Abschiedsdisco

Angenommen, dieser Henning Marko wachte eines Tages mitten im Urwald auf und könnte sich einen Menschen herbeiwünschen. Mit wem möchte er das Abenteuer bestehen? „Mit Mutter? Sie ließe sich von der Schlange beißen, nur damit sie mich nicht beißt. Mit Vater? Er würde immer vorangehen, immer die Richtung bestimmen wollen. Lutz? Sobald die Batterien des Rekorders leer wären, hätte er alle Lust am Abenteuer verloren. Und Gundula Fischer? Das ließe sich denken, wenngleich ich nicht wüsste, wie sie sich angesichts eines ausgewachsenen Ochsenfrosches aufführt. Der junge Polizist fällt mir ein. Mit dem könnte... alles anzeigen expand_more

Angenommen, dieser Henning Marko wachte eines Tages mitten im Urwald auf und könnte sich einen Menschen herbeiwünschen. Mit wem möchte er das Abenteuer bestehen? „Mit Mutter? Sie ließe sich von der Schlange beißen, nur damit sie mich nicht beißt. Mit Vater? Er würde immer vorangehen, immer die Richtung bestimmen wollen. Lutz? Sobald die Batterien des Rekorders leer wären, hätte er alle Lust am Abenteuer verloren. Und Gundula Fischer? Das ließe sich denken, wenngleich ich nicht wüsste, wie sie sich angesichts eines ausgewachsenen Ochsenfrosches aufführt. Der junge Polizist fällt mir ein. Mit dem könnte man, falls vorhanden, möglicherweise Pferde stehlen. Der schnauzbärtige MZ-Mann würde vermutlich seiner Maschine nachtrauern, sich aber bei einer überraschenden Begegnung mit dem weiblichen Teil der Ureinwohner als sehr nützlich und umgänglich erweisen. Oder Magda, von der sich lernen ließe, wie man mit der Einsamkeit fertig wird. Und der Mann mit dem Ortsschild? Er würde eine Siedlung gründen, ihr Gesetze und einen Namen geben, sich dann in den Schatten setzen, rauchen und darüber nachdenken, woher er gekommen ist, mehr noch: Wer er eigentlich ist. Mit seiner Art, das Mögliche zu tun, ohne sich aus lauter Ehrfurcht vor dem Geschaffenen selbst auf die Hosenbeine zu treten, müsste sich eigentlich ganz gut leben lassen.“

Das ist das vorläufige Ergebnis der Überlegungen Hennings nach einem Tag voller Eindrücke in dem fast schon toten Dorf Wussina, das der Braunkohle weichen muss. Im Lichte dieses Abschieds verlaufen die Begegnungen mit den wenigen Leuten, die er trifft, überraschend und rätselhaft. Der 15-Jährige muss all seine Kräfte zusammennehmen, um dem Ansturm der Ereignisse und Gefühle standhalten zu können. Er beginnt zu ahnen, wie schwer die Prüfungen des Lebens mitunter sind, und fühlt die Kraft in sich wachsen, sie zu bestehen. Dabei denkt er natürlich auch an Dixie, die hinter ihm läuft, schon Busen hat, immer ein wenig nach Windeln riecht, weil sie kleine Geschwister zu versorgen hat. „Sie wäre der ideale Kumpel; sie müsste nur etwas hübscher sein. “

Nach dem spannenden Jugendbuch von 1981 entstand 1989 der gleichnamige DEFA-Film (Drehbuch und Regie: Rolf Losansky).



Im Kanal stinkt es süßlich-brandig. Meine Hände greifen in ein Gemisch aus Sand und Asche. Wenn ich den Kopf hebe, streife ich die zerklüftete Ziegelwölbung. Ich bin einfach nicht mehr Tier genug, um ohne Weiteres auf allen Vieren mitten hinein in die Finsternis zu kriechen. Es gilt indes, voranzukommen. Und den Abzweig nicht zu verpassen. Links, hatte der Mann gesagt. Halt dich links!

Kunststück, wenn man nichts sieht, wenn man das Gefühl für Richtungen verliert! Weiß ein Maulwurf, wo links ist?

Ich taste die Wände ab. Greife rechts in ein Loch. Verharre unschlüssig. Kann sein, der Mensch hat sich getäuscht. Ehe ich mir klarmachen kann, dass sich solche Typen nicht täuschen, poltert hinter mir etwas von der Decke. Am Ende stürzt der Kanal ein! Von Panikgefühlen ergriffen, flüchte ich in den Abzweig. Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs bin. Laue Mattigkeit erfüllt meinen Kopf und verdrängt jeglichen Zeitbegriff. Dunkelheit drinnen, Dunkelheit draußen. Plötzlich endet der Kanal. Ich kann mich zwar in einer Art Schacht aufrichten, doch über mir gibt es keinen Schimmer. Nur diese süßliche brandige Finsternis.

Ich muss Licht sehen. Soll man mich festnehmen!

Als ich glaube, den Hauptkanal erreicht zu haben, wende ich mich nach rechts. Von dort bin ich gekommen. Bin ich’s? Auch in dieser Richtung gibt es kein Anzeichen von Helligkeit. Noch nie war ich in einer derartigen Lage. Was lau war, wird reißend. Ich verliere den letzten Rest von Hemmungen, schreie: „Hilfe! Ich muss raus hier!“ Hab ich geschrien? Meine Stimme ist stumpf und echolos. Noch einmal stoße ich den Kopf hoch: „Hilfe.“

Ich pralle mit Wucht gegen die schartige Wölbung. Da hab ich mein Licht. Es blitzt für Sekunden unter der Hirnschale. Mir entfährt ein deftiger Fluch. Gleichzeitig vermag ich wieder zu denken. Das müsste Fräulein Brode hören!

Nun weiß ich, dass es das alles noch gibt: die Schule, die Eltern, das Dorf, Opa und Gundula Fischer. Ich bin durch einige Tonnen Mauerwerk und Sand von allem getrennt. Aber es ist da.

Ich wende mich nach links und beginne wieder zu kriechen. Wenn es sich um den Hauptkanal handelt, muss der angekündigte Abzweig irgendwann kommen.

Nicht lange, und meine Linke fuchtelt im Leeren. Der Kanal verzweigt sich noch einmal, aber nun ist es nicht mehr schwer. Ich strebe dem hellsten aller Lichtflecke zu, die vorn über mir schimmern und in mir ein Gefühl wie Ostern und Pfingsten zugleich hervorrufen. Die Kanalsohle steigt leicht an, die Wölbung wächst nach oben. Ich kann gebückt gehen und stelle bald fest, dass ich gut gewählt habe. Die schräg stehenden gusseisernen Roste sind zwar alle geborsten. Aber nur dort, wo das Licht am hellsten strahlt, ist das Loch so groß, dass es meinem Körper einen Durchschlupf bietet.

Ich ziehe mich hoch, stehe mit weichen Knien im Staub und atme den himmlischen Duft der sonnenbeschienenen Welt.

Schließlich klopfe ich mir die rote Asche von den Jeans. Auf den Knien bleibt ein gelblicher Schimmer. Dann verlasse ich diese merkwürdige Fabrik. Ich denke: Hierher nie mehr!

Mit diesem Vorsatz verriegle ich den Kanal, in dem ein um Hilfe rufender Schläppling hocken bleibt.



Joachim Nowotny entstammt einer Arbeiterfamilie. Er absolvierte eine Lehre als Zimmermann und arbeitete in diesem Beruf. 1954 legte er an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät die Reifeprüfung ab und studierte anschließend bis 1958 Germanistik an der Universität Leipzig. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Verlagslektor. Seit 1962 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig. Von 1967 bis 1982 wirkte er als Dozent am dortigen Literaturinstitut Johannes R. Becher.

Joachim Nowotny ist Verfasser von Erzählungen, Romanen, Hör- und Fernsehspielen. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden Kinder- und Jugendbücher; thematisch ist er eng mit seiner Heimatregion, der Lausitz, verbunden. Nowotny behandelte als einer der ersten DDR-Autoren am Beispiel des Lausitzer Braunkohle-Tagebaus Themen wie Landschafts- und Umweltzerstörung.

Joachim Nowotny ist seit 1990 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller.

Auszeichnungen:

1971 Alex-Wedding-Preis,

1977 Heinrich-Mann-Preis

1979 Nationalpreis der DDR (II. Klasse für Kunst und Literatur)

1986 Kunstpreis des FDGB.

Bibliografie (Auswahl)

Hochwasser im Dorf, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1963

Jagd in Kaupitz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964

Hexenfeuer, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1965

Jakob läßt mich sitzen, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1965

Labyrinth ohne Schrecken, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1967

Der Riese im Paradies, Der Kinderbuchverlag, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1969

Sonntag unter Leuten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) 1971

Ein gewisser Robel, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1976

Die Gudrunsage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1976

Ein seltener Fall von Liebe, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1978

Abschiedsdisco, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1981

Letzter Auftritt der Komparsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1981

Die Äpfel der Jugend, Aufbau Verlag, Berlin 1983

Ein Lächeln für Zacharias, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983

Der erfundene Traum und andere Geschichten, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1984

Schäfers Stunde, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1985

Der Popanz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1986

Wo der Wassermann wohnt, Domowina Verlag, Bautzen 1988 (zusammen mit Gerald Große)

Adebar und Kunigunde, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1990

Als ich Gundas Löwe war, Faber & Faber, Leipzig 2001

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