Fünfzehn Schritte gradaus
Gedichte
Als die ersten der hier abgedruckten Gedichte entstanden, hatte ich ein Vierteljahrhundert meines Lebens hinter mir. Sehr freundlich sind sie nicht gewesen, diese fünfundzwanzig Jahre, obwohl ich sie heute nicht missen möchte. Lehrten sie mich doch, dass eine Heimnäherin für ein Dutzend Sommerkleider vier Mark und sechzig Pfennig Nählohn bekam, wovon sie auch noch den Zwirn bezahlen musste. Länger als zwei Tage brauchte man dafür nicht, den Tag zu zwölf Stunden gerechnet. Währenddessen erholten sich die Damen der Stadt für etwa die gleiche bescheidene Summe auf der Felsche-Terrasse.
War das nicht lehrreich? War es nicht leicht begreifbar, dass man etwas gegen das Unrecht tun musste? In der Arbeiterjugend und von 1929 an im Kommunistischen Jugendverband tat ich es denn.
Die Nazis erzwangen im Buch unseres Lebens einen neuen Abschnitt, einen Punkt aber konnten sie nicht setzen. Dafür setzten sie uns ins Zuchthaus, und da die gesiebte Luft Waldheims der roten Bazillen offensichtlich nicht Herr wurde, verschafften sie uns noch die rauere des Totenberges bei Weimar und eine Nachkur im Strafbataillon 999.“
Unter diesen Bedingungen entstanden die ersten drei Teile des vorliegenden Bändchens, als Gegengift sozusagen. Die im Zuchthaus geschriebenen Gedichte mussten der Zensur und dem Blubo-geschärften Blick des Zensors standhalten. „Purpurne Bänder“ waren schon sehr gewagt. Im Lager schrieb man sich nichts auf, das wäre noch gewagter gewesen. Manches davon habe ich auswendig gelernt, manche Bruchstücke später rekonstruiert. In den Schreibstuben der 999er Einheiten gab es auch genug Knechte. Die Lust am gebundenen Wort und am Reim konnte aber niemand totzensieren.
Die Gedichte des „Neuen Lebens“ sprechen – hoffe ich – für sich selbst. Auch ihre Inhalte durfte ich erleben.
H.G.
HINTER DEM DREIFACHEN TOR
März hinter dem dreifachen Tor
Ein Rosengleichnis
Ein Kamerad ging
Geschenk hinter Gittern
Herbstlied
Traum im Wachen
Am Abend
Die leichten und die schweren Dinge
HINTER DEM STACHELDRAHT
Die Häftlingsnummer
Morgen
Essenausgabe
Appellplatz Buchenwald
Für Rudi Arndt
TODESURSACHE 1942
KORFIOTISCHE GESÄNGE
Ich stehe Wache
Deine Liebe
Gesang ist alles
Den Adlern jenseits der Straße von Korfu
Sklavensprache 1944
Kommende Junge
Korfiotische Nacht
Im Morgengrauen
Glückhafter Himmel
Auf der Fahrt nach Kerkyra
VITA NUOVA
Rote Fahne 1945
Wir wollen
Eures Todes Sinn
Trage die Flamme voran!
Nach einer Jugendversammlung
1. Mai 1946
Den Buchenwald-Kameraden
Seit zweitausend Jahren
Herz, werde froh!
II. Sowjetkongress
Silvester 1948
Ballade vom Aufbau des Bandagenwalzwerkes Gröditz
Aktivistenehrung
Aufruf an die Erbauer der Wasserleitung zur Maxhütte
Stalinallee
Wettbewerb der Grobblechwalzer
Die Partei
Nachtschicht
Die Dichter
Essenausgabe
Täglich sind sie am Stacheldraht
zum Essenfassen.
Links ein Kamerad,
rechts ein Kamerad,
und sie lassen
einen dritten
in ihrer Mitten
nicht allein.
Aber während sie bitten,
es möge nicht zu wenig sein
von der schönen Suppe,
mischt der sich nicht ein,
als sei es ihm schnuppe,
ob er sie frisst,
weil es ja doch nur
Kohlrübenwasserbrühe ist,
was sie hier kochen.
Wenn sie sich dann zum Gehen wenden,
ihre drei Näpfe in den Händen,
schleift er so merkwürdig seine Knochen
hinterher.
Aber den Napf hält er ganz fest,
wie jemand die Zügel führt,
er scheint ihm
weder heiß zu sein noch schwer.
Er hatte auch keine Miene gerührt
und nicht gestöhnt,
als ihm der Kalfakter die heiße Brühe
über den Daumen spülte,
als ob er nichts fühlte.
Wahrscheinlich ist er Gießer,
so einer gewöhnt
sich mit einiger Mühe
und nach einiger Zeit
an das Heiße,
konnte man denken.
Doch dieser
erwarb sich die Unempfindlichkeit
auf andere Weise.
Vor einigen vierzehn Tagen
hörten die Zwei den dritten sagen:
„Ich werde sterben“,
und haben dazu genickt.
Anderswo ist das sicherlich ungeschickt
und ohne Pietät.
Aber hier war es schon ein Trösten,
nicht zu widersprechen, wenn einer weiß,
dass er in der Erlösten
Ruhe eingeht,
denn was kann er hier schon noch erben?
Und außerdem dachte von beiden jeder:
Ich auch, nur etwas später.
So lehrte sie die Erfahrung.
Und das schwiegen sie sich
ins Gesicht,
denn die Stimmbänder
brauchen auch ein wenig Nahrung,
und die hatten sie nicht.
Dann begann der dritte wieder:
„Tote haben steife Glieder,
aber mit glasigen Augen
haben sie keine Ruh,
bitte drückt mir die Augen zu.“
Die beiden senkten die Lider
zu einem „So sei es“.
„Und noch eins“, sprach die Stimme,
„Maria, verzeih es!
Gebt mir den Essnapf in die Hand,
solange sie warm ist,
ganz fest,
den Daumen über den Rand,
die Finger an den Boden gepresst,
und dann winkelt den Unterarm empor,
haltet ihn, dass er sich nicht bewegt,
so eben!“
Dann spielt er ihnen die Szene vor,
wie einer einen Essnapf trägt,
sein erstes Theaterspiel im Leben.
„Legt mich in die Ecke im Zelte.
Und seid nicht bange,
bei dieser Kälte
halte ich mich lange.
Bei der Essenausgabe nehmt ihr mich dann,
aber ihr dürft mich nicht fallen lassen,
und einer sagt: Essen für drei Mann.
So kann ich jeden Tag
für euch einen Schlag
mit fassen.“
Und als er so spricht,
steht in seinen Augen beinah ein Rausch,
in dem vergnügliche Lichter zucken.
Aber die andern wissen nicht
wohin mit dem Schlucken.
Jetzt schien ihnen doch der Tod zu frühe
und ein allzu verzweifeltes Stück
der Tausch,
der ihnen hier empfohlen:
Tägliches Entsetzen gegen Kohlrübenwasserbrühe.
Aber der,
der ihnen mehr
als das letzte Hemd anbot,
legte den Kopf zurück.
„Grüßt Polen“
und war tot,
als müsst es so sein.
Täglich sind sie am Stacheldraht,
dem dornigen Gitter.
Links ein Kamerad,
rechts ein Kamerad,
aber ein Dritter
lässt sie nicht allein.
KZ Buchenwald, Februar 1940
Appellplatz Buchenwald
Marsch durch den Lehm
und Takt, Kameraden,
und wenn uns der Dreck
in die Stiefel läuft.
Haben wir Buchenwald-Soldaten
andere Dinge schon in uns ersäuft.
Seitenrichtung und
links, Kameraden,
Tuchfühlung ist
viel mehr als ein Wort.
Alles Zaudern und alle Taten
pflanzen sich in der Tuchfühlung fort.
Die Augen links!
Durchzähln, Kameraden!
Zahl ist Masse,
und Masse ist Schritt.
Vor die Weltgeschichte geladen
zählt die Masse zum Wollen mit.
Arbeitskommando weg!
Kameraden –
Arbeitskommando
am großen Ziel.
Marsch, ihr Buchenwald-Soldaten!
Zehn für einen jeden, der fiel!
KZ Buchenwald, März 1940
Für Rudi Arndt
Der eben an uns vorbeiging,
das war ein Mensch wie wir.
Man trug ihn auf einer Bahre
hinunter ins Revier.
Die Träger wussten beide,
der macht nicht mehr lange mit.
Es lag ein letzter Freundschaftsdienst
in ihrem leisen Schritt.
Ihm brennen zwei Kugeln im Rücken
und eine in der Brust.
Er hat, dass er heute sterben muss,
gestern schon gewusst.
Viel Tränen seh ich rinnen,
sie sind Gebet und Fluch.
Sie weben dem Kameraden
ein leuchtendes Leichentuch.
KZ Buchenwald, Mai 1940
Am 21.10.1911 in Leipzig geboren, Besuch der Mittelschule, Lehre als Buchhändler.
1929 Mitglied des KJVD, 1930 KPD-Mitglied. 1934 wurde er wegen der Teilnahme am antifaschistischen Widerstandskampf verhaftet und blieb bis 1938 im Zuchthaus Waldheim, danach bis 1940 KZ Buchenwald. 1942 kam er ins Strafbataillon 999. U. a. war er auf Korfu stationiert und arbeitete als Funker in Karousades. Dort half er griechischen Partisanen und warnte die Juden vor der Deportation. Er konnte der Erschießung entgehen, setzte sich in Sarajevo von der Truppe ab und kehrte über Österreich nach Leipzig zurück.
Er beteiligte sich am Aufbau der Jugendausschüsse und der FDJ und wurde 1946 SED-Mitglied. Er hatte wechselnde Tätigkeiten: Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Regierungsrat in Sachsen, Hauptdirektor der VESTA (Vereinigung Volkseigener Stahlwerke), Werkleiter im VEB Guss Köthen, Leiter des Aufbaustabes des Kombinats Schwarze Pumpe, Personalchef im Konstruktions- und Ingenieurbüro Leipzig.
Von 1955 bis 1957 absolvierte er ein Fernstudium am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ und war seit 1958 freischaffender Schriftsteller.
Grabner wurde mehrmals mit Parteistrafen belegt, seit 1961 vom MfS überwacht und erhielt nach dem 11. Plenum 1965 ein vorübergehendes Berufsverbot.
Er war in zweiter Ehe mit der Schriftstellerin Sigrid Grabner verheiratet.
Er starb am 3. April 1976 in Werder.
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- Artikel-Nr.: SW9783965213029458270.1
- Artikelnummer SW9783965213029458270.1
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Autor
Hasso Grabner
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 80
- Veröffentlichung 30.03.2021
- ISBN 9783965213029
- Wasserzeichen ja