Endstation Totenreich

John Amber - Schatten über New York - Band 5

Endstation Totenreich
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Als die Tochter einer wichtigen Politikerin verschwindet, findet sich im Zimmer des Mädchens die Dienstmarke eines vor Jahren verschollenen Polizisten. Das ruft John Amber und die Abteilung "Zwischenwelt" auf den Plan. Band 5 der Horror Serie John Amber führt Leserinnen und Leser ins Totenreich von Granny Holda, hierzulande auch als Frau Holle oder Perchta bekannt, und dieses geisterhafte Wesen ist ganz anders als die gütige Frau, die wir aus Grimms Märchen kennen. Der Eingang in ihr Totenreich liegt ausgerecgnet in einer verlassenen Station der New Yorker U-Bahn. Das New York Police Department hatte auch fünfzehn Jahre vor der Gründung des... alles anzeigen expand_more

Als die Tochter einer wichtigen Politikerin verschwindet, findet sich im Zimmer des Mädchens die Dienstmarke eines vor Jahren verschollenen Polizisten. Das ruft John Amber und die Abteilung "Zwischenwelt" auf den Plan.

Band 5 der Horror Serie John Amber führt Leserinnen und Leser ins Totenreich von Granny Holda, hierzulande auch als Frau Holle oder Perchta bekannt, und dieses geisterhafte Wesen ist ganz anders als die gütige Frau, die wir aus Grimms Märchen kennen. Der Eingang in ihr Totenreich liegt ausgerecgnet in einer verlassenen Station der New Yorker U-Bahn.



Das New York Police Department hatte auch fünfzehn Jahre vor der Gründung des Sonderdezernats „Zwischenwelt“ mit merkwürdigen Fällen zu tun, wie Detective Lance Carmichael am eigenen Leib erfahren musste. Er saß im Großraumbüro des One Police Plaza, erschöpft nach einem weiteren langen Tag, und rieb sich die Augen. Die grellen Leuchtstoffröhren über ihm summten leise, und das Klicken der Tastaturen seiner Kollegen klang wie fernes Regenprasseln. Doch für Carmichael gab es nur einen Fokus: die Videoaufnahmen, die er schon stundenlang durchforstet hatte.

Dominic Clearwater, der verschwundene Sohn der Bürgermeistergattin Annie Clearwater, war auf keiner einzigen Aufnahme zu sehen. Auf dem Bildschirm wimmelten Menschen wie Ameisen, Gesichter unscharf, Bewegungen ruckelig. Wie sollte er in diesem Chaos ein Kind finden? Carmichael beugte sich näher an den Bildschirm, spielte die Sequenz in Zeitlupe ab, untersuchte jede Tür der Subway Trains, jede Gestalt, jedes Detail. Doch Dominic Clearwater blieb unauffindbar.

Seufzend lehnte er sich zurück, sein Rücken knackte laut. Der Fall zehrte an ihm. Erst hatten die Cops gehofft, es würde sich um eine Entführung handeln. Lance hatte tagelang bei Mrs. Clearwater gesessen und auf einen Anruf gewartet, auf eine Lösegeldforderung. Aber da war nichts passiert. Inzwischen kostete die Suche seine ganze Kraft und belastete sogar seine eigene Beziehung. Seine Tochter sah er kaum noch wach, und doch konnte er nicht einfach aufgeben.

Die traurige Wahrheit war, dass jedes Jahr über 10.000 Kinder in New York verschwanden. Die meisten davon waren zum Glück nur Ausreißer. Diese wurden schnell gefunden und nach Hause gebracht. Oder in verschiedene Einrichtungen, in denen ihnen geholfen wurde. Aber der Teil, der nie wieder auftauchte, machte dem Cop zu schaffen. Er wollte nicht, dass Dominic Clearwater zu einem weiteren Vermisstenzettel auf seinem Schreibtisch wurde. Er wollte nicht, dass einer weiteren Mutter und einem weiteren Vater jahrelange Ungewissheit beschert wurde.

Mit einem weiteren tiefen Seufzer schaltete Lance Carmichael den Computer aus. Es war spät, und der Chief of Police Department Frank Miller warf ihm schon länger auffordernde Blicke zu, endlich Feierabend zu machen. Schließlich zog er seinen Mantel über, rief seinen Kollegen ein müdes „Bis morgen!“ zu und schrieb eine SMS an seine Familie, dass er auf dem Weg sei.

Sein kleiner Wuschelkopf von einer Tochter konnte ganz schön unleidig werden, wenn er nicht rechtzeitig zur gemeinsamen Mahlzeit da war. Carmichael lächelte bei dem Gedanken an ihre Erzählungen – sie war jetzt in einem Alter, in dem sie Jungs interessant fand. Er erinnerte sich bei dem Glitzern in ihren Augen dann an seine eigene Jugend. An seine eigene erste Liebe. Dabei kam es Carmichael vor, als hätte er seiner Tochter gerade erst noch aus ihrem Lieblingsmärchen, Frau Holle, vorgelesen. Und jetzt wollte sie Jungen küssen. Wie schnell doch die Zeit verging.

Der Winter hatte New York fest im Griff. Schnee wirbelte in dichten Flocken zu Boden, und eiskalter Wind biss Carmichael ins Gesicht, als er sich durch die Menge zur Brooklyn Bridge Station schob. Die glitschigen Metallstufen waren mit halbgefrorenem Matsch bedeckt, und die Wände des U-Bahnhofs waren übersät mit Graffitis und wild übereinander geklebten Plakaten. Der unterirdische Gang hallte von gedämpften Durchsagen wider, und die Menschenmassen drängten sich Richtung der Gleise.

Lance Carmichael wollte gerade in die U-Bahn einsteigen, da fiel sein Blick auf eine Frau am Gleis 5. Ihr Haar erinnerte an frisch gefallenen Schnee und flatterte wie Spinnenseide im Wind. Er bildete sich sogar ein, rosige Wangen und frostblaue Augen ausmachen zu können. Die Fremde trug eine Art Umhang, viel sauberer als alle anderen Kleidungsstücke hier. Dieser war so reinweiß, dass Lance kurz die Augen zusammenkneifen musste.

Doch es war der Junge an ihrer Hand, der Carmichael den Atem stocken ließ. Es war eindeutig Dominic Clearwater. Blond, schmal, mit der viel zu dünnen blauen Jacke, die er auf den Überwachungsvideos vergeblich gesucht hatte.

„Scheiße“, murmelte Carmichael und griff nach seinem Handy. Während er sich durch die Menge drängte, sprach er hastig eine Nachricht ein: „Schatz, ich werde es nicht zum Abendessen schaffen. Ich habe den Jungen gesehen. Scheiße, Honey, ich habe ihn wirklich gesehen! Eine komische Frau hat ihn an der Hand gehalten. Er ist am Leben! Dominic Clearwater ist am Leben!“

Es waren die letzten Worte, die seine Familie je von ihm hören würde.

Mit einem Satz sprang er auf den Bahnsteig, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Frau mit Dominic in einen Zug stieg. Es war ein alter orangefarbener Zug, eine Baureihe, die längst außer Dienst gestellt worden war.

Carmichael hechtete los und schrie: „NYPD! Bleiben Sie stehen!“

Dann sprang er durch die sich schließenden Türen.

Kaum war er im Zug, fror er. Die Temperatur fiel augenblicklich, sein Atem kondensierte in schneeweißen Wölkchen. Die Sitze in der Kabine waren besetzt – aber nicht mit Pendlern. Kinder saßen dort, und manche waren an Haltestangen gelehnt oder an die Wände gedrückt. Ihre Gesichter waren leichenblass, die Augen riesig und dunkel, fixiert auf die Frau in ihrer Mitte. Viele von ihnen erkannte Carmichael von Vermisstenanzeigen. Andere waren ihm unbekannt. Ihre Kleidung war zerrissen, und manche hatten Wunden, die jedoch weder bluteten noch die Kinder zu beeinträchtigen schienen. Nur Dominic wirkte vollkommen unverletzt, lediglich seine Lippen waren eiskalt-blau.

Carmichael griff nach seiner Polizeimarke.

„Lassen Sie die Kinder gehen!“, rief er, seine Stimme bebend vor Kälte und Entschlossenheit.

Die Frau drehte sich langsam zu ihm um. Ihre Augen waren frostblau, ihr Blick unerbittlich wie ein Schneesturm. Sie lächelte schwach, und Carmichael spürte eine unheimliche Macht, die von ihr ausging.

„Das hätten Sie nicht tun sollen, Detective Carmichael“, sagte sie leise. „Dies wird Ihre letzte Reise sein.“

Bevor Carmichael reagieren konnte, setzte sich der Zug ruckartig in Bewegung. Die Lichter flackerten, und die Umgebung außerhalb der Fenster verschwamm zu einem wirbelnden Grau. Der Detective spürte, wie die Kälte in seine Glieder kroch, wie seine Finger taub wurden, seine Bewegungen schwerfälliger. Die Kinder starrten weiterhin reglos die Frau an, als gäbe es in ihrer Welt nichts außer dieser geheimnisvollen Wintermutter.

Carmichael wollte etwas sagen, doch seine Kehle schien wie eingefroren. Die Frau trat auf ihn zu, ihr Umhang bewegte sich, wie von einem unsichtbaren Wind erfasst.

„Dominic ist nicht mehr dein Problem, Detective“, flüsterte sie. „Keines dieser Kinder ist es. Sie gehören mir.“

Der letzte Gedanke, der Carmichael durch den Kopf schoss, war an seine Tochter – ihr fröhliches Lachen, ihre verträumten Geschichten, ihre großen Pläne. Dann wurde alles schwarz.



*



Tief unter der Metropole New York City, in der verlassenen U-Bahn-Station City Hall schälte sich fünfzehn Jahre nach Verschwinden von Detective Lance Carmichael in der Silvesternacht eine Gestalt aus dem allgegenwärtigen Nebel.

Die Luft hier unten war kühl und feucht. Durch trübe Oberlichter fiel diffuses Licht, das die düstere Atmosphäre nicht lindern konnte. Schwacher Sonnenschein malte nur noch tiefere Schatten hinter hoch aufragende Säulen. Selbst die Kronleuchter, die mit Spinnweben bedeckt zwischen den Kuppeldecken flackerten, vermochten nicht, die unwirkliche Gestalt zu berühren.

Sie erstand aus grauen Nebelfingern und war zunächst nicht mehr als eine unförmige Masse aus Nichts. Erst, als die Gestalt den Bahnsteig über eine flache Treppe erreichte, wurden Umrisse erkennbar. Langes, schneeweißes Haar flatterte in einer unspürbaren Brise, während stechend blaue Augen den leeren, unbeleuchteten Tunnel zu einer Seite des Bahnsteigs hinunterblickten.

Der Nebel streckte sich und wurde zu einer Frauengestalt. Sie war groß und hager, hatte rosige Wangen und trug einen dicken, warmen Umhang. Ihre Schritte hallten in der U-Bahn-Station, als würden sie von sehr, sehr weit her kommen.

Seit dem Jahr 1945, als die U-Bahn-Station offiziell geschlossen wurde, hatte diesen Bahnsteig kein menschliches Wesen mehr betreten.

Plötzlich flammten Lichter im eben noch dunklen Tunnel auf. Ein Dröhnen, wie von fernen Nebelhörnern ertönte. Der Boden begann, zu vibrieren. Die Frauengestalt machte einen Schritt auf die verblasste Haltelinie zu.

Das Dröhnen und Rattern schwoll zu einer atemberaubenden Kakofonie an. Ein Zug in verwaschenem Orange rauschte heran. Seine Scheinwerfer erfassten die geisterhafte Gestalt am Gleis und durchdrangen sie, ohne auf Widerstand zu stoßen. Kein Schatten verdunkelte die grauen Steinplatten hinter der Wintermutter.

Laut quietschend griffen die Bremsen, und mit funkensprühenden Rädern kam die U-Bahn bei der Frau zum Stehen. Die Türen öffneten sich zischend, und als die Erscheinung den Wagen betrat, zog Frost in eiskalten Kristallblumen hinter ihr her.

Es war an der Zeit für Frau Holle, in die Welt der Lebenden zurückzukehren.



*



Zur gleichen Zeit dachte im New York Police Department niemand mehr an Detective Lance Carmichael, schon gar nicht Sonderermittler John Amber, der gerade in einer Erstausgabe von Kinder- und Hausmärchen blätterte. Seine Lippen bewegten sich beim Lesen, denn die Rechtschreibung aus dem Jahr 1812 unterschied sich doch erheblich von der Schreibweise der heutigen Zeit. Allein schon der Untertitel des Buchs lautete „Erster Theil“, und das kleine s in „Hausmärchen“ ähnelte mehr einem kleinen f. Dafür enthielt das Buch mit den 86 Erzählungen der Gebrüder Grimm wirklich wunderschöne Illustrationen.

Immerhin lautete eine bekannte Volksweisheit „Kenne deinen Feind“. Und in jedem Märchen steckte auch ein Körnchen Wahrheit. Wenn auch nicht ganz so, wie sich die allgemeine Bevölkerung das vorstellen mochte.

„Was liest du da?“, fragte Lisa Coleman, seine Kollegin im Sonderdezernat „Zwischenwelt“. Sie waren nun schon seit einiger Zeit ein Team – etwas, das sich John Amber nie hätte träumen lassen, als er sie zum ersten Mal getroffen hatte. Da war ihm die deutlich jüngere Pathologin irgendwie steif vorgekommen. Unerfahren. Wieso sein Chef Frank Miller sie ihm vorgesetzt hatte, wusste er nicht. Aber inzwischen war Amber dankbar für die junge Venezolanerin, die in Quantico die Ausbildung zur FBI-Agentin durchlaufen hatte.

„Märchen“, erwiderte er und schloss das alte Büchlein vorsichtig. Das Cover war noch schwarz-weiß und mit einem Kranz aus Blumen gestochen. Er konnte es nur mit Stoffhandschuhen berühren, weil es bereits auseinanderzufallen drohte.

„Die originalen Fassungen, nicht das Zeug, das Disney heute produziert. Da wird nicht viel gesungen…“ Amber tippte sacht auf den Einband. „Sondern viel gestorben.“

„Du meinst, so wie sich Frozen von Die Schneekönigin unterscheidet“, stellte Lisa Coleman fest.

John Amber lachte laut auf.

„Wenn die Schneekönigin eine Schwester gehabt hätte, wäre es dem Jungen mit dem Eissplitter im Herzen vermutlich noch schlechter ergangen“, sagte er.

„Und das liest du zum Spaß?“, fragte Lisa Coleman zweifelnd.

John schüttelte den Kopf.

„Nein, eigentlich nicht. Viele der beschriebenen Monster und Wesen hat es so oder so ähnlich wirklich gegeben.“

Die Sonderermittlerin an seiner Seite schüttelte sich.

„Danke, mir hat die Begegnung mit den Geistern von Grandma Mambo vollkommen gereicht.“ Die Voodoo-Priesterin mochte zwar eine alte Freundin von John Amber sein, aber ihre Beziehungen zum Geisterreich waren nicht immer leicht zu verarbeiten. Inzwischen arbeitete die ältere Haitianerin als Beraterin für das Sonderdezernat „Zwischenwelt“, aber früher hatte sie in ihrem kleinen Laden in Brooklyn regelmäßig Touristen das Geld aus den Taschen gezogen. Und so sehr John seine alte Freundin Grandma Mambo auch schätzte – ihre Fähigkeit, andere Menschen mit ins Reich der Geister zu nehmen, war nichts für schwache Nerven.

„Lass sie das bloß nicht hören“, lachte John Amber auf. „Und Grandma Mambos Geister sind ja die Loa. Diese Schutzgeister sind nicht böse. Nur ein wenig… anders.“

„Dann ist es ja gut, dass ihr vorbereitet seid“, ertönte aus der Tür Frank Millers Stimme. Der Chief of Police Department und Leiter des Sonderdezernats „Zwischenwelt“, das sich mit allerlei übernatürlichen Begebenheiten beschäftigte, lehnte im Rahmen.

„Hast du uns deswegen herbestellt, statt mit vollgeschlagenem Bauch auf dem Sofa zu liegen?“, fragte John. Zwischen den Jahren war die Polizei gut beschäftigt. Viele Betrunkene, viele Menschen, die glaubten, dass das Verbrechen zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag am 6. Januar nicht bekämpft wurde, hielten die Cops auf Trab. Aber die betrafen das Sonderdezernat „Zwischenwelt“ nicht, solange die Menschen nicht übernatürlichen Wesen zum Opfer fielen.

„Hat es der große böse Wolf auf die unschuldigen Seelen von New York abgesehen?“, wollte er wissen.

„Nicht ganz“, erwiderte Frank Miller mit einem leichten Kopfschütteln. Er hielt einen Ordner und eine rote Keksdose in der Hand. „Aber vor einer halben Stunde hat uns ein besorgniserregender Anruf erreicht.“

Inzwischen verfügte das Sonderdezernat über eine interne künstliche Intelligenz, die Anrufe umleitete, wenn bestimmte Schlüsselwörter fielen. Ein solcher Call musste Frank erreicht haben, während er zu Hause bei seiner Frau Ruth die Feiertage genossen hatte. Da das Sonderdezernat höchster Geheimhaltung unterlag, musste der Chief of Police Department dann seine Freizeit unterbrechen, um John Amber und Lisa Coleman zu briefen. Und so stand der Mann mit den schlohweißen, langsam einer Glatze weichenden Haaren nun hier.

„Ruth hat mir Cookies für euch mitgegeben“, meinte Frank mit einem Lächeln.

„Willst du uns bestechen?“, fragte Amber, stand auf und nahm die Plätzchen an sich. „Falls ja, funktioniert es.“

Frank Millers Frau Ruth war im gesamten Polizeidezernat für ihre Kochkünste bekannt. Wenn Frank Kuchen, Cookies, Muffins oder andere Leckereien mitbrachte, musste man sich beeilen. Das Gebäck war spätestens nach einer Stunde restlos aufgegessen.

Mit einer auffordernden Bewegung gestikulierte John zu Frank.

„Worum geht es?“



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