Das Rosenwunder

Erzählung

„Ein wenig plaudern wollen sie heute wieder unter dem doppelten Rundbogen des Zwillingsfensters. Der ruht auf einer Doppelsäule und einem Doppelkapitell aus Ähren und den Köpfen auf deren Körner lüsterner Vögel. Der Bogen trennt die beiden Herren, wie sich‘s schickt, den Herrn Landgrafen und den Herrn Magister Disciplinac Spiritualis der Frau Landgräfin, und er verbindet sie, wie sie es wünschen, sooft sie plaudern. Ein Turmfalke huscht schreiend übers Dach. - Wenn die Blüte vorbei ist, sagt Herr Ludwig, fängt das Laub an, alt zu werden - Aber die Kletterrosen! Magister Rodeger von Serimunt atmet tief ein. - Die... alles anzeigen expand_more

„Ein wenig plaudern wollen sie heute wieder unter dem doppelten Rundbogen des Zwillingsfensters. Der ruht auf einer Doppelsäule und einem Doppelkapitell aus Ähren und den Köpfen auf deren Körner lüsterner Vögel. Der Bogen trennt die beiden Herren, wie sich‘s schickt, den Herrn Landgrafen und den Herrn Magister Disciplinac Spiritualis der Frau Landgräfin, und er verbindet sie, wie sie es wünschen, sooft sie plaudern. Ein Turmfalke huscht schreiend übers Dach.

- Wenn die Blüte vorbei ist, sagt Herr Ludwig, fängt das Laub an, alt zu werden

- Aber die Kletterrosen! Magister Rodeger von Serimunt atmet tief ein. - Die Kletterrosen, die Frau Elisabeth zu ihrer Hochzeit unter den Wendelstein gepflanzt hat, sind gerade erst erblüht! Zu eurer Hochzeit waren …“



Es geht um die berühmte Landgräfin Elisabeth von Thüringen, die spätere Heilige. Und es geht um den gelehrten Ritter Rodiger, welcher der Überlieferung nach ihr Lehrer und Gesellschafter war und ihr Schutz - zumindest solange bis er ihren Gemahl, den Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen, auf dem Kreuzzug begleiten musste, zu dem der Stauferkaiser Friedrich der Zweite aufgerufen hatte.



Sein Nachfolger als Elisabeths Beichtvater wird Konrad von Marburg, ein Mann strenger Gottgefälligkeit, ein harter, beinahe grober Mann, der die junge Frau zu sehr harten Frömmigkeitsübungen drängte und mehr und mehr an Macht und Einfluss gewann. Während der eine eifrig den Kreuzzug wider die heidnischen Sarazenen predigt, denen Jerusalem entrissen werden muss, fragt die andere: Und wann beginnt der Kreuzzug gegen die Armut? Die Armut sei ein ärgerer Heide als der Sarazene. Kann das gutgehen? Und dann fällt durch ein Ungeschick beim Abschied von Landgraf Ludwig auch noch das bis nach Bamberg mitgeschleppte schwarze Witwenkleid aus der Reisetruhe. Ein böses Vorzeichen?



Und weil beide, der es sagte und der, der es hörte, erschraken, weil ihr Kichern erstickte, als sie die Landgräfin erblickten, wusste sie, dass sie gemeint war.

Herr Konrad von Marburg hörte zu, sooft sie fragte oder klagte, nannte ihr Tun aber nur dann noch fromm, wenn es den beiden Schwägern nicht missfiel. Oft dehnte er Gebete, die keine Störung duldeten, bedeutend aus und wählte darin Worte, die geeignet waren, mit der Autorität der Bibel die Mildtätigkeit etwas zu zügeln, die sein Beichtkind, wie er meinte, anfallartig überkam. Wollte er gar nicht antworten, erfand er Andachten und Fastentage, gebot Schweigen und legte vor jedem, der sich ihm nahen wollte oder ihm nur in den Weg lief, zu hochgezogenen Brauen, die Augäpfel aufwärts drehend, den Zeigefinger auf die Lippen.

Herrin! hatte er gemahnt. Hütet Eure freigebige Hand! Was wolltet Ihr noch geben, wenn Ihr alles weggegeben habt? Sagtet Ihr nicht selbst einmal – lasst Euch an Euer eigen Wort erinnern: Wer mehr besitzt, hat mehr Macht, Gutes zu tun. Galt Euch das nicht als eben der Grund, aus dem Ihr Euch von Gottes Gnaden nennt? Gebt Ihr zu unbedacht, so schwindet Eure Macht, zu geben.

Das war wohl einzusehen. Einsicht macht allerdings ein doppeltes Gewissen. Gehorchte sie dem geistlichen Seelenführer, plagten sie schwere Träume. Alle die Kranken, Grindigen, Getretenen, Zahnlosen, Ausgemergelten und Siechen reckten nach ihr dürre Arme, knochige Hände mit Fingern, die immer länger wurden, und schlugen ihre Nägel wie Krallen in ihr Herz und schrien, sie wären auch Gottes Ebenbilder wie sie, die Hohe Herrin, und ihre Augen wurden stier und böse, bis sie einander angriffen und zerfetzten und sich mit blutigen Gliedmaßen von Kindern anthropophagisch ihre aufgerissenen Mäuler stopften. Gab sie der Stimme ihres Herzens nach, befiel sie Angst vor allen Menschen, die ihr nahe standen. Seit Ludwig fort war, lauschte sie beim Spinnen immer ängstlicher auf Schritte draußen vor der Kemenatentür, nahm sie nie ohne Herzklopfen Kleider, Schuhe und Strümpfe aus den Schränken, um sie nach Eisenach zu tragen, wo die Zerlumpten sie ihr ergebenst aus den Händen rissen. Und auf die Körbe, die sie im Backgewölbe mit Brotwecken füllte, legte sie die Tücher mit mehr Sorgfalt, damit kein Satter, einfach niemand außer denen, die mit ihrem nagenden Hunger unter dem Burgberg und in den achtundzwanzig Betten des Spitals darauf schon lauerten, auch nur ein braunes Krüstchen davon erspähen konnte.

Nörgelnde Reden hatten die Knechte, die schützend mit ihr zu gehen pflegten, immer schon geführt. Sie mussten tragen helfen, fanden das aber unter ihrer Würde. Neuerdings ließen sie in ihren ärgerlichen oder bissig witzelnden Bemerkungen so den gebührenden Respekt vermissen, dass sie sich fragen musste, wer sie vor solchen Beschützern schützte, und lieber unbegleitet ging. Da ihre Schwäger dies durchaus nicht dulden wollten und sie schon einmal von Reisigen wie eine Gefangene hatten behandeln lassen, war es von Nutzen, sich zu verkleiden, als Marktfrau in grober Wolle, mit Kopftuch oder abenteuerlich zerdrücktem Filz.

Vor ein paar Tagen hatte Herr Heinrich Raspe sie doch erkannt.

– Das ist nicht allein dein Brot, Frau Schwägerin, sondern auch meins! Bring es sofort zurück!

– Sogar das Brot meiner Kinder ist es, Herr Heinrich. Aber sie haben genug.

– Immer verschenken ist nicht besser als das Stehlen.

– Da Ihr nicht sät und erntet, Herr Schwager, wessen Brot esst Ihr also?

– Gut! Mach dich nur arm! Ich sorge nicht für dich.

– Ludwig sorgt für mich.

— Ach, Ludwig, seine Pilgerfahrt, das Kreuz …

– Sag, Heinrich, warum sind, seit Ludwig fortzog auf diese fromme Aventüre, da unten doppelt so viele arm?

– Es ist Gottes Wille.

– Und wenn es Gottes Wille ist, dass sie arm sind, warum soll ich dann nicht mit ihnen arm sein?

Da war Herr Heinrich wortlos weitergeritten und hatte Knechte geschickt, die Frau Elisabeth behutsam fingen und in ihre Kemenate führten, ein Anlass mehr für sie, am Abend von der Tafel wieder nichts zu essen, stumm dazusitzen und außer Wasser nichts zu trinken.

Heute spart sie sich die Mühe der Verkleidung. Sie gibt ihr Kind der Amme, setzt die weinrotsamtene Kappe auf das weiße Gebende, das, übers Haar, über die Ohren und unters Kinn gestrafft, ihr schmales Gesichtchen rahmt, hüllt ihre mageren und gleichfalls schmalen Schultern in den dunkelgrünen Mantel, den die gute Guda, ihre Dienerin, bereithält, hängt sich den Brotkorb mit den sorgsam bedeckten Wecken an den Arm und wandert treppab, über die Höfe, erwidert den Gruß der Wache auf dem Söller, findet das Torhaus offen wie erwartet zu der Stunde und auch das Tor der Vorburg, die Zugbrücke herabgelassen.



Volker Ebersbach ist am 6. September 1942 in Bernburg/Saale geboren und dort aufgewachsen. Nach Abitur und Schlosserlehre studierte er von 1961 bis 1966 Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 promovierte er über den römischen Satiriker Titus Petronius. Danach lehrte er Deutsch als Fremdsprache ab 1967 in Leipzig, 1968 in Bagdad, 1971 bis 1974 an der Universität Budapest, wo er auch mit seiner Familie lebte.

Seit 1976 ist er freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt Erzählungen und Romane, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biografien und Anekdoten. Er übersetzte aus dem Lateinischen ausgewählte Werke von Catull, Vergil, Ovid, Petronius, das Waltharilied, Janus Pannonius und Jan Kochanowski. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Koreanische übersetzt.

Von 1997 bis 2002 war er Stadtschreiber in Bernburg. Danach lehrte er bis 2004 an der Universität Leipzig.

Preise und Auszeichnungen

Lion-Feuchtwanger-Preis, 1985

Stipendiat des Künstlerhauses Wiepersdorf und des Stuttgarter Schriftstellerhauses, 1993

weniger anzeigen expand_less
Weiterführende Links zu "Das Rosenwunder"

Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)

Als Sofort-Download verfügbar

eBook
3,99 €

  • SW9783965215801458270

Ein Blick ins Buch

Book2Look-Leseprobe

Andere kauften auch

Andere sahen sich auch an

info