Der Traum vom Elch

Roman

Eigentlich heißt er Markus, aber Anna nennt ihn »den Elch«, weil er seine Freiheit so sehr liebt und weil man ihm selten begegnet. Zweimal im Jahr, im Mai und im November, kommt er nur wenige Tage und füllt doch Annas Leben aus. An ihm misst sie ihre Ansprüche, vor allem gegenüber anderen Männern, gegenüber den Pflichtmenschen und Leichtfüßen, deren Verführungen sie manchmal unterliegt. Nichts wiegt aber das Glück auf, das der »Traum vom Elch« in ihr auslöst. Herbert Ottos turbulenter Roman, der auch von der DEFA verfilmt wurde, gilt als der erotische Gesellschaftsroman der DDR. Darin stehen Fernweh... alles anzeigen expand_more

Eigentlich heißt er Markus, aber Anna nennt ihn »den Elch«, weil er seine Freiheit so sehr liebt und weil man ihm selten begegnet. Zweimal im Jahr, im Mai und im November, kommt er nur wenige Tage und füllt doch Annas Leben aus. An ihm misst sie ihre Ansprüche, vor allem gegenüber anderen Männern, gegenüber den Pflichtmenschen und Leichtfüßen, deren Verführungen sie manchmal unterliegt. Nichts wiegt aber das Glück auf, das der »Traum vom Elch« in ihr auslöst.

Herbert Ottos turbulenter Roman, der auch von der DEFA verfilmt wurde, gilt als der erotische Gesellschaftsroman der DDR. Darin stehen Fernweh gegen Provinzialität, Eros gegen Prüderie und Ehrlichkeit gegen das kalkulierte Spiel der Macht.



„Weil ich Angst habe, es dauert länger.“ Und dann: „Ich will nichts, was länger als eine Nacht dauert.“ So stimmte es natürlich nicht, aber sie sagte es so.

„Gut.“ Und nach einer Weile sagte er: „Also schieben wir die Nacht vor uns her. Na, komm.“

„Ich geh trotzdem nach Hause.“

„Ich begleite dich. Lass mich zwanzig Minuten schlafen. Oder dreißig. Ich schlafe sofort ein. Wie lange also?“

„Können Sie auch fünfunddreißig?“, fragte sie.

„Auch. Aber laufen Sie nicht weg. Ich schlafe tief.“

„Gut. Beeilen Sie sich. Mir wird kalt.“

„Ich schlafe, noch ehe Sie hier sind“, sagte er.

Und wirklich. Er musste sofort tief hinabgefallen sein wie in einen Abgrund. Wer das kann. Sagen: Ich springe, und er springt und fällt weit und weich hinunter in den Schlaf.

Anna lag wieder neben ihm, und es kam ihr vor, als berührte er sie immer noch. Sie hörte ihn still und gleichmäßig atmen. Seine Lippen waren leicht geöffnet und wirkten noch voller. Er hat Haare in den Ohren. Die scharfen Falten quer auf der Stirn hatten sich nicht geglättet. Schwere dichte Brauen. Er ist männlich und gut anzusehen und scheint ganz zu schlafen.

Sachte zog sie unten die Decke über ihm glatt, bis sie sehen konnte, dass er still war. Der Zumt schlief auch. Seinen Zustand vorhin hatte sie gesehen und dann, als er sie heranzog, deutlich am Körper wahrgenommen. Auch mit dem Arm.

Sie kann ihn aufdecken, wenn sie will.

Es musste gegen zwei Uhr sein, aber die alte Bauernuhr zeigte fünf nach zehn. Seine Selbstkontrolle schien außerordentlich entwickelt. Kann sein, er bringt es fertig, wie angekündigt aufzuwachen. Auch wenn es gegen seinen Willen ist: sie kann ihn aufdecken.

Ist er eigentlich fett? Sie wird es prüfen, wird ihn aufdecken und besichtigen.

Vorsichtig schlug sie die Decke über ihm zurück bis zum Nabel. Die Arme lagen friedfertig da. Er war auch am Körper gebräunt. Zu dichten Haarwuchs hatte sie nie schön gefunden. Er gefiel ihr so und war nicht fett. Er wirkte abgehärtet, er trainiert nicht nur seinen Willen. Sein Atem ging unverändert.

Ein Mann und sein Recht auf Haare überall. Die Kühle wird ihn nicht stören. Womöglich ihr Herzschlag, der nun schnell und heftig war. Und weiter. Sie deckte ihn ganz auf Da lag der Fremde, hatte nichts bemerkt und wird nichts davon erfahren. Alles war entspannt.

Er lag dort in seinem Nest wie ein junger Vogel, liegt immer dort, kann nicht heraus und davon, auch wenn er sich anschickt, es zu wollen, und sich streckt. Sie nahm ihn behutsam in eine Hand. Nichts weiter. Fühlte auch sein Nest. Blue, blue Windows, sang die Stimme, und er fühlte sich kalt an. Der Puls schlug. Sie hielt ihn nur und immer so, als müsste sie fürchten, ihm wehzutun. Blaue, blaue Fenster. Auch er hat einen Puls. Oder fühlte sie nur ihren eigenen?

Es war schon zwei Monate her. Bernd, ihr geschiedener Mann, kam unerwartet, käme nur so vorbei und wirkte niedergeschlagen, ohne Zutrauen zu sich selbst. Wieder hatte er niemand. Besonders schön wurde es nicht, doch sie half ihm damit sicher. Keine Nächstenliebe, denn sie half auch sich selbst. Zwei Monate sind eine gar zu lange Zeit. Aber daran dachte sie jetzt nicht.

Sie hatte ihn ermuntert mit der Wärme ihrer Hand. Sie setzte sich zu ihm. Durch die Wärme und die Güte kam er schnell zu Kräften. Dem Gesicht des Mannes war nichts anzumerken, und sie saß, so leicht sie konnte, auf dem schlafenden Mann, auf den Schenkeln zuerst. Nur sie entschied, was geschehen sollte. Ihre Gründe sind zahlreich. Aus reiner Weiblichkeit oder aus Trotz gegen die Bosheiten des Zufalls von gestern. Kann sein, aus Gründen der Vergeltung für frühere Wunden. Weshalb soll sie ihn verschonen. Oder nur aus Verlangen. Die Entscheidung ist schon getroffen.

Sollte er doch aufwachen, würde sie davonlaufen und sich verkriechen wie ein Dieb. Schöner Dieb. Guter gerechter Diebstahl. Nur ein Zeuge, der nichts sieht und der nicht reden kann. Soll nur da sein und so bleiben. Und gegen seinen Willen. Ein Schläfer hat keinen Willen. Selbst in Gedanken hat sie es nie getan. Niemals erwogen und nie daran gedacht. Nun aber ja. Wie es geplant ist von Natur. Sie und er, auf ihm, in ihr. So ist es von Anbeginn vorgesehen.

Aus Wohlgefallen. Christ ist erstanden. Denn die Großmutter war fromm. O Heiland, reiß die Himmel auf. Auch der Vater, ganz anders gläubig, ebenso bigott. Durch seinen Fahrer ließ er sie suchen in der Umgebung, ließ ihr Fahrrad suchen. Denn der Junge war ihr verboten worden. Dass sie ihn zum Mann nahm, geschah aus Trotz.

Anna sah den Fremden streng an und sah an ihm hinunter, spürte ihn schon und schwebte noch. Oder stieg sie auf in eine große Höhe. Der Atem stockte. Immer das Wunder überallhin, überall unter der Haut. Nur wenig atmen, immer nur kurz. Und dich niederlassen. Immer noch. Und still verhalten, so gut wie still, so still es geht, aber die Augen darfst du nicht schließen.

Mein Wille geschehe.



15. März 1925 in Breslau geboren. Bis 1943 Lehre als Bankkaufmann, Soldat von 1943 bis 1944, sowjetische Kriegsgefangenschaft.

1948 - 1949 Studium der Ästhetik und Philosophie in Moskau, danach Dramaturg und Verlagslektor, seit 1956 freischaffender Autor.

Wahl ins P.E.N.-Zentrum 1987.

Theodor-Fontane-Preis 1956 und 1961, Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste 1971, Vaterländischer Verdienstorden 1977, Nationalpreis der DDR 1978, Kunstpreis der Gewerkschaften 1975 und 1985.

Am 24. August 2003 in Ahrenshoop verstorben.



Hauptwerke:

Die Lüge. Roman, (übersetzt ins Bulgarische, Ukrainische, Ungarische, Chinesische), Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin1956

Stundenholz und Minarett, Verlag Volk und Welt, Berlin 1958

Minarett und Mangobaum, Verlag Volk und Welt, Berlin 1960

Septemberliebe. Filmszenarium, Henschel Verlag, Berlin 1960

Republik der Leidenschaft. Erlebnisse auf Kuba, Verlag Volk und Welt, Berlin 1961)

Griechische Hochzeit (Novelle, als Oper bearbeitet von Robert Hanall), Aufbauverlag, Berlin 1964

Zeit der Störche (Erzählung, verfilmt 1970; übersetzt in 14 Sprachen), Aufbauverlag, Berlin 1966

Zum Beispiel Josef (Roman, verfilmt 1974), Aufbauverlag, Berlin 1970

Die Sache mit Maria (Roman, Verfilmungsarbeit 1980 abgebrochen), Aufbauverlag, Berlin 1976

Der Traum vom Elch (Roman, verfilmt 1986), Aufbauverlag, Berlin 1983

Das Hundeohr, Faber und Faber, Leipzig 1997

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