GEO Epoche 122/2023 - Der Balkan

Am 9. November 1993 meldete die deutsche "Tagesschau", dass "eines der schönsten Kulturdenkmäler auf dem Balkan" als Folge des Bosnienkrieges endgültig zerstört worden war: die Brücke von Mostar. Das Titelmotiv dieses Heftes und Sinnbild für die leidensreiche, aber auch ungemein vielfältige Geschichte einer ganzen Region, die wir Ihnen auf den folgenden Seiten näherbringen wollen. Der Auftraggeber des kühnen Bogens über die Neretva war der osmanische Sultan Suleiman der Prächtige (1494–1566). Unter ihm marschierten die Türken bis nach Wien, blähte sich das Osmanische Reich immer weiter auf. Die Folgen seines beispiellosen Eroberungszuges bekamen auch die Bewohner von Mostar in der Herzegowina zu spüren: Ihre alte hölzerne Hängebrücke, die viele, die sie überwinden mussten, in Todesangst versetzte, passte nicht mehr zu einem aufstrebenden Verwaltungszentrum in Suleimans Reich. Also befahl der Sultan, eine neue Brücke zu bauen. 1566 war sie vollendet. Sie sollte 427 Jahre stehen. Als die osmanische Herrschaft im 19. Jahrhundert bröckelte und immer mehr Untertanen des Sultans begannen, sich als Angehörige eigenständiger Nationen zu begreifen, verband der "Stari most", die alte Brücke, wie man sie nun nannte, weiterhin die unterschiedlichen Viertel der Vielvölkerstadt, in der Serben, Kroaten und Bosniaken relativ friedlich zusammenlebten. Selbst die Kriege des 20. Jahrhunderts konnten den kühnen Bogen nicht stürzen. Bis zu jenem 9. November. Die Offiziere der Armee der Kroaten in Bosnien-Herzegowina, die für den Beschuss verantwortlich waren (und später unter anderem dafür verurteilt wurden), argumentierten, der Übergang sei als feindlicher Nachschubweg ein legitimes Ziel gewesen. Experten dagegen sehen darin auch einen bewussten Akt der Zerstörung, der das kultu- relle Erbe der Muslime und die Erinnerung an die verhasste osmanische Herrschaft auslöschen sollte. Heute, fast genau 30 Jahre später, ist die Brücke wieder aufgebaut, in Bosnien-Herzegowina herrscht Frieden. Ist der Krisenherd Balkan also auf dem Weg in eine bessere Zukunft? Darüber habe ich mit der Münchner Historikerin Prof. Dr. Marie-Janine Calic gesprochen. Ihr – verhalten – hoffnungsfrohes Fazit ist ein guter Abschluss für ein leider stellenweise sehr bedrückendes Heft über die ebenso schroffe wie vielfältige Halbinsel zwischen Ägäis, Adria und Schwarzem Meer. Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre.



GEO EPOCHE ist das GeschichtsMagazin von GEO und erscheint sechsmal pro Jahr. Jede Ausgabe ist einem historischen Thema gewidmet - Epochen wie dem Mittelalter, Staaten wie Preußen, Weltreligionen wie dem Judentum. Geschichte schillernd und packend ohne Staub, Fußnoten und Zahlenkolonnen. Erzählt werden Geschichten über bedeutende Personen und dramatische Ereignisse, über Alltag und Kultur, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. In genauen historischen Rekonstruktionen sowie opulenten Bildessays und Experteninterviews, mit Karten und Infokästen wird die jeweilige Epoche zum Leben erweckt und vor allem deren Alltag sinnlich nacherzählt. "Wir nehmen die Leser mit auf eine Zeitreise", so lautet das Credo der Chefredaktion.



Nr. 122

VIELER VÖLKER HEIMAT Bildessay

Schon früh ist der Balkan eine Brücke zwischen Ost und West 6

KARTE Gemeinsame Geschichte

Eine Region, zwölf Staaten 20

THRAKER Das Gold der Barbaren um 450 v. Chr.

Die rätselhaften Krieger erschaffen einzigartige Kostbarkeiten 22

SLAWEN Expansion der Unfassbaren 578 n. Chr.

Eine neue Kraft und wie sie den Balkan prägt 30

BULGARISCHES REICH Im Land des Geistes um 900

Erst die Bulgaren erheben das Slawische zur Hochsprache 36

LAZAR HREBELJANOVIĆ Der Märtyrer vom Amselfeld 1389

Ein Serbenfürst fällt im Kampf gegen die Osmanen 44

DRACULA Fürst des Schreckens 1448

Vlad III. beherrscht die Walachei mit Grausamkeit 46

THESSALONIKI Jerusalem des Balkans 1568

Die Hafenstadt bietet spanischen Juden eine Zuflucht 60

SERBISCHER AUFSTAND Zeit der Nationen 1804

Wie die Serben die Fremdherrschaft abschütteln 72

DIE GESCHICHTE SÜDOSTEUROPAS Zeitleiste 83

LASKARINA BOUBOULINA Der Kampf der Kapitänin 1821

Ihre Flotte verhilft der griechischen Rebellion zum Erfolg 96

BALKANKRIEGE Die Kriege vor dem Krieg 1912/13

Die Vertreibung der Osmanen vom Balkan 98

DRAGUTIN DIMITRIJEVIĆ Die Tat des Bullen 1914

Der Mann hinter dem Attentat von Sarajevo 112

JUGOSLAWIEN Kampfname: Tito 1941

Die wundersame Karriere des Bauernsohns Josip Broz 114

ALBANIEN Im Nordkorea Europas 1980er Jahre

Stimmen aus einem abgeschotteten Land 128

NICOLAE GHEORGHE Wider das Unrecht 1982

Ein Soziologe kämpft gegen die Ausgrenzung der Roma 136

JUGOSLAWIENKRIEGE Die 1425 Tage von Sarajevo 1991–1995

Die Geschichte der längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts 138

INTERVIEW Der Balkan heute: Für immer Pulverfass?

Was hinter aktuellen Konflikten und alten Klischees steckt 154

Impressum, Bildnachweise 82

Lesezeichen 95

Werkstatt 159

Vorschau »Die Bronzezeit – Eine Ära der Innovationen« 162