GEO Epoche 120/2023 - Die Rosenkriege

Liebe Leserin, lieber Leser,



Wenn Sie sich auf die Suche nach den Spuren der Rosenkriege machen wollen, dann sollten Sie nicht über Schlachtfelder spazieren – die sind ohnehin längst umgepflügt oder überbaut. Sie sollten vielmehr eines der schönsten spätmittelalterlichen Gebäude in ganz England besichtigen: King's College Chapel in der Universitätsstadt Cambridge. Schaut man sich die gotische Kapelle von außen genau an, dann erkennt man eine feine Linie, die sich durch das Gemäuer zieht, ein Wechsel von hellem zu dunklem Sandstein, mehr ist es nicht. Doch darin spiegelt sich das ganze Drama, das wir Ihnen in diesem Heft präsentieren. Die unscheinbare Linie erzählt von einem König, der den Verstand verliert, von Verrätern und Wendehälsen, Triumphen und Rückschlägen, von plötzlichen Todesfällen und heimtückischen Morden. Kurz: Sie erzählt eine Geschichte, die so spektakulär ist, dass man sie für die Handlung eines Romans halten könnte, wenn man es nicht besser wüsste. Nicht zufällig haben die Rosenkriege die erfolgreiche Serie "Game of Thrones" inspiriert. Als König Heinrich VI. an einem Hochsommertag im Jahr 1446 den Grundstein für die Kapelle seines Colleges legte, kriselte es bereits im Inselreich. Sieben Jahre später stürzte der schwache Herrscher in geistige Umnachtung – und seine Dynastie geriet vollends ins Wanken. 1461 wurde Heinrich schließlich von seinen Gegnern abgesetzt. Als die Arbeiter in Cambridge davon erfuhren, packten sie ihre Sachen und hinterließen eine Bauruine. Ausgerechnet Richard III., jener schurkenhafte Herzog aus dem Hause York, der sich gut 20 Jahre später den Thron vermutlich durch einen Kindermord sicherte (siehe Seite 108), befahl, die Kapelle zu vollenden. Nur wurde nun ein dunklerer Stein benutzt, die vielsagende Linie im Mauerwerk des Gotteshauses nahm Gestalt an. Die stumme Zeugin einer blutigen Epoche. König Richard führte Heinrichs Lieblingsprojekt auch deshalb weiter, weil er dadurch seiner Herrschaft mehr Legitimation verleihen wollte. Derselbe Grund motivierte Henry Tudor, der Richard 1485 auf dem Schlachtfeld besiegte und so die Rosenkriege zu einem Ende brachte, den Ausbau fortzusetzen. Die letzten Arbeiten an der Kapelle wurden unter dessen Sohn ausgeführt. An der prunkvollen Trennwand zum Chor sind noch immer die Initialen von Heinrich VIII. und seiner Frau Anne Boleyn zu sehen: ein Liebesbeweis, in Holz geschnitzt, fertiggestellt in jenem Jahr, als der Bräutigam der Braut den Kopf abschlagen ließ. Daneben prangt die Tudor- Rose – jenes propagandistische Meisterwerk, mit dem die neue Dynastie die Embleme der verfeindeten Häuser York und Lancaster symbolisch versöhnte. Unter diesem Zeichen tat England die ersten Schritte auf dem Weg zur Großmacht. Auch das ist eine spektakuläre Geschichte. Doch die hat GEOEPOCHE schon erzählt. Ich wünsche Ihnen eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre.



GEO EPOCHE ist das GeschichtsMagazin von GEO und erscheint sechsmal pro Jahr. Jede Ausgabe ist einem historischen Thema gewidmet - Epochen wie dem Mittelalter, Staaten wie Preußen, Weltreligionen wie dem Judentum. Geschichte schillernd und packend ohne Staub, Fußnoten und Zahlenkolonnen. Erzählt werden Geschichten über bedeutende Personen und dramatische Ereignisse, über Alltag und Kultur, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. In genauen historischen Rekonstruktionen sowie opulenten Bildessays und Experteninterviews, mit Karten und Infokästen wird die jeweilige Epoche zum Leben erweckt und vor allem deren Alltag sinnlich nacherzählt. "Wir nehmen die Leser mit auf eine Zeitreise", so lautet das Credo der Chefredaktion.



Nr. 120



DÜSTERNIS ÜBER DEM REICH Bildessay

Zwei Adelshäuser stürzen eine der mächtigsten Monarchien

Europas in einen epischen Konflikt 6

HEINRICH VI. König ohne Verstand 1453

Als der Monarch aus dem Haus Lancaster in geistige

Umnachtung fällt, entbrennt das Ringen um die Macht 22

ESKALATION Engländer gegen Engländer 1461

Die Rivalität zwischen York und Lancaster führt zum brutalen

Kampf: Beim Dorf Towton sterben Tausende Krieger 40

FRANCESCO COPPINI Ein Italiener für den Frieden ca. 1400–1464

Der Gesandte des Papstes soll für Einigung auf der Insel sorgen.

Doch stattdessen schlägt er sich auf die Seite der Yorkisten 58

EINGREIFEN SCHOTTLANDS Die Stunde der Profiteurin 1461

Für die schottische Regentin Maria sind die Wirren im Süden

eine günstige Gelegenheit, ihren Besitz zu mehren 60

EARL OF WARWICK Des Königs Freund, des Königs Feind 1471

Ein hochintelligenter Adeliger verhilft York-Herrscher Eduard IV.

zur Macht. Dann jedoch wechselt er spektakulär die Seiten 70

DIE ROSENKRIEGE Zeitleiste 83

ALLTAGSLEBEN Liebe im Schatten des Krieges um 1470

Während der Thronkämpfe erlebt die Adelsfamilie Paston ihre

eigene Katastrophe: Ihre Tochter begehrt einen Bediensteten 96

COUP RICHARDS III. Das Martyrium der Prinzen 1483

Um die Krone zu erringen, lässt der Bruder des verstorbenen

Königs Eduard IV. dessen Söhne verschwinden. Für immer 108

WILLIAM CAXTON Herr der Lettern ca. 1422–1492

Ein Kaufmann errichtet die erste englische Druckpresse. Und

begründet so mitten im Bürgerkrieg eine neue kulturelle Ära 124

HENRY TUDOR Der große Versöhner 1485

Ausgerechnet ein Mann ohne Besitz und echten dynastischen

Anspruch bringt dem Inselreich als König wieder Frieden 126

NACHHALL Der Propagandist der Sieger um 1595

William Shakespeare verfälscht in seinen Werken die Ereignisse der

Rosenkriege. Die Dramen prägen das Geschichtsbild bis heute 144

Impressum, Bildnachweise 82

Lesezeichen 95

Werkstatt 158

Die Welt von GEO 159

Vorschau »Südafrika« 162