen den Zeilen lesen und erkennen mag, dass Die Wassermühle von der Gesellschaft erzählt, in der wir leben, und von dem Miteinander, oder vielmehr Nicht-mehr-Miteinander der Menschen.



Nikola Hahn, Jahrgang 1963, trat 1984 in die Polizei ein. Sie arbeitete als Ermittlerin unter anderem in den Bereichen Geldfälschung, Tötungsdelikte, Raub und Erpressung. Seit 2004 konzipiert und leitet die Kriminalhauptkommissarin Fortbildungsseminare an der Polizeiakademie Hessen in Wiesbaden; ihr Arbeitsschwerpunkt ist Vernehmungstaktik.



Nebenberuflich absolvierte Nikola Hahn eine Ausbildung in belletristischem und journalistischem Schreiben sowie in Karikatur- und Pressezeichnen; sie arbeitete als Lokaljournalistin und in der Redaktion der Hessischen Polizeirundschau. Als Autorin und Schriftstellerin ist Nikola Hahn nicht auf ein bestimmtes Genre festgelegt; außer Fachtexten publiziert sie Lyrik, Kurzprosa und Romane. Bekannt geworden ist sie vor allem durch ihre Romane Die Detektivin und Die Farbe von Kristall, in denen sie die Anfänge kriminalistischer Arbeit in Deutschland lebendig werden lässt.



--- Kapitel 1 ---

" Das Ei ist hart.“

Es gab Dinge, auf die Hedi Winterfeldt allergisch reagierte. Der Satz: Das Ei ist hart stand auf dieser Liste oben. Vor allem montagmorgens kurz vor halb sieben. Sie verteilte Honig auf ihrem Toast. „Koch dir’s demnächst selber!“

Klaus Winterfeldt grinste. „Es kann nicht allzu schwer sein, den Messbecher bis zum richtigen Strich zu füllen, oder?“

„Es kann auch nicht allzu schwer sein, die schmutzige Wäsche in den Wäschekorb zu werfen, statt sie nach dem Zufallsprinzip im Schlafzimmer zu verteilen!“, sagte Hedi. Sie war beim Aufstehen auf die Gürtelschnalle getreten, die Klaus samt Hose hatte fallen lassen, wo er sie ausgezogen hatte: gestern Abend vor ihrem Bett.

Klaus fuhr sich durch sein Haar und schlug die Offenbach-Post auf. „Ich glaube, es ist ungefähr so schwer wie die Geschirrspülmaschine richtig einzuräumen.“

„Womit wir beim Thema wären.“ Die Spülmaschine kam gleich nach dem Ei.

Klaus ließ die Zeitung sinken und zwinkerte Hedi zu. „An irgendwas muss es liegen, dass bei dir immer nur die Hälfte sauber wird, Schatz.“

Hedi zählte stumm bis drei und biss in ihren Toast. Eigentlich war Klaus ein unkomplizierter Mann mit Hang zu häuslichem Chaos. Wenn es jedoch um weichgekochte Eier, perfekt eingeräumte Spülmaschinen oder das sachgerechte Zusammenfalten leerer Milchtüten ging, konnte er pedantisch werden.

„Mojn. Wo sind die Brötchen?“

Ungekämmt und mit offenen Schuhen schlurfte der sechzehnjährige Sascha ins Esszimmer. Er ließ sich auf einen der beiden noch freien Stühle fallen, schob seine langen Beine unter den Tisch und gähnte. Ein Blick in die Gesichter seiner Eltern sagte ihm, dass es heute besser wäre, sich mit Toastbrot zufriedenzugeben.

„Hast du deinem Vater die Mathearbeit gezeigt?“, fragte Hedi.

Klaus blätterte zum Sportteil. Sascha schüttelte den Kopf. Er fuhr durch sein verstrubbeltes Haar und griff nach dem Glas mit Nuss-Nougat-Creme. Nicht zum ersten Mal fiel Hedi auf, wie sehr sich Vater und Sohn in Gestik und Aussehen ähnelten. Leider öfter auch im Benehmen.

„Er hat eine Fünf geschrieben“, sagte sie.

„Mhm. Das muss besser werden, mein Sohn. So ein Mist! Die Kickers haben schon wieder verloren!“

Sascha grinste. Hedi stellte ihre Tasse scheppernd auf den Unterteller zurück. „Also, das ist ja.!“

Klaus faltete die Zeitung zusammen und stand auf. „Ich muss los.“

Die vierzehnjährige Dominique tappte herein. Sie ging an Klaus vorbei und lümmelte sich auf den Stuhl neben ihrem Bruder. Sie sagte nicht guten Morgen, denn sie war der Meinung, dass an einem Morgen um diese Uhrzeit nichts Gutes sein konnte.

„Du wirst dir in dem Fetzen den Tod holen!“, sagte Hedi mit Blick auf das bauchnabelfreie T-Shirt ihrer Tochter.

„Besonders hübsch sieht es auch nicht aus“, bemerkte Klaus.

Lässig warf Dominique ihre kastanienbraune Mähne über die Schultern. „Paps, du hast keine Ahnung.“

„Zieh wenigstens eine gescheite Jacke drüber, ja?“, sagte Klaus.

Hedi stellte ihren und Klaus’ Frühstücksteller zusammen. Klaus küsste sie auf die Wange. „Tschüss, Schatz. Ich liebe dich auch mit Backstein im Magen.“

„Sehr witzig!“

Hedi brachte das Geschirr in die Küche. Sie hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel und schaute zur Uhr. Zwanzig vor sieben. Klaus war spät dran. Zum Glück lag seine Dienststelle, das Vierte Polizeirevier, nur zehn Gehminuten entfernt. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie vor sechzehn Jahren in eine Wohnung mitten in der Stadt gezogen waren, die nicht einmal einen Balkon hatte. Hedi nahm das fertige Toastbrot aus dem Röster und ging ins Esszimmer zurück.

Dominique schraubte am Nuss-Nougat-Glas. „Scheiße! Leer. Mama, hast du zufällig.?“

„Dir bleibt die Wahl zwischen Kirschkonfitüre und Johannisbeergelee.“

Angewidert betrachtete Dominique die beiden mit Cellophan verschlossenen handbeschrifteten Gläser neben dem Brotkorb. „Ich hab keinen Bock auf Juliettes Zuckerpampe.“

„Dann iss den Toast eben trocken!“ Hedi warf das Brot in den Korb und lief hinaus.

Dominique schüttelte den Kopf. „Hab ich zufällig irgendwas verpasst heute Morgen?“

„Du hättest dich etwas diplomatischer ausdrücken können“, nuschelte Sascha mit vollem Mund. „Du solltest langsam wissen, dass sie keinen Spaß versteht, wenn’s um Tante Juliette geht.“

„Ich auch nicht!“, erwiderte Dominique trotzig.

Tante Juliette war Hedis letzte lebende Verwandte; sie wohnte in einer alten Wassermühle im Odenwald und versorgte die Winterfeldts regelmäßig mit eingekochtem Obst und Gemüse aus ihrem großen Garten. Zu Weihnachten strickte sie bunte Socken und verschenkte Kisten voller wurmstichiger Äpfel, die Klaus und die Kinder bis zum Frühjahr in diversen Offenbacher Abfallkörben entsorgten.

Sascha schob sich den Rest seines dick bestrichenen Toasts in den Mund. Dominique sah ihn böse an. „Das nächste Mal lässt du mir gefälligst was übrig!“

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben eben, Schwesterherz.“

„Doofbacke!“, sagte Dominique und streckte ihm die Zunge heraus.

* * *

Es gab Tage, an denen Hedi beim morgendlichen Blick in den Badspiegel lächeln konnte. An solchen Tagen stieg sie pfeifend über Gürtelschnallen, kochte weiche Frühstückseier und nahm Dominiques Nörgeleien als Ausdruck der seelischen Not einer pubertierenden Vierzehnjährigen hin. Es waren Tage, an denen sie den Teppichboden im Wohnzimmer eigentlich noch ganz gut in Schuss, die daraufstehenden Möbel irgendwie gemütlich und die verblassten Abziehbildchen auf den Badezimmerfliesen rührend fand. Heute war kein solcher Tag. Sie stopfte ihre Baumwollbluse in die Jeans, verteilte einen Klecks Creme in ihrem Gesicht und ärgerte sich über die offene Zahnpastatube und den Kamm, der sich in ihrem Haar verhakte.

Ihr letzter Friseurbesuch war lange her. Sie hatte sich zu einer garantiert haarschonenden Dauerwelle überreden lassen und seitdem das Gefühl, dass sich auf ihrem Kopf ein verfilzter Handfeger breitmachte. Sie warf den Kamm in die unterste Schublade des Badezimmerschranks, kramte nach Haarnadeln und steckte ihre störrischen Locken zusammen. Sie zupfte den Pony ins Gesicht und entdeckte zwei silberne Fäden zwischen den dunklen Strähnen, die sie mit einem energischen Ruck herausriss.

Es klopfte kurz, und Dominique kam herein. „Ich muss aufs Klo.“

Hedi warf einen letzten Blick in den Spiegel und ging hinaus. Dominique verriegelte die Tür.

Aus dem Wohnzimmer drangen Schreie; Schüsse fielen, und es wurde still. Sascha saß auf der Couch und sah zu, wie Arnold Schwarzenegger über zwei Leichen stieg.

„Herrgott! Kannst du die Kiste nicht wenigstens morgens auslassen?“, sagte Hedi gereizt.

„Sorry, aber Axel will seinen Film zurück.“

„Axel?“

„Einer aus meiner Klasse.“

Hedi griff nach der DVD-Hülle und schüttelte den Kopf. Unglaublich, was heutzutage für Sechzehnjährige freigegeben wurde. „Räumt den Tisch ab, bevor ihr geht.“

„Mhm“, sagte Sascha mit verklärtem Blick auf Schwarzeneggers Bizeps.

Die abgetretenen Holzstufen in dem alten Mietshaus knarrten, als Hedi vom dritten Stock nach unten ging. In der zweiten Etage war alles ruhig, in der ersten schrie das Baby der türkischen Familie. Im Erdgeschoss war wieder einmal die Beleuchtung defekt. Manchmal kam Hedi der Gedanke, dass neue Fenster, einige Eimer Farbe für Fassade und Treppenhaus und eine Fuhre Erde und Pflanzen genügen würden, um aus dem unansehnlichen Gebäude aus der vorletzten Jahrhundertwende samt dem trostlosen Hinterhof ein hübsches Haus zu machen, in dem es sich passabel wohnen ließ. Als sie durch die Hofeinfahrt auf die Straße trat, wehte ihr nieselnder Oktoberregen ins Gesicht. Das fahle Licht der Straßenlaternen färbte die Bäume grau, auf den Autodächern klebte welkes Laub. Der Gehweg war mit Mülltonnen zugestellt. Über den Häusern blinkten die Positionslichter einer Boeing im Landeanflug auf den nahen Rhein-Main-Flughafen; der Lärm war erbärmlich.

Hedi kämpfte mit ihrem störrischen Regenschirm, der sich nicht öffnen ließ. Zu Fuß schaffte sie den Weg von ihrer Wohnung bis zum Schwesternzimmer in der Chirurgischen Klinik III des Stadtkrankenhauses in zwölfeinhalb Minuten. Mit dem Rad war sie sieben Minuten schneller, vorausgesetzt, es war noch da, wenn sie es brauchte. Und das kam in einem Achtfamilienhaus ohne abschließbaren Fahrradkeller einem Vabanquespiel gleich. Sie hatte es nacheinander mit einem teuren und einem billigen Modell versucht. Das billige hatte sie zwei Tage länger gehabt als das teure und sich dann fürs Laufen entschieden.

Seit Jahren nahm sie denselben Weg über die Luisenstraße und die Hohe Straße in den Starkenburgring. Sie begann keinen Arbeitstag, ohne dem Pfauenhaus und der Lächelnden Frau im Vorbeigehen einen guten Tag gewünscht zu haben. Hedi hatte nur wenige Marotten. Das Pfauenhaus und die Lächelnde Frau waren zwei davon.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass nicht nur Klaus heute spät dran war. Sie beschleunigte ihre Schritte, lief die Luisenstraße entlang am Amtsgericht vorbei und passierte kurz darauf die Nummer fünf: An Sommertagen leuchtete das Haus golden, der frühmorgendliche Oktoberregen machte es grau; die beiden Pfauen kümmerte das nicht.

„Warum hat man sie wohl radschlagend auf zwei Bäume gemeißelt?“

„Wetten, dass ich es schneller herausbekomme als du?“

Klaus und sie waren sehr verliebt gewesen, als sie die filigran gearbeitete Jugendstilfassade zum ersten Mal betrachtet hatten. Das Geheimnis der steinernen Pfauen hatten sie nie gelöst.

Hedi nickte kurz in Richtung des Hauses, ging am Bahnhof vorbei durch die Unterführung und bog in die von Bäumen gesäumte Hohe Straße ein. Regenschwarz lag die Skulptur auf ihrem Steinsockel und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Hedi glaubte fest daran, dass es Tage gab, an denen sie ihr zulächelte. Heute war es zu dunkel dazu.

Eine Minute nach Dienstbeginn erreichte sie den Haupteingang des Krankenhauses. Das Gebäude, in dem ihre Station lag, befand sich im hinteren Bereich des Geländes: ein mit Waschbetonplatten verkleidetes Hochhaus, das seine Farbe selbst in der grellsten Sommersonne nicht wechselte; es war und blieb grau.

Die verschwenderische Blütenfülle, die den Fahrweg zum Haus am vergangenen Freitag noch in ein buntes Band gefasst hatte, war zu bräunlichem Matsch zerfroren. Im Eingang standen zwei junge Frauen und rauchten. Vor der Patientenaufnahme im Erdgeschoss saß ein Mann mit einem weinenden Kind. Zusammen mit den ersten Besuchern wartete Hedi auf den Aufzug. Nach zwei Minuten entschied sie sich für die Treppe.

Die Nachtschwester stand schon auf dem Gang. Sie trug einen schwarzen Mantel über ihrem weißen Kittel und sah müde aus. „Gott, Hedi! Wo bleibst du so lange?“

„Tut mir leid, Inge. Ich.“

„Schon gut. Ich will nur raus aus diesem Irrenhaus!“

„Wieso? Was war denn?“

„Der übliche Stress halt.“ Inge deutete aufs Schwesternzimmer. „Ich habe euch frischen Kaffee aufgesetzt.“

„Ist Brigitte noch nicht da?“

„Belinda auch nicht.“ Inge lächelte. „Du solltest deine Kolleginnen zu etwas mehr Pünktlichkeit erziehen statt ihnen nachzueifern, Hedwig Ernestine.“ Sie drehte sich um und ging in Richtung Aufzug davon.

Hedi warf ihr einen wütenden Blick hinterher. Sie hasste es, mit ihrem vollen Namen angesprochen zu werden, selbst wenn es im Scherz geschah. Als ob es nicht gereicht hätte, eine geborene Klammbiel zu sein, hatte ihre Mutter sie mit zwei Vornamen einer altmodischen Kitschromanschriftstellerin gestraft. Eine Woche nach Marianne Klammbiels Tod hatte Hedi einhundertfünfundneunzig Courths-Mahler-Romane in Kisten verpackt und in die Müllverbrennung gefahren. Danach hatte sie sich besser gefühlt.

Sie ging ins Schwesternzimmer. Der frisch aufgebrühte Kaffee konnte die schalen Gerüche einer durchwachten Nacht nicht überdecken. Hedi leerte den überquellenden Aschenbecher aus, der auf dem schmucklosen Tisch in der Mitte des Raums stand, und öffnete das Fenster. Im Nebenzimmer tauschte sie ihre Stiefel und die Jeans gegen Birkenstock-Sandalen und eine weiße Hose; über ihre Bluse zog sie einen weißen Kittel.

Sie hatte sich gerade eine Tasse Kaffee eingeschenkt, als Brigitte hereinkam. Sie warf ihre nasse Jacke auf den erstbesten Stuhl und zupfte ihre rostrote Igelfrisur in Form. „Tut mir leid, aber.“

Hedi grinste. „Deine Tochter kam mal wieder nicht in die Pötte.“

„Nö. Diesmal war’s die Müllabfuhr.“

Seit ihr zweiter Mann mit einer Jüngeren durchgebrannt war, versuchte sich Brigitte in der Rolle der berufstätigen Mutter mit Schulkind. Ihre Depressionen versteckte sie hinter Galgenhumor. Sie holte eine Tasse aus dem Schrank, kippte aufs Geratewohl Zucker hinein und füllte sie bis zum Rand mit Kaffee. „Der Schlaumeier vor mir machte den Motor aus, schlug eine Zeitung auf und fragte grinsend, warum ich mich wegen der paar Minuten so anstelle. Es gibt Tage, da sollte man im Bett bleiben. Wo ist eigentlich Belinda?“

Hedi strich sich eine Ponysträhne aus dem Gesicht. „Vermutlich ebenda.“

Belinda war die Jüngste im Team und dafür bekannt, dass sie in regelmäßigen Abständen von mysteriösen Leiden heimgesucht wurde, die sie mindestens eine Woche lang ans Krankenlager fesselten.

Die Tür ging auf, und eine etwa siebzigjährige Frau humpelte herein. Ihr struppiges Haar stand nach allen Seiten ab, ihr von Runzeln durchzogenes Gesicht war rot angelaufen. „Die halten mich hier fest! Das ist Freiheitsberaubung!“

„Könnten Sie bitte etwas leiser sein? Sie wecken das ganze Haus auf“, sagte Hedi.

„Hilfe, Hilfe! So helfen Sie mir doch!“

„Verdammt noch mal! Ruhe jetzt!“

Die Frau hörte auf zu schreien. Sie sah Hedi an und fing an zu weinen. Gemeinsam mit Brigitte brachte Hedi sie zurück in ihr Zimmer.

Zehn Minuten später rief Belinda an. Sie hustete Hedi ins Ohr. „Ich fühle mich furchtbar!“

Hedi warf Brigitte einen vielsagenden Blick zu. „Wie lange, Belinda?“

„Der Arzt sagt, ich hätte mir da eine ganz hartnäckige Sache eingefangen. Acht Tage bin ich auf jeden Fall krankgeschrieben. Es tut mir ja so leid.“

„Ich bin gerührt, Belinda. Gute Besserung.“ Verächtlich ließ Hedi den Hörer auf den Apparat fallen.

„Sie fängt dieses Jahr mit den Weihnachtsvorbereitungen früher an als sonst“, sagte Brigitte.

„Wir haben Ende Oktober!“

„Vielleicht hat sie ein paar Kalenderblätter zuviel abgerissen?“

„Kaum juckt unserer Belinda der kleine Zeh, feiert sie drei Tage krank, und wir können sehen, wo wir bleiben!“

„Ihre Abwesenheit fällt doch sowieso nur dadurch auf, dass der Kaffee länger reicht.“

Hedi rang sich ein Lächeln ab. „Entschuldige. Aber ich musste mich heute schon beim Frühstück ärgern.“

„Lass dich scheiden, und du bist alle Sorgen los“, sagte Brigitte ironisch.

Hedi trank ihren Kaffee aus. „Manchmal träume ich davon, auf eine Südseeinsel auszuwandern.“

Die Klingel von Zimmer fünfhundertvier schrillte. Hedi stellte die leere Tasse in die Spüle und ging nachsehen. Die alte Dame hatte ihr Haar gekämmt und lächelte. „Hätten Sie vielleicht eine Tasse Tee für mich, Schwester? Haben Sie schlecht geschlafen? Sie sehen müde aus.“

* * *

Als Hedi am frühen Nachmittag mit mehreren Einkaufstüten bepackt nach Hause kam, dröhnte ihr im Treppenaufgang ein dumpfes Bumm-Bumm entgegen. Die Türkin aus dem ersten Stock putzte die Treppe; sie lächelte scheu, als Hedi ihr im Vorbeigehen einen guten Tag wünschte.

Im zweiten Stock wartete Rosa Ecklig. Sie stemmte ihre Arme in die Hüfte. „Sorgen Sie auf der Stelle dafür, dass dieser Krach aufhört! Sonst rufe ich die Polizei!“

„Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie sich damit noch ein wenig gedulden würden, Frau Ecklig“, sagte Hedi freundlich.

Rosa Ecklig straffte ihre mageren Schultern. „Sie sollten sich wirklich mehr um Ihre Kinder kümmern, Frau Winterfeldt! Ich werde Jochen morgen sagen.“

„Einen schönen Tag noch.“ Hedi schluckte ihren Zorn hinunter und ging an ihr vorbei nach oben. Warum mussten sie auch ausgerechnet über der Schwippschwägerin von Klaus’ Vorgesetztem wohnen? Und wann kapierte Dominique endlich, dass von eins bis drei Mittagsruhe zu herrschen hatte! Hedi stellte die Tüten ab und kramte nach dem Wohnungsschlüssel. Ein Glück, dass wenigstens die Brancatellis von nebenan lärmfest waren. Jedenfalls hatten sie sich noch nie beschwert. Hedi schleppte die Tüten in den Flur und ging in Dominiques Zimmer.

Ihre Tochter lag auf dem Bett und blätterte in einem Modejournal. Von der Wand hinter ihr lächelte ein schwarzhaariger Jüngling in Lebensgröße. Hedi fand, der Kerl sah aus wie weichgespült. Sie zog den Stecker der Stereoanlage heraus. Dominique fuhr hoch. „Mama! Du kannst doch nicht einfach.“

„Das nächste Mal verscherbele ich das Ding auf dem Flohmarkt! Ist das klar?“

„Den Song muss man aber laut hören! Sonst törnt’s echt null an.“

„Pass auf, dass mich nicht gleich was echt null antörnt!“

Dominique schlug die Zeitschrift zu und rollte sich schmollend zur Wand.

In der Küche sah es zum Fürchten aus. Auf der Anrichte lag eine angeknabberte Pizza in einer fettigen Pappschachtel; daneben eine zerknüllte Chipstüte, hartgewordene Toastbrotscheiben und der nasse Kaffeefilter. Der Tisch im Esszimmer war nicht abgeräumt. An Tante Juliettes Kirschkonfitüre klebte Eidotter. Sascha hockte mit Kopfhörern auf dem Sofa und sah zu, wie Claude van Damme über eine Leiche stieg.

Hedi nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. „Könnt ihr nicht einmal den Saustall hier aufräumen?“

Sascha setzte die Kopfhörer ab. „Dominique hat in der Küche rumgefuhrwerkt. Soll sie auch saubermachen.“ Er griff nach seiner Jacke und stand auf. „Ich hab ein Date mit Corinna. Tschüss.“

„Wer ist Corinna?“

Statt einer Antwort knallte die Wohnungstür.

Hedi ließ sich auf die Couch fallen und fragte sich, wann sie den entscheidenden Fehler gemacht hatte. Und warum sie es nicht fertigbrachte, ordentlich auf den Tisch zu hauen. Oder einfach ohne Ankündigung für vier Wochen in Urlaub zu fahren. Sie drückte auf die Fernbedienung.

„Du Arschloch! Du hast’n doch solang’ angebaggert, bisser mit dir in die Kiste gesprungen is!“, schrie eine grell geschminkte Frau in zu kurzem Rock.

„Das musst du grad sagen, du Schlampe!“, schrie eine noch greller geschminkte Frau zurück. In ihrer oberen Zahnreihe klaffte eine Lücke. „Du hast’s doch bloß nur auf dem seine Knete abgesehn!“

„Weißt du, was du bist? Du bist doch die allerletzte.“ Es folgte ein Piepton. „Genau das biste, und sonst nix!“

„Aber Frau Schäfer“, sagte die Moderatorin milde lächelnd. „Wollen wir nicht lieber versuchen, eine Lösung für Ihr Problem zu finden, anstatt uns gegenseitig zu beschimpfen?“

Hedi schüttelte den Kopf und schaltete um.

„Du bist doch viel zu schade für den Typen! Guck dir den doch mal an! Macht den Dicken und hat noch nix geschafft in seinem ganzen Leben!“

Hedi schaltete um.

„Wann kapierst du’s endlich? Du bist hässlich! Du bist fett! Du ödest mich an!“

„Aber wir haben doch. Ich dachte doch.“ Der Rest ging in Tränen unter.

Hedi schaltete den Fernseher aus und wünschte sich, für mindestens ein Jahr mit der Lächelnden Frau zu tauschen.



--- HINWEIS zu den eBooks/epub-Formaten aus dem Thoni Verlag: ---



- Der Verlag verzichtet auf „hartes DRM“; die Bücher sind stattdessen mit einem digitalen Wasserzeichen versehen. //

- Die Distribution der epub-Formate an den Buchhandel erfolgt via libreka.de. //



DE

weniger anzeigen expand_less
Weiterführende Links zu "Die Wassermühle"

Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)

Als Sofort-Download verfügbar

eBook
4,99 €

  • SW9783944177021450914

Ein Blick ins Buch

Book2Look-Leseprobe
  • Artikelnummer SW9783944177021450914
  • Autor find_in_page Nikola Hahn
  • Autoreninformationen Kriminalhauptkommissarin Nikola Hahn trat 1984 in die hessische… open_in_new Mehr erfahren
  • Wasserzeichen ja
  • Verlag find_in_page Thoni-Verlag
  • Veröffentlichung 30.01.2013
  • ISBN 9783944177021

Andere kauften auch

Andere sahen sich auch an

info