Das Hundeohr

Roman

In diesem Roman erzählt Herbert Otto die ziemlich ungewöhnliche Geschichte des weitgereisten Artisten Edgar Deutschmann: Vor gut drei Jahren, an einem Januartag, hatte der Umsturz in seinem Dasein begonnen: Im Zirkus in Montevideo stürzte er vom Pferd in die Manege, leichte Lähmung stellte sich ein, später eine Taubheit, die rasch zunahm. Und Karli, sein Freund, hatte vorgeschlagen, ihm ein neues Ohr einzusetzen; was er schon längst einmal habe versuchen wollen: Das Ohr eines Hundes. Minisender und -empfänger dazu und ein Steuergerät, das die hohen Frequenzen, die das neue Ohr empfing, stufenlos reduzieren konnte bis auf das normale menschliche... alles anzeigen expand_more

In diesem Roman erzählt Herbert Otto die ziemlich ungewöhnliche Geschichte des weitgereisten Artisten Edgar Deutschmann: Vor gut drei Jahren, an einem Januartag, hatte der Umsturz in seinem Dasein begonnen: Im Zirkus in Montevideo stürzte er vom Pferd in die Manege, leichte Lähmung stellte sich ein, später eine Taubheit, die rasch zunahm. Und Karli, sein Freund, hatte vorgeschlagen, ihm ein neues Ohr einzusetzen; was er schon längst einmal habe versuchen wollen: Das Ohr eines Hundes. Minisender und -empfänger dazu und ein Steuergerät, das die hohen Frequenzen, die das neue Ohr empfing, stufenlos reduzieren konnte bis auf das normale menschliche Maß.

Und jetzt, vor zwei Tagen, war sein Freund Karli gestorben, der Gefährte aus Kindertagen und Schulzeit, später Arzt für Nase, Hals und Ohren. Man fand ihn im Auto, im Wasser, an der Badestelle einer früheren Kiesgrube, kurz vor dem Dorf, wo sein Bruder wohnt. Tod am Steuer. Herzversagen. Bei einem Mann von Mitte Vierzig? Selbstmord? Edgar kam darauf, dass gewaltsamer Tod in Betracht gezogen wurde, denn man hatte die Leiche als ein Mittel zur Beweisführung festgenommen. Aber nein. In Verwahrung. Tote kann man nicht verhaften.

Viel tiefer als Edgars Schmerz und Trauer gingen, griff die Erschütterung. Er fand kaum noch Schlaf, ging im Garten hinterm Haus ziellos umher und versäumte es zu essen. Die Gespräche, die er gedanklich mit Toten und Lebenden führte oder mit sich selbst, wurden häufiger. Auch verworrener. Der Tiefpunkt seiner Krise schien erreicht.

Was steckt wirklich hinter allen diesen merkwürdigen Begebenheit? Deutschmann stellt sich viele Fragen. Herbert Otto hat einen ebenso spannend zu lesenden wie merkwürdigen Roman geschrieben, der ebenfalls viele Fragen stellt – darunter die gerade wieder ziemlich aktuell werdende nach der Verantwortung von Wissenschaft und Medizin sowie nach Macht und Gewinn. Und was wollte eigentlich Doktor Bickel von ihm, auch ein Ohrenarzt, der ihn vorgestern anrief und der von Karlis Tod wusste?



Er ließ Bickel eine Zeit lang lesen, holte heißes Wasser und die Büchse mit dem Kaffeepulver. Ob er ihm Karlis Tagebuch zeigen oder es überhaupt erwähnen sollte, war immer noch nicht entschieden, er neigte jedoch eher dazu, nur sein Wissen daraus zu verwenden. Je mehr verunsichert, desto schwächer ist der Mensch. Und sein Widerstand.

Er saß da wie unschlüssig am großen Tisch in der Küche, schlug Notizen auf, ohne sie zu lesen, ordnete an den Stapeln. Eine Dose mit orientalischen Kräutern stand da. Er öffnete sie und atmete tief und lange die Düfte ein, so als könnte es eine letzte Stärkung bedeuten vor dem Auftritt, der nun doch schwerer schien als angenommen.

»Also, was ist Ihr erster Eindruck, Doktor?«

»Ja. Erstaunliche Papiere.« Bickel trug nun eine Brille mit sehr dünnem Rand. »Ich wusste nur, dass Karl intensiv und viel gearbeitet hat. Darf ich fragen, wie Sie in den Besitz der Papiere gekommen sind?«

»Dürfen Sie. Er hat sie mir hinterlassen. Durch Verfügung im Falle seines Todes, der ja eintrat. Sie können den Brief später sehen. Kaffee machen Sie sich selbst?«

»Ja, danke.«

»Oder möchten Sie Kognak dazu?«

»Nein, nein. Aber einen Aschenbecher.« Bickel holte Zigaretten und Feuerzeug aus den Taschen. Er nahm die Brille ab, und sein Blick lief eilig suchend über Edgars Gesicht. »Sie würden mir die Arbeiten tatsächlich überlassen?«

»Wie viel sind Sie Ihnen wert?«

»Einiges müsste ich noch sehen, bevor ich das weiß.«

»Gut. Studieren Sie weiter.«

Nun holte Edgar das Lasso, das im Keller bereit lag, warf es von der Tür aus und sagte knapp und heiter: »Hepp!« Die Schlinge, die genau um den Mann und die Stuhllehne lag, zog er blitzschnell zu. »So einfach. Sehen Sie.«

»Was soll das?«, fragte Bickel erschrocken.

»Ich bin Artist. Haben Sie das vergessen?«

»Nein, nein. Sie machen das wirklich gut «

»Damit bin ich schon als Kind aufgetreten«, sagte Edgar, während er das Seil sorgfältig schnürte.

»Und Sie meinen, ich soll mich jetzt befreien«, sagte der Mann.

»Richtig.«

Bickel versuchte sich zu strecken, dehnte Brust und Schultern vergeblich. Edgar sah ihm belustigt zu. »Anstrengen müssen Sie sich schon«, sagte er und schnürte weiter. »Und es will gelernt sein wie alles. In den Staaten gab es einen unerreichten Künstler, der sich aus Ketten und Käfigen befreite. Vor Zehntausenden Zuschauern. Spektakuläre Auftritte jedes Mal. Es war Harry Houdini.«

»Sie haben gewonnen«, sagte Bickel. »Ich schaffe das nie.«

»So war es auch gedacht.«

»Also binden Sie mich los.«

»Was mich wundert, Bickel, Sie sind offenbar ohne jeden Argwohn hergekommen. Oder sollte ich mich täuschen? Drei, vier Knoten noch. Dann sind wir fertig. Ich werde Sie von jetzt ab einfach Bickel nennen. Einverstanden?«

Allmählich schien der Mann zu begreifen, dass es nicht um einen Scherz ging.

»Binden Sie mich los«, sagte er drohend. »Oder sind Sie verrückt?«

»Ich frage mich das auch mitunter. In letzter Zeit.«

»Hören Sie sofort damit auf«, schrie der Mann. Er stemmte die Beine gegen den Boden und zappelte, so gut er noch konnte. »Haben Sie verstanden endlich!«

»Nicht so schreien, Bickel. Das kostet nur Kraft. Ich weiß doch, dass Sie nervös sind. Das sollen Sie auch. Dabei fällt mir ein, dass ich noch etwas gegen das Fensterchen stellen müsste. Eine Matratze oder so.«

Mann und Stuhl waren jetzt ein sauber geschnürtes Bündel. Das Seilende schlang Edgar um ein Wasserrohr an der Wand. Bickels Unterarme hatte er nicht mit verpackt.

»Sitzen Sie bequem so? Denn es kann dauern.«

Der Mann hatte die Augen geschlossen und ließ den Kopf hängen, und er machte im Augenblick den Eindruck, als sei jede Absicht zum Widerstand bereits erloschen. So frühzeitig. Er sagte nun leise: »Sie berauben mich meiner Freiheit. Ist das so richtig?«

»Nein. Ich habe Sie verhaftet.«

»Es wird Sie eine Menge kosten, Herr Deutschmann. Das wissen Sie hoffentlich.«

»Ihre Stimme klingt so anders«, sagte Edgar. »Sie hören es sicher selbst. Ein Mann, der Angst hat, entfremdet sich plötzlich. Angst verändert sehr.« Edgar saß nun auf dem zweiten Stuhl am Tisch. »Nein, Bickel. Es wird Sie eine Menge kosten. Ich habe den Eindruck, Sie sind eine Art Existenzialist. Der nur nach eigenen Gesetzen lebt. Und wer das tut, weiß gewöhnlich, dass er irgendwann dafür zahlt. Genug der Philosophie. Wir haben nur zwei Nächte und zwei Tage. Einfache Frage, einfache Antwort. Wo waren Sie am achten Juni nachmittags und abends?«

Nach längerem Schweigen sagte Bickel: »Wie soll ich das jetzt wissen. Kann ich etwas trinken?«

»Ja, sofort.« Edgar bereitete Kaffee für ihn zu. »Dieser Tag war sehr heiß. Bitte.«

Trinken konnte Bickel, obwohl seine Hände stark zitterten. »Und eine Zigarette.«

»Natürlich«, sagte Edgar. »Übrigens habe ich nicht die Absicht, grob zu sein. Ich werde Sie weder treten noch schlagen. Mach die Gerechtigkeit durch Gnade erträglich, heißt es bei einem Klassiker. Also. Ich helfe Ihnen. Es war ein Freitag. Der achte Juni.«

Er sah Bickel zu, der die Zigarette fast verzehrte, den Rauch tief und gierig einsaugte, wie Ertrinkende die Luft.

»Wo waren Sie an diesem Tag, und was haben Sie getan.«



15. März 1925 in Breslau geboren. Bis 1943 Lehre als Bankkaufmann, Soldat von 1943 bis 1944, sowjetische Kriegsgefangenschaft.

1948 - 1949 Studium der Ästhetik und Philosophie in Moskau, danach Dramaturg und Verlagslektor, seit 1956 freischaffender Autor.

Wahl ins P.E.N.-Zentrum 1987.

Theodor-Fontane-Preis 1956 und 1961, Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste 1971, Vaterländischer Verdienstorden 1977, Nationalpreis der DDR 1978, Kunstpreis der Gewerkschaften 1975 und 1985.

Am 24. August 2003 in Ahrenshoop verstorben.



Hauptwerke:

Die Lüge. Roman, (übersetzt ins Bulgarische, Ukrainische, Ungarische, Chinesische), Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin1956

Stundenholz und Minarett, Verlag Volk und Welt, Berlin 1958

Minarett und Mangobaum, Verlag Volk und Welt, Berlin 1960

Septemberliebe. Filmszenarium, Henschel Verlag, Berlin 1960

Republik der Leidenschaft. Erlebnisse auf Kuba, Verlag Volk und Welt, Berlin 1961)

Griechische Hochzeit (Novelle, als Oper bearbeitet von Robert Hanall), Aufbauverlag, Berlin 1964

Zeit der Störche (Erzählung, verfilmt 1970; übersetzt in 14 Sprachen), Aufbauverlag, Berlin 1966

Zum Beispiel Josef (Roman, verfilmt 1974), Aufbauverlag, Berlin 1970

Die Sache mit Maria (Roman, Verfilmungsarbeit 1980 abgebrochen), Aufbauverlag, Berlin 1976

Der Traum vom Elch (Roman, verfilmt 1986), Aufbauverlag, Berlin 1983

Das Hundeohr, Faber und Faber, Leipzig 1997

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