Anka und der große Bär

„Max braucht Wasser“: Diesem Aufruf folgten im Winter 1948/49 Tausende Jugendliche, darunter viele Studenten, um mit Schaufel und Spitzhacke durch den hart gefrorenen Boden innerhalb von drei Monaten eine fünf Kilometer lange Wasserleitung von der Saale bis zur Maxhütte in Unterwellenborn zu bauen. „Bär“, der Schmelzerbrigadier, soll sich als Mitglied der FDJ-Leitung um die Studenten kümmern. Der Arbeiter hatte noch nie mit Studenten zu tun und ist sehr unsicher. Und da gibt es auch noch Anka, das hübsche, schlagfertige Mädchen, das zu seinem Leidwesen immer von einem Studenten begleitet wird. Zu allem Unglück geht in einer... alles anzeigen expand_more

„Max braucht Wasser“: Diesem Aufruf folgten im Winter 1948/49 Tausende Jugendliche, darunter viele Studenten, um mit Schaufel und Spitzhacke durch den hart gefrorenen Boden innerhalb von drei Monaten eine fünf Kilometer lange Wasserleitung von der Saale bis zur Maxhütte in Unterwellenborn zu bauen.

„Bär“, der Schmelzerbrigadier, soll sich als Mitglied der FDJ-Leitung um die Studenten kümmern. Der Arbeiter hatte noch nie mit Studenten zu tun und ist sehr unsicher. Und da gibt es auch noch Anka, das hübsche, schlagfertige Mädchen, das zu seinem Leidwesen immer von einem Studenten begleitet wird. Zu allem Unglück geht in einer klirrenden Frostnacht der wertvolle Kompressor kaputt und Bär hilft, das Unglück zu vertuschen.

Anka kann den „Bär“ Gerhard schon leiden. Aber wie soll sie ihm das zeigen, wo er doch die Studentin für hochnäsig und unzugänglich hält und glaubt, dass sie ihn „auf die Schippe nehmen“ will.



Ich fand die Truppe im Graben. Nun gut, ein richtiger Graben war es noch nicht, so einen guten Spatenstich unter Flur, aber man sah schon etwas. Vorher begegnete ich noch Franke. Es wäre gelogen zu sagen, sein Gesicht sei vom Optimismus verklärt gewesen. „Wenn wir keinen Plan hätten“, sagte er, „könnte man sich freuen, dass die Jungens da sind.“ Das empfand ich als ein starkes Stück. Denn sie waren ja da, eben weil wir einen Plan hatten. „Soweit das bis jetzt zu übersehen ist“, sagte Franke und brach mitten im Satz ab. Die verschluckte Fortsetzung hieß nichts anderes als: … ist der Studenteneinsatz eine planwidrige Maßnahme. Da vergaß ich, dass ich gekommen war, nach Beschwerden und Anregungen zu forschen, und entgegnete: „Da muss man sie eben ein bisschen aufschwänzen!“

„Ich habe sie schon übern grünen Klee gelobt“, sagte Franke mit solcher ruhigen Selbstverständlichkeit, als konnte ich mit „ein bisschen aufschwänzen“ überhaupt nichts anderes gemeint haben. Das verschlug mir die Sprache, und ich beschimpfte im Stillen Klaus Schober, der mir nun doch nicht gesagt hatte, was ich hier sollte. Unter Beschwerden waren doch gewiss nicht die des Schachtmeisters zu verstehen.

Da ich neben meiner Breite auch noch über eins achtzig Länge verfüge, konnte ich allen, die ja wenigstens bis an die Waden unter Flur standen, auf die Köpfe sehen, während sie sich schon die Hälse nach mir verdrehen mussten. Das taten sie auch. „Ah, die FDJ!“, tönte es mir aus verschiedenen Grüppchen entgegen. „Wenn’s gefällig ist“, antwortete ich und lächelte dümmlich. Ich musste ja den Eindruck erwecken, als sei ich ein Aufpasser, und das entsprach weiß Gott nicht meinem Auftrag, viel weniger noch meiner Absicht. Aber was ist denn einer, der in Stiefeln am Grabenrand entlangstorkst, die Hände in den Joppentaschen, und „Guten Morgen! Guten Morgen!“ grüßt?

Eine ungemütliche Lage! Als ich bei dem hageren Burschen Werner und der Kleinen in den tollen Hosen anlangte, ein dritter schaufelte noch mit ihnen, empfand ich das Peinliche meiner Situation besonders deutlich. Die Leute kannten mich immerhin näher. Was sollte ich ihnen bloß sagen außer: „Freundschaft!“

Ich hatte wirklich keine andere Wahl. Ich sagte zu dem dritten: „Komm, gib mir mal die Hacke!“ Zu dem dritten sagte ich das, denn dem hageren Werner traute ich zu, dass er antwortete: Und ich, ich stehe dann rum, was?

Ich bekam die Hacke ohne Widerrede. Halb zur Entschuldigung, halb wohl aus Mitleid mit sich selbst betrachtete der Junge seine Hände, die wirklich nicht gut aussahen, wie mir ein flüchtiger Blick zeigte. Und das Mädchen? ging es mir durch den Kopf. Anka hatte Fausthandschuhe an. Ich fragte nicht lange, packte sie am rechten Handgelenk und zog ihr den Handschuh ab. Blase an Blase. „Mit Handschuhen ist das nichts“, sagte ich, „das harte Segeltuch …“

„Das sind meine Blasen“, antwortete die Kleine.

„Ich hab’s ihr auch schon gesagt“, mischte sich Werner ein. „Sie hört ja nicht! Sie denkt, es ist zu kalt. Da“, sagte er. Er nahm ihre Rechte in seine knochigen Hände. Die mussten wohl recht warm sein, denn Anka sah ein bisschen erstaunt auf. Ein alter Trick, dachte ich. Mädchen imponiert es immer, wenn ein Junge warme Hände hat, besonders in der kalten Nacht. Das verrät heißes Blut. Hier war zwar heller, besser gesagt trüber Tag, aber die Wirkung schien auf Anka die gleiche zu sein.

„Es kann nicht jeder Hände haben wie ein Elefant Füße, manche haben im Kopf, was zum Brotverdienen nötig ist“, sagte der junge Mann, dem ich die Hacke weggenommen hatte.

Damit erzählte er nichts Neues, und es wäre daran auch nichts zu beanstanden gewesen, hätte es nicht ausgesprochen böse geklungen. Ich sah ihn erstaunt an. Er hielt meinem Blick stand, neigte den Kopf kurz und sagte: „Gestatten – Tomaschewsky.“

Das war etwas in meinem Leben noch nicht Dagewesenes, „Gestatten“ zu sagen. Unsereiner sagte: Ich heiße Gerhard … Einem, von dem anzunehmen war, dass er das nicht „gestattet“, sagte man es gar nicht erst. Also erübrigte sich das: Gestatten! Da ich zu den Menschen gehöre, die auf Ungewohntes nur langsam und meist zu spät reagieren, wusste ich mit dem: Gestatten – Tomaschewsky, nichts anzufangen und antwortete: „Aha!“ Die Kleine und der junge Mann starrten mich leicht perplex an. Der lange Werner wollte mir zu Hilfe kommen, aber es fiel ihm nichts Besseres ein, als zu sagen: „Das ist der Jugendfreund Fuhrmann!“

„Man erfährt immer mal was Neues“, näselte Tomaschewsky, und ich dachte: So ein Esel, und der Werner ist auch einer, denn dass ich der Jugendfreund Fuhrmann war, wussten doch die Leutchen schon. Leicht gereizt, war ich in der besten Verfassung, die Hacke zu schwingen. Ich zog die Joppe aus, nicht ohne zu bemerken, Arbeit mache warm. Dann ging’s los.

Schwere Arbeit kannte ich von Jugend an. Natürlich ist ein Bagger tausendmal besser als eine Spitzhacke, aber eine Spitzhacke ist trotzdem etwas Schönes. Man hat sie so sicher in den Händen, so im Gleichgewicht, und dann geht eine Linie von Kraft und Willen von den Fingern, die den Stiel umklammern, in die Arme und von da in die Schultern und von da in den Rücken und von dem Rücken in die Beine bis herab zu den Zehen. Wirklich, am Schluss schlägt man auch mit dem großen Zeh zu, so eine Einheit ist das.

Gewiss wollte ich es auch dem Tomaschewsky zeigen. Der Esel – als brauchten wir nicht auch den Kopf zum Brotverdienen! Wollte ich es der Kleinen zeigen? Ich hätte gesagt: Nein. So ein Lügner kann ich sein.

Ich jagte die Spitzhacke in den Boden. Nicht zu viel, damit ich die Schollen noch abbrechen konnte, nicht zu wenig, damit ich ein Maximum losbekam. Dass eine Spitzhacke durch die Luft pfeifen kann, wird jeder Fachmann bestätigen. Meine pfiff, und ich vernahm es mit Genugtuung. Ich sah nicht hinter mich, hörte nur zwei Schaufeln kratzen, zwei Menschen schwer atmen, schwächer und schwächer, weil der Abstand zwischen uns größer und größer wurde. Dann stand plötzlich Emmy am Graben, eine Schaufel in der Hand und schrie herab: „Wenn der Bär schon deine Hacke schwingt, nimm wenigstens ’ne Schippe!“ Das galt Tomaschewsky.

Der junge Herr vergaß vor Verblüffung sein: Gestatten – Tomaschewsky! Vielleicht erschien ihm auch die mächtige Frau da oben zu wenig ebenbürtig, um sie damit zu beehren, ich weiß es nicht. Emmy hätte darauf auch keinen Wert gelegt. Sie war für ihre unbekümmerte Gradlinigkeit in der Hütte wohlbekannt. Irgendjemand musste gedacht haben, die Emmy ist genau die Richtige für die Studenten, sie leidet nicht an Minderwertigkeitskomplexen. So schickte man sie zur Baustelle, das Arbeitsgerät zu verwalten und das Essen auszugeben.

Armin Tomaschewsky nahm die Schippe ohne Widerrede. Emmy lächelte ihr breites, ebenso gutes wie selbstsicheres Lächeln und sagte: „Wenn ihr drei nicht hinterher kommt, helfe ich euch. Der Bär hat nämlich was drauf.“



Am 21.10.1911 in Leipzig geboren, Besuch der Mittelschule, Lehre als Buchhändler.

1929 Mitglied des KJVD, 1930 KPD-Mitglied. 1934 wurde er wegen der Teilnahme am antifaschistischen Widerstandskampf verhaftet und blieb bis 1938 im Zuchthaus Waldheim, danach bis 1940 KZ Buchenwald. 1942 kam er ins Strafbataillon 999. U. a. war er auf Korfu stationiert und arbeitete als Funker in Karousades. Dort half er griechischen Partisanen und warnte die Juden vor der Deportation. Er konnte der Erschießung entgehen, setzte sich in Sarajevo von der Truppe ab und kehrte über Österreich nach Leipzig zurück.

Er beteiligte sich am Aufbau der Jugendausschüsse und der FDJ und wurde 1946 SED-Mitglied. Er hatte wechselnde Tätigkeiten: Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Regierungsrat in Sachsen, Hauptdirektor der VESTA (Vereinigung Volkseigener Stahlwerke), Werkleiter im VEB Guss Köthen, Leiter des Aufbaustabes des Kombinats Schwarze Pumpe, Personalchef im Konstruktions- und Ingenieurbüro Leipzig.

Von 1955 bis 1957 absolvierte er ein Fernstudium am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ und war seit 1958 freischaffender Schriftsteller.

Grabner wurde mehrmals mit Parteistrafen belegt, seit 1961 vom MfS überwacht und erhielt nach dem 11. Plenum 1965 ein vorübergehendes Berufsverbot.

Er war in zweiter Ehe mit der Schriftstellerin Sigrid Grabner verheiratet.

Er starb am 3. April 1976 in Werder.

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