Papiermenschenlied

Vivien hat Probleme. Der Vater vor noch nicht allzu langer Zeit verstorben, die Mutter dem Alkohol verfallen und der Kontakt zu anderen Menschen mehr als schwierig, weil sich das Mädchen total abschottet. Auch der eingeschalteten Psychologin verschließt sie sich. Dafür flüchtet sie sich in eine Fantasiewelt. Was sie dort erlebt, schreibt sie in Fantasy-Geschichten auf. Dort ist sie Prinzessin Vivien und ihre Freundinnen und Klassenkameraden sind die Mitspieler. Ihre Psychologin tritt als böse Hexe auf, die ihren Vater gefangen hält. Um ihren Vater frei zu bekommen, soll Vivien für die Hexe ein schwieriges Rätsel lösen: 10... alles anzeigen expand_more

Vivien hat Probleme. Der Vater vor noch nicht allzu langer Zeit verstorben, die Mutter dem Alkohol verfallen und der Kontakt zu anderen Menschen mehr als schwierig, weil sich das Mädchen total abschottet. Auch der eingeschalteten Psychologin verschließt sie sich.

Dafür flüchtet sie sich in eine Fantasiewelt. Was sie dort erlebt, schreibt sie in Fantasy-Geschichten auf. Dort ist sie Prinzessin Vivien und ihre Freundinnen und Klassenkameraden sind die Mitspieler. Ihre Psychologin tritt als böse Hexe auf, die ihren Vater gefangen hält. Um ihren Vater frei zu bekommen, soll Vivien für die Hexe ein schwieriges Rätsel lösen: 10 Schlüsselwörter muss sie finden und aufschreiben.

Prinzessin Vivien weiß nicht, wie sie diese Aufgabe lösen soll. Verzweiflung droht sie zu überwältigen.

Dann kommen zwei neue Schüler in ihre Klasse, die Brüder Ben und Kai. Sofort verteilt Vivien zwei neue Rollen für ihre Fantasy-Story: der attraktive Ben wird zu Prinz Camael, dem edlen Ritter, der etwas seltsame und immer völlig schwarz gekleidete Kai zum düsteren Nekromantenprinz.

Dann nimmt die Geschichte ihren Lauf, aber völlig anders als Vivienne gedacht. Und auch ihr reales Leben erfährt einige ungedachte Wendungen.

Ungewöhnliche und eigenwillige Mischung aus Comming of Age Geschichte und Fantasy-Story.



Der erste Satz einer Geschichte ist immer einer der Wichtigsten. Zwar gibt es Menschen, die finden, Prologe seien so überflüssig wie ein Blinddarm, aber ich persönlich mag sie. Der Autor erhält die Chance, im Vorfeld etwas über seine Erzählung preis zu geben, was die Leser sonst erst später oder gar nicht erfahren würden. Beim ersten Lesen ergeben Prologe nicht immer Sinn, doch wenn im Verlauf des Buches etwas geschieht, was im Prolog bereits angekündigt wurde, gibt es einen „Aha!“-Moment bei jedem, der die Geschehnisse aufmerksam verfolgt. Ich habe schon Bücher weggelegt, wenn mir der Prolog nicht gefallen hat. So viel zu der Wahl des richtigen Anfangs.

Normalerweise machte ich mir nicht viel aus dem, was die Hexe sagte. Die wöchentlichen Treffen waren mir unangenehmer als der jährliche Zahnarztbesuch. Ganz ehrlich, während der Zahnarzt nur in meinen Schlund starrte, als wären dort die Geheimnisse des Universums verborgen, versuchte die Hexe immer, in meinen Kopf hinein zu schauen. Wem gefiel das schon?

Vielleicht war es ihren schwarzmagischen Tricks zu verdanken, dass ihre Aufgabe mir in den nächsten Tagen nicht mehr aus dem Kopf ging. Immer häufiger dachte ich darüber nach, welche zehn Worte mein Leben beschreiben würden. Für jemanden, der jeden Tag hunderte Worte zu Papier brachte, war es eine ganz neue Erfahrung, sich kurz fassen zu müssen. Daran konnte es liegen.

Also begann ich das, was um mich herum geschah, genauer unter die Lupe zu nehmen. Leider musste ich schnell feststellen, dass ich absolut keine Idee hatte, wo ich anfangen sollte, zu suchen. Das Leben plätscherte an mir vorbei, wie sonst auch. Bald würde es Zeugnisse geben, danach stand der Beginn des zweiten Halbjahrs an. Obwohl ich in einer der größeren Städte am Rande des Ruhrgebiets wohnte, passierte nicht allzu viel.

Die Pausen verbrachte ich immer mit denselben Leuten an demselben Ort. Auch an diesem verregneten Donnerstag war das nicht anders. Wir saßen an einem der hintersten Tische der Schulcafeteria, mit Büchern und Schreibkram um uns herum, aßen unser mitgebrachtesoder gekauftes Frühstück und unterhielten uns über die kniffeligen Mathehausaufgaben für die nächste Woche. Na ja, die anderen unterhielten sich darüber. Ich dachte über die verflixten Worte nach, die ich in den nächsten knapp sieben Wochen sammeln musste und hörte den Unterhaltungen im Hintergrund zu.

„Die Aufgabe 2b finde ich besonders fies“, erklärte Libby gerade und kniff ihre perfekt gezupften, blonden Augenbrauen zusammen. Eigentlich hieß sie Lara Andrea, aber seitdem vor etwa einem Jahr ihre Brüste anfingen zu wachsen, benahm sie sich wie ein läufiger Cheerleader. In dem festen Entschluss, der neue Superstar unseres Gymnasiums zu werden, hatte sie ihre Brille gegen Kontaktlinsen und ihre konservativen, von Mama gekauften Blusen gegen bauchfreie Tops getauscht. Auch im Winter, weswegen wir sie vor nicht ganz drei Monaten im Krankenhaus besuchen mussten. Nierenbeckenentzündung. Ihren Namen verdankte Libby einer ziemlich kranken Idee, die ich eines Nachts hatte – sie wurde Anführerin einer Rotte Zombiecheerleader, deren Ziel es war, den Weltuntergang herbeizuführen. Mittlerweile hatte ihre Geschichte vierzehn Kapitel und es war noch kein Ende in Sicht.

„Ich finde die Textaufgaben viel schlimmer!“, mischte sich Katharina, a.k.a. Isabella ins Gespräch ein. Mit ihrer dunkleren Hautfarbe, schwarzen, welligen Haaren und riesigen, goldenen Ohrringen sah sie ein bisschen aus wie eine Zigeunerin. Eine hübsche, extrem übergewichtige Zigeunerin. Ihr Busen war schon vor zwei Jahren überdimensional groß, aber erst seitdem Libby mehr Haut zeigte, traute sie sich, es ihr gleich zu tun. Manchmal sah sie aus wie eine schlechte Kopie des schlankeren, wenn auch nicht unbedingt hübscheren Möchtegern-Cheerleaders. Wenn sie nicht bei allen Sachen immer erst Libby um Erlaubnis fragen würde, wäre sie bestimmt ein faszinierender Mensch. Deswegen machte ich sie zur Heldin einer Geschichte, in der eine Zigeunerbande auszog, um geheime Zaubersprüche zu finden, die Umbra, das Nachbarland von Zephir, beschützten. Die Idee kam mir erst vor etwa zwei Monaten, deswegen hatte ihre Geschichte erst sechs Kapitel.

„Du verstehst die Textaufgaben nie“, bemerkte Libby mit einem herablassenden Grinsen. Leider hatte sie damit Recht. Isabella war nett, konnte aber mit dem Rest unserer kleinen Gruppe intellektuell nicht mithalten.

„Soll ich dir den Ansatz erklären?“

Amanda war und blieb einfach Amanda. Kein Spitzname, den ich für sie erfinden könnte, würde besser zu ihr passen. Im Gegensatz zu Libby und Isabella hatte Amanda sich seit der fünften Klasse kaum verändert. Ihre Brille war ihr nicht peinlich und auch, wenn sie nicht mehr in Pferdepullis herumlief, sah sie immer noch aus als wäre sie zehn Jahre alt. Braune, lange Haare, zu einem Zopf geflochten, hingen ihren Rücken hinab. Später wollte sie einmal Lehrerin werden. Schon heute bewies sie immer wieder, wie sehr sie für den Job geeignet war. Alle mochten sie und sie hatte Nerven wie Drahtseile. Sonst würde sie wohl kaum freiwillig regelmäßig mit uns abhängen.

Sie war die erste Person in der neuen Schule gewesen, mit der ich mich angefreundet hatte. Schon als Elfjährige wollte ich nicht mit anderen Leuten sprechen, aber sie hat einfach nicht locker gelassen. Bis heute weiß ich nicht, ob ich ihr dankbar sein soll, oder nicht. Ihre Geschichte war die erste längere, die ich jemals fertig geschrieben habe. Es ging um die Eule Amanda, die mit ihren unmöglichen Geschwistern durch die Welt flog und versuchte, sie zu erziehen. Nicht eine meiner besten Ideen, aber hey, ich war elf. Mittlerweile hatte ich ihr schon zwei Folgebände gewidmet und eine wachsende Sammlung Kurzgeschichten. Das machte sie zu so etwas wie meinem Lieblingsschreibobjekt.

Während Amanda die Textaufgabe erklärte, ließ Libby ihren Blick gelangweilt durch den Raum schweifen. Die coolen Leute fand man eben nicht hier unten in der Cafeteria, sondern oben in der Aula oder, bei gutem Wetter, auf dem Hof. Warum sie sich überhaupt noch mit uns abgab, verstand ich nicht. Gewohnheit, vielleicht. Unsere merkwürdige Gruppe existierte schon seit der fünften Klasse, also seit vier Jahren. Früher waren wir einfach der „Streberclub“ und stolz darauf. Doch mit vierzehn erwartete Libby vermutlich andere Dinge vom Leben als mit elf.

Gar nicht so schlecht, der Gedanke. Das könnte ich in ihre Geschichte einbauen. Der Zombiecheerleader bekam Gewissensbisse, ob die Apokalypse wirklich so eine tolle Idee war… Bevor ich mich beherrschen konnte, hatte ich schon einen Absatz zu Papier gebracht.

„Was meinst du, Vivien?“

Ich blinzelte überrascht. In den letzten Jahren hatte ich mir antrainiert, zu reagieren, wenn jemand meinen Namen sagte. Die ewigen Anschuldigungen, ich würde niemals zuhören, gingen mir tierisch auf die Nerven. Auch wenn sie stimmten. Oder gerade weil sie stimmten.

„Entschuldigung. Ich habe gerade über die Textaufgabe nachgedacht.“

Libby schnaubte. „Du bist schon Klassenbeste, was willst du denn noch?“

Ich zuckte mit den Schultern. Nur weil ich immer brav meine Hausaufgaben machte. Es war leichter, zumindest schriftlich sehr gute Leistungen zu erbringen, dann ließen die Lehrer mich im Unterricht meistens in Ruhe und ich konnte schreiben. „Amanda ist besser als ich.“

„Ja, aber nur weil sie auch mal die Zähne auseinander kriegt. Bleifinger, eben.“

Man, ich hasste diesen blöden Spitznamen. Libby wusste das auch, das sah ich an ihrem Grinsen. Erwachsen wie ich war, streckte ich ihr die Zunge raus, anstatt eine Antwort zu geben.

Amanda seufzte und erklärte: „Lara wollte wissen, was du davon hältst, heute nach der Schule in die Stadt zu fahren.“

Unversehens verzog ich das Gesicht. In die Stadt fahren hieß nicht länger, Eisessen zu gehen und dann wieder nach Hause zu fahren. Heutzutage war es ein Codewort für „Shoppen gehen“. Libby und Isabella fuhren total darauf ab, durch alle möglichen Läden zu hetzen und Klamotten anzuprobieren. Für mich waren diese Trips ungefähr so attraktiv wie Fußpilz. Nicht nur, weil mein Budget kaum das Frühstücken in der Cafeteria erlaubte. Selbst, wenn die Amazone so viel Geld nach Hause schaffen würde wie Libbys Dad, müssten mir schon beide Arme amputiert worden sein, bevor ich auch nur darüber nachdenken würde, mich freiwillig solchen Qualen auszusetzen.

„Ich hab schon was vor“, murmelte ich und starrte angestrengt auf den Block, der vor mir lag. Absätze zu schreiben war so einfach! Aber mir war immer noch kein einzelnes Wort eingefallen.

„Du hast immer irgendwas vor.“

Geh mir nicht auf die Nerven, Libby.

Zum Glück schellte es, bevor ich etwas erwidern konnte. Amanda warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich schüttelte den Kopf. Mist. Konnte man mir meine Wut etwa ansehen? Ich musste mich besser unter Kontrolle haben um neugierigen Fragen aus dem Weg zu gehen.



Siebte Stunde. Biologie, eines der interessanteren Fächer, aber diesmal gelang es mir nicht, den Ausführungen der Kröte zu folgen. Ausnahmsweise war nicht ich es, die Herrn Gottscheidt diesen Namen verpasst hatte. Er war auch nicht besonders fantasievoll. Jeder, der den dicklichen Mittvierziger mit dem riesigen Mund ansah, dachte automatisch an einen Kröte. Deswegen hatte er auch nur eine winzige Nebenrolle in einer längeren Geschichte bekommen, die ebenfalls in Zephir spielte. Hüter der Heiligen Teiche, der sich in eine Kröte verwandeln konnte. Passend, oder nicht?

Am Anfang der Stunde hatte ich mich gemeldet, um meine Hausaufgaben vorzulesen. Seitdem ließ er mich in Ruhe, wie erwartet. Geistesabwesend notierte ich Stichpunkte von der Tafel, doch nicht ein Wort des Geschriebenen kam in meinem Hirn an. Immer wieder fiel mein Blick auf die leere Seite in meinem Notizbuch.

Wenn ich diesen – oder jeden anderen – Schultag in einem Wort beschreiben müsste, welches wäre es? Langweilig stimmte nicht immer. Gewöhnlich sagte nichts darüber aus, was tatsächlich geschah. Ich kannte so viele Worte, warum wollte mir jetzt keines einfallen? Es stand am Anfang der Liste, also musste es eine tiefere Bedeutung besitzen für alle, die ihm folgten.

Frustriert ließ ich meinen Blick über meine Mitschüler schweifen. Ich kannte jedes Gesicht, wenn auch nicht alle Namen, obwohl ich sie seit dreieinhalb Jahren beinahe jeden Tag sah. Dafür wusste ich ganz genau, welche Figuren sie in meinen Geschichten darstellten. Jeder von ihnen tauchte in der einen oder anderen Erzählung auf, denn jede meiner Figuren besaß ein reales Vorbild. Tim, unsere erbärmliche Version des Pausenclowns, der immer witzig sein wollte es aber nicht war, wurde zu Tino, dem Narren, der aus Versehen in einem seiner Streiche den König tötete. Emily, die hochnäsige Engländerin, wurde zu Amelia, einer hinterlistigen Hofdame. Ich wusste nicht genau, wo Hazar herkam, aber über sie hatte ich vor einem Jahr eine Kurzgeschichte geschrieben, in der sie zu einer kamelreitenden Beduinin wurde.



Lily Beier (geb.1989) wohnt in Hattingen und schreibt schon Geschichten, seit sie einen Stift in ihren Händen halten kann. Seit 2010 veröffentlichte sie Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien, die ihr hauptsächlich während ihrer Arbeit als Krankenschwester im Nachtdienst eingefallen sind. Sie liebt Fantasy-Geschichten, auch gerne mit einer ordentlichen Portion Romantik, egal für welche Altersklassen sie geschrieben wurden, schwarzen Tee und mit ihrer großen Familie im Wald spazieren zu gehen.

weniger anzeigen expand_less
Weiterführende Links zu "Papiermenschenlied"

Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)

Als Sofort-Download verfügbar

eBook
3,99 €

  • SW9783961272365458270

Ein Blick ins Buch

Book2Look-Leseprobe

Andere kauften auch

Andere sahen sich auch an

info