Die Beurteilung

„Wo sind die Blitze, Kolja?“, fragt Gisela Hildebrand ihren erwachsenen Sohn. Kolja, Jahrgang 1951, stellt Ideale in Frage, die vor allem von seiner Mutter auf ihn übergegangen sind. Trotz Scheidung seiner Eltern verliefen seine Kindheit und Jugend ohne tiefgreifenden Widerspruch, haben Schule und Universität ihn in dem bestärkt, was ihn mit seiner Mutter verbindet. Doch da siedelt das Mädchen, das er liebt, nach Westberlin. Da stößt der junge, unbequeme Kunstwissenschaftler in seiner Arbeitsstätte, einem Museum, zunehmend auf Unverständnis und Widerstand. Eine negative Beurteilung verhindert, dass er an die Universität in die... alles anzeigen expand_more

„Wo sind die Blitze, Kolja?“, fragt Gisela Hildebrand ihren erwachsenen Sohn. Kolja, Jahrgang 1951, stellt Ideale in Frage, die vor allem von seiner Mutter auf ihn übergegangen sind. Trotz Scheidung seiner Eltern verliefen seine Kindheit und Jugend ohne tiefgreifenden Widerspruch, haben Schule und Universität ihn in dem bestärkt, was ihn mit seiner Mutter verbindet. Doch da siedelt das Mädchen, das er liebt, nach Westberlin. Da stößt der junge, unbequeme Kunstwissenschaftler in seiner Arbeitsstätte, einem Museum, zunehmend auf Unverständnis und Widerstand. Eine negative Beurteilung verhindert, dass er an die Universität in die Forschung zurückkehren kann. Ist er selbstgerecht, wenn er mit seinen aufbrechenden Zweifeln seine Mutter attackiert? Sie wehrt sich, gerät aber zugleich in Widerstreit mit sich selbst und mit jenen, denen gegenüber sie ihren Sohn verteidigen will. Aus der Sicht beider Hauptfiguren werden Lebenserfahrungen und -ansprüche zweier Generationen konfrontiert und auf ihr produktives Miteinander hin untersucht.



Und dann fällt ihr aus der Mitte des Hefts ein langer Brief entgegen, eine Reisebeschreibung über seinen Westberlinbesuch an seinen Freund Heinrich Rex.

Warum nur hat er ihn nicht abgeschickt, grübelte sie. Man lässt doch nicht jemanden über zehn Seiten an seinen Erlebnissen teilhaben und vergisst es dann einfach.

Sie jedenfalls ist froh, den Brief gefunden zu haben, und jetzt erst empört sie sich über das Misstrauen dieses Genossen Minze ihrem Sohn gegenüber.

Nur — was verlangt sie von einem Fremden?

Lieber König Heinrich, weil Du es doch wissen wolltest, genau, wie Du sagtest, so verlief meine Reise nach Schlaraffia:

Schon der Anfang wurde ein besonderes Kapitel. Ich hatte mich früh in Friedrichstraße angestellt. War mir schon komisch unter all den Rentnern. Sie beäugten mich auch ziemlich misstrauisch. Auf der Rückfahrt, aber noch auf jener Seite, sprach es dann einer aus, sagte: Entweder Sie sind so’n Intelligenzler, oder Sie sind von der anderen Feldpostnummer!

Sie gingen übrigens ziemlich rücksichtslos miteinander um. Wenn da einer nicht mehr konnte, sich auf eine Bank setzte, knurrten die anderen, wollten ihn nicht wieder in die Schlange lassen.

Was sich da aber auch alles aufgemacht hatte. Einige hielten sich gerade noch an ihren Taschenwägelchen aufrecht. Irgendwie taten sie mir leid in ihren feinsten Sachen. Bestimmt stöhnten einige von den Leuten drüben, die von ihnen heimgesucht wurden: Schon wieder diese Tante Martha aus dem Osten ...

Als ich dran war, stellte sich heraus, dass ich nur zweihundert Mark mitnehmen durfte, ich hatte mein ganzes Gehalt einstecken. Also raus aus der Schlange, das Geld an einer Wechselstelle deponieren. Zwanzig West hatte ich eins zu vier bei Ralf getauscht, erwähnte das natürlich nicht. Ich konnte doch nicht ohne einen Pfennig dahin. Sollte ich mir vielleicht was erbetteln? hatte ich gedacht. Also wieder in die Reihe, zur nächsten Kontrolle. Der Polizist drehte meine Papiere, sagte, hier sind Sie falsch, Sie haben doch eine Dienstreise. Nun hatte ich zwar an einem gesonderten Eingang gelesen: Für Diplomaten und Dienstreisende, und hatte auch einige bedeutsame Männerchen mit Lords an den Rentnern vorbeischreiten sehen, hatte mich denen aber nicht zugehörig gefühlt. Dafür durfte ich nun zurückgehen, bekam aber sofort meinen »Passport ins Land meiner Träume«.

Die andere Bahnsteighälfte von Friedrichstraße war schon Westen. Ich grübelte, ob das nicht das Stück war, von dem ich damals als kleiner Junge mit den Eltern zum Berliner Ensemble rübergegangen bin.

Aber lange konnte ich gar nicht nachdenken, da wurde ich von zwei Armen umklammert, lange Haare mit einem »mit Tosca kam die Zärtlichkeit«-Duft fegten mir übers Gesicht.

Du, ich hab’s gefühlt, dass ich dich hier treffe, sagte Tanja, ich musste einfach vorfahren.

Wir hatten uns um neun am Bahnhof Zoo verabredet. Trotz meiner blöden Verirrungen war ich früher dran als gedacht.

So einfach war das also. Wir saßen in einer S-Bahn, und der Bahnhof hieß immer noch Friedrichstraße und war doch die andere Welt. Nachdem die Omas und Opas eingesammelt waren, fuhr die S-Bahn los. Ich fühlte mich erregt, gespannt zum Platzen, krampfte meinen Blick aus dem Fenster, als würde dahinter — ja was eigentlich?

Nachdem ich den Künztler angerufen und für den Nachmittag einen Termin vereinbart hatte, verließen wir den Bahnhof.

Erst später fiel mir ein, dass ich den Eingang zum Zoo gar nicht entdeckt hatte. Die Budapester Straße. Geschäfte, Geschäfte, Geschäfte.

Hatte ich vier Augen oder acht? Waren, Preise, Werbung. Himmlischer Vater, wer da nicht einverleibt wurde.



Am 14.7.1931 als Tochter eines Beamten im ehemaligen Königsberg/Preußen (heute Kaliningrad) geboren. Mädchenname: Elisabeth Appe.

Vier Jahre konfessionelle Grundschule, drei Jahre Lyzeum. 1945 Flucht in die Altmark, Tangermünde. Oberschule ohne Abschluss.

1948 bis 1949 Lehrerbildungsinstitut, ab November 1949 Lehrerin.

Fernstudium für 1. und 2. Lehrerprüfung, Fernstudium an der Pädagogischen Hochschule Potsdam.

Bis Ende August 1967 Lehrerin in Rangsdorf bei Berlin. Während dieser Zeit Gedichte geschrieben.

Von 1967-1970 Studium am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig. Zwei Jahre freischaffend, danach 14 Jahre Lehrtätigkeit im Fach Prosa (bei Fernstudenten) an diesem Institut, zuletzt als Dozentin.

Von 1986-1990 für vier Jahre vom Hochschuldienst beurlaubt, in dieser Zeit freischaffend.

Verwitwet, zwei Söhne.

Wohnhaft in Leipzig, Berlin, Rangsdorf, dann wieder Berlin. Sie ist am 10. September 2015 in Berlin verstorben.

Auszeichnungen:

Förderpreis des Mitteldeutschen Verlages

Kunstpreis der Stadt Leipzig.

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  • Autor find_in_page Elisabeth Schulz-Semrau
  • Autoreninformationen Elisabeth Schulz-Semrau Am 14.7.1931 als Tochter eines Beamten im… open_in_new Mehr erfahren
  • Wasserzeichen ja
  • Verlag find_in_page EDITION digital
  • Seitenzahl 277
  • Veröffentlichung 05.05.2020
  • ISBN 9783863943707

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