Der Bote
In einer Zeit der Könige und einer von männlicher Stärke geprägten Welt wagt Prinzessin Elisabeth von Amera alles. Um die drohende Gefahr durch Argonia abzuwenden, schlüpft sie in die Rolle eines Boten und reitet selbst in das Reich ihres Feindes. König Beowulff traut dem jungen Gesandten aus Amera nicht über den Weg. Unwissentlich hält er die Prinzessin seines Nachbarlandes in seinen Händen. Elisabeth muss nicht nur ihre Mission erfüllen und ihre Tarnung aufrechterhalten, sondern erkennt bald, dass ihr Herz eine ganz eigene, riskante Botschaft zu senden beginnt.
Die Bevölkerung litt. Die Ernte war schon im letzten Jahr schlecht ausgefallen. Weder der Regen noch die Sonne waren über den Sommer hinweg ausreichend gewesen, um eine gute Ernte zu erzielen. Lokale Überschwemmungen standen im krassen Gegensatz zu Landstrichen, die kaum Wasser abbekommen hatten. Während der eine Teil des Landes unter den Wassermassen versank, war der andere Teil so ausgedörrt, dass an Landwirtschaft nicht zu denken war.
Auch das neue Jahr war von Anfang an von schlechten Vorzeichen geprägt gewesen. Der Winter brachte kaum Schnee, aber tiefgefrorene Böden. Ein grauer Schleier aus Nebel hing über dem Land. Kaum Sonne drang hindurch, um das Gemüt der Menschen aufzuhellen. Die lange Kälte hatte die Holzvorräte im Land drastisch dezimiert, die Wälder wurden nach und nach abgeholzt.
Im April wurde es endlich besser. Ein kollektives Aufatmen ging durch Amera. Aber dann machte ein später Frost Anfang Mai die Obstblüte zunichte. Die Menschen hungerten. Viele hatten den letzten Winter nicht überlebt. Jetzt war klar, dass nach dem harten Winter erneut die Obsternte fast komplett ausfallen würde. Das Land war schon im zweiten Jahr dieser Notsituation ausgeliefert.
Selbst im königlichen Palast waren die Rationen gekürzt worden. Auch König Leonas, der Herrscher von Amera, war sich im Klaren darüber, dass er Vorbild sein musste. Ja, dass er Vorbild sein wollte! Was immer noch in den königlichen Vorratskammern verblieben war, war inzwischen an die Bevölkerung ausgegeben worden. Aber es war einfach nicht genug.
Kinder starben, weil die Mütter keine Milch für sie hatten. Die Männer konnten kaum mehr arbeiten, so schwach war die Bevölkerung inzwischen. Allein das Meer mit seinen Früchten versorgte das darbende Land. Wenigstens gab es für die Küstenbewohner frischen Fisch und mineralstoffreiche Algen. Für die Leute, die etwas weiter von der Küste entfernt zu überleben versuchten, gab es immerhin noch die weniger schmackhafte, aber extrem nahrhafte, getrocknete und gesalzene Variante der Meeresfrüchte.
Aber es war einfach nie genug! Immer, wenn es schon schlimm schien, gab es noch eine Steigerung dessen, was möglich war. Des Hungers nicht genug, dieses Frühjahr hatte es in sich.
So waren im März ein Großteil der Bevölkerung einer grausamen Krankheit anheimgefallen: So mancher kleine Husten hatte sich schnell in eine Lungenentzündung weiterentwickelt und damit das Ende vieler Bewohner bedeutet hatte. Es war eine Katastrophe.
Leider schien dies immer noch nicht genug der schlechten Nachrichten! Anstatt seine Not leidenden Nachbarn zu unterstützen, hatte Beowulff, seines Zeichens König von Argonia, die Grenzen von Amera umstellen lassen. Die ersten Truppen waren vor zwei Wochen gesichtet worden. Truppen, deren Soldaten Tag für Tag mehr wurden und deren Stationierung sicherlich nicht dafür gedacht war, Lebensmittel in das vom Unglück schwer geplagte Amera zu bringen.
Beowulff war erst seit zwei Monaten im Amt. Er war noch jung, gerade Anfang zwanzig, als sein Vater von einer heimtückischen Grippe hinweggerafft worden war. Über den jungen König war in Amera allerdings nichts Gutes zu hören. So berichtete man am Hof von König Leonas, dass Beowulff ein habsüchtiger und rechthaberischer König sei. Ganz auf sein Land und dessen Vorteile fokussiert. Die Gerüchte behaupteten weiter, dass er keinen Vertreter der Argonia umgrenzenden Nachbarstaaten zu seiner Amtseinführung eingeladen hatte. Weder Diplomaten noch der junge Würdenträger selbst hatten sich bei den Anrainerstaaten vorgestellt. Nun waren da die Truppen an Ameras Grenze, und die Gefahr einer Invasion war sehr real.
König Beowullfs Mutter, die frühere Königin, war bei Beowulffs Geburt gestorben und so war er ohne die Wärme einer fürsorgenden Frau aufgewachsen. Auch in Argonia hätten die Ereignisse glücklicher sein können. Im Gegensatz zu den Menschen in Amera hatte man hier aber genug zu essen. Die Wetterkapriolen hatten den kleinen Staat am Meer deutlich schlimmer getroffen als den Riesen östlich der Landesgrenze. Argonia war deutlich größer als Amera. Gut die dreifache Fläche machte das Land aus. Aber es war kein Geheimnis, dass die Argonianer Amera um den direkten Zugang zum Meer beneideten. Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Gelegenheit, diesen Landstrich zu übernehmen. Amera zu unterwerfen und Argonia dadurch noch größer und mächtiger zu machen. Das war ein nahe liegendes Ziel. Das Heer von Amera war, wenn überhaupt noch vorhanden, so schwach, dass eine Verteidigung des Landes mit seinem Untergang gleichkam.
Kartoffel und Äpfel
Elisabeth war in der Schlossküche. Der einzige Ort, an dem es warm war. Es war Anfang Mai und nachts immer noch frisch, manchmal überzog der Frost morgens die Fenster. Die Köchin hatte aus ein paar Karotten, viel Wasser und etwas Seetang eine Suppe gekocht. Alle aßen das Gleiche. Egal, ob König oder Stallbursche, egal ob Prinzessin oder Köchin. Es gab nicht mehr viel, was für ein nahrhaftes Mahl genügt hätte. Immerhin war die Suppe warm! Selbst die Steckrüben, die in den Jahren zuvor noch als Schweinefutter aus der königlichen Küche verbannt worden waren, standen nun für Suppen hoch im Kurs. Allerdings waren auch diese Vorräte schon aufgebraucht.
Sechs Kinder waren heute gekommen. Elisabeth war darüber nicht glücklich. Fehlten doch vier ihrer Schützlinge. Die Nachfrage ergab, dass eines der Mädchen nicht kommen konnte, weil ihre Mutter krank war und sie jetzt auf das jüngere Geschwisterkind aufpassen musste. Die drei anderen waren selbst krank. Ein Jammer. Die Kinder wurden immer weniger. Woche zu Woche wurden ihre Ärmchen und Beinchen dünner. Die kleinen Jungen und Mädchen saßen ganz still. Sie aßen so artig und wohlerzogen, wie Schulkinder nur sein können, ihre Suppe. Nach dem Essen würde Elisabeth mit ihnen Rechnen üben. Das war der Plan für heute. Zahlen bis 10 und die Addition derselben.
In den vergangenen Jahren war das einfach gewesen. Da hatte sie von der Köchin Kartoffeln, Äpfel, Nüsse erhalten und die Kinder hatten mit großer Freude gezählt. Mitunter hatten Sie „Markttag“ gespielt und die Waren verkauft, um das Rechnen zu üben. Manchmal hatten sie mit der Köchin gemeinsam einen Kuchen gebacken und die benötigten Mengen abgewogen oder abgezählt. Jetzt gab es nichts mehr zu zählen, nichts zu wiegen. Die letzten Karotten waren in der heutigen Suppe gelandet.
Trotz aller Widrigkeiten genossen die sechs verbliebenen Kinder die Zeit mit Elisabeth. Eifrig zählten sie ihre Finger und auch ohne die sonst eingesetzten Waren spielten sie Markttag. Elisabeth machte es traurig. Den Eifer, den die Kleinen zeigten, um die unsichtbaren Köstlichkeiten vom Marktstand zu nehmen und sie dem Kunden zu verkaufen. Tränen standen in Ihren Augen. So konnte es nicht weitergehen!
Elisabeth versuchte, die Normalität für Ihre „Schreibkinder“ so gut es ging aufrechtzuerhalten. Sie hatte das Gefühl, dass die Kinder sehr wohl wussten, welch Genuss die wässrige Suppe und die Stunde Unterricht bei Elisabeth waren.
Unterdessen wurden die Nachrichten immer beängstigter. Die Grenztruppen von Beowulff waren massiv. Die Soldaten standen so dicht beieinander, dass sich – bei ausgestreckten Armen – ihre Fingerspitzen berührten. Nur wenige Schritte vorwärts und ihr Land wäre gefallen. Die Landesgrenze von Amera war komplett umstellt. Die treuen Diener ihres Vaters waren dem Untergang geweiht.
Elisabeth hatte mit dem König mehrfach über die Situation gesprochen. Aber ihr Vater schien nicht fähig, eine Entscheidung zu treffen. Diplomatische Beziehungen zwischen Amera und dem neuen König von Argonia bestanden nicht. Beowulff von Argonia hatte keinen Kontakt mit Amera aufgenommen und umgekehrt war seit einem alten Streit zwischen den Staaten auch kein Botschafter des Meeresanrainers nach Argonia gesandt worden.
Aber auch das heutige Gespräch endete wie so viele zuvor: Elisabeths Vater, König Leonas vom Amera, hatte sich stumm vom Tisch erhoben und seine Tochter traurig angeblickt. Hatte Elisabeth mit dem Gefühl zurückgelassen, dass sie als junge Prinzessin nichts von Diplomatie, Regierungsgeschäften und den drohenden Gefahren wusste. Nur er, König Leonas, Herrscher über Amera wusste, was zu tun ist.
Leonas würde allerdings überhaupt nichts tun! Elisabeth war panisch. Irgendwann würden Beowulffs Truppen nicht mehr nur einfach an der Grenze stehen, irgendwann würden sie diesen Schritt nach vorn tun, Amera unterwerfen und den Rest noch verbliebener Bevölkerung auslöschen.
Das war für Elisabeth sicher!
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- Artikel-Nr.: SW9783961274437458270
- Artikelnummer SW9783961274437458270
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Autor
Mireen Amara
- Verlag Novo Books im vss-verlag
- Seitenzahl 141
- Veröffentlichung 08.05.2025
- ISBN 9783961274437
- Verlag Novo Books im vss-verlag