Der Sukkubus von City Hall
Der Sukkubus Lacrima bannt junge Frauen mit einer magischen Kamera, um sich dann von ihren Tränen zu ernähren. Um ihn zu besiegen, muss John Amber mithilfe der Magie von Grandma Mambo in ein Foto des Monsters reisen.
Draußen rieselten sanft die Schneeflocken vom stahlgrauen Himmel, die Lichter der Straßenlampen spiegelten sich im glitzernden Weiß der Bürgersteige. Auf den Straßen glitten die Yellow Cabs leise durch den Schneematsch. Der Central Park lag still und verschneit, seine Alleen wie mit Puderzucker überzogen – ein Bilderbuchwinter mitten in der Großstadt.
Drinnen, im festlich geschmückten Saal des »The Beekman«, flackerten Kerzen in silbernen Leuchtern. Kränze aus Tannenzweigen, weißen Rosen und Ilex schmückten die Tische, dazwischen funkelten Kristallgläser und Porzellan in warmem Licht. Aus einer Ecke spielte ein Streichquartett leise die ersten Takte von Vivaldis »Winter«, während die Gäste ihre Plätze einnahmen.
Die Braut betrat den Raum in einem schlichten, elfenbeinfarbenen Kleid mit langen Ärmeln aus Spitze. Ein hauchzarter Schleier umrahmte ihr Gesicht. In den Händen trug sie einen Strauß aus Amaryllis und dunklen Anemonen.
Stimmengewirr erhob sich, Gläser klirrten, Lachen erfüllte den Raum – und aus dem Fenster heraus konnte man die Skyline von Manhattan sehen.
Braut und Bräutigam begannen ihren ersten Tanz, umgeben von ihren von Freude erfüllten Gästen.
Die Trauung von Adeline Miller und Frederic Brown hatte schon in der City Hall stattgefunden. Das Brautpaar hatte sich danach in das Beekman, wo die Hochzeitsfeier stattfinden sollte, zurückgezogen. Das Hotel war nur fünf Gehminuten von der City Hall entfernt, das frischgetraute Ehepaar war zu Fuß gegangen.
Zu den Umstehenden, die das tanzende Brautpaar bei ihrem Tanz anfeuerten, gehörte auch Antonio de Silva, der Leiter der schnellen Einsatztruppe der Geheimabteilung »Zwischenwelt« des NYPD. Sie kannten sich seit der Highschool, obwohl sie nicht im selben Jahrgang gewesen waren. Damals war Antonio Frederic einmal zur Hilfe gekommen, als der mit drei anderen Schülern wegen einer Bagatelle ernsthaften Ärger bekommen hatte. Seit dem Tag war er mit Frederic Brown befreundet. Für de Silva war es ein Leichtes gewesen, die jungen Männer in ihre Schranken zu weisen, da er älter und ihnen körperlich überlegen gewesen war. Der Kontakt der beiden Männer hielt über ihre Schulzeit hinaus und de Silva gewann später auch das Vertrauen von Adeline Brown.
Frederic hatte, was die Hochzeit betraf, seiner zukünftigen Frau alles bieten wollen, und somit checkten sie im Beekmans ein, die Hochzeitssuite wurde gebucht und der große Ballsaal gemietet. Antonio wollte nicht wissen, was das seinen Freund kosten würde. Doch soweit de Silva wusste, lief die Immobilienfirma seines Freundes ausgezeichnet, er brauchte sich um seine Finanzen keine Sorgen zu machen. Man erachtete ihn mit Sicherheit überall als kreditwürdig. Außerdem würden sich die Eltern des Brautpaares sicher an den Kosten der Feier beteiligen.
Antonio erinnerte sich noch deutlich daran, als ihm sein Freund das erste Mal von Adeline erzählte. Er war vollkommen hin und weg von der Frau, wie er das nannte, die er eines Abends in einem Diner kennengelernt hatte. Frederic hatte für einen Hamburger, den besten der Stadt, wie es hieß, angestanden, und Adeline stand direkt hinter ihm. Die Warteschlange stand eng beisammen, es gab Gedränge, und Frederic war Adeline auf den Fuß getreten. Mit einem Aufschrei stieß sie den Übeltäter zurück. Er drehte sich herum und sah sie an… … da war es um sie beide geschehen gewesen. Tja, und heute hatten sie ihren großen Tag.
Der Klingelton seines Handys riss de Silva aus seinen Gedanken. Er nahm es ans Ohr, ein Polizeibeamter des NYPD meldete sich und sagte: »Hallo Antonio, es tut mir leid, dass ich dich stören muss, doch wir haben einen Fall. Direkt vor der City Hall ist eine weibliche Leiche gefunden worden. Da du Bereitschaft hast, habe ich dich angerufen.«
De Silva fluchte. Jetzt war genau das eingetreten, was er befürchtet hatte. Dass er während der Feier seines Freundes abberufen werden würde. Er hatte im Vorfeld zwar versucht, ob es eine Möglichkeit gab, mit einem Kollegen den Dienst zu tauschen, doch das klappte nicht. Was ihn am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass er selbst daran schuld war. Er hatte sich um die Dienstvertretung viel zu spät gekümmert. Hätte er sich zeitig genug bemüht, hätte das sicher funktioniert.
Er versuchte, Frederic auf sich aufmerksam zu machen. Als ihre Blicke sich trafen, deutete er ihm an, dass er das Fest verlassen musste. Er wusste, dass sein Freund Verständnis dafür haben würde. Jedem von de Silvas Freunden war bewusst, dass seine Polizeiarbeit über allem anderen stand.
De Silva ließ sich seinen Wagen von einem der Hotelangestellten bringen, obwohl es zu Fuß zur City Hall nicht weit war. Er würde den Wagen sicher nach der Begutachtung der Leiche benötigen, um zur Dienststelle zu fahren und die Ermittlungen in Gang zu setzen.
*
Die Leiche lag vor den Stufen des Eingangsportals der City Hall. Die Techniker der Forensik waren am Werk, die Umgebung war abgesperrt. Einige Polizeikräfte hielten neugierige Passanten davon ab, noch näher an den Tatort zu kommen, als sie es schon waren.
Der Körper der Toten war verkrümmt, es sah aus, als sei die Tote unter starken Schmerzen gestorben. Als de Silva die Tote näher in Augenschein nahm, schreckte er zurück. Er kannte die Tote. Es war Emma Dawson. Emma, die für das Zwischenwelt-Team schon länger als Informantin tätig war. Das allein machte diesen Tatort zu etwas Besonderem. Und damit stand für Antonio fest, dass Emma Dawson von Linda Coleman, der Pathologin und ausgebildeten FBI-Agentin, die ebenfalls zur Abteilung Zwischenwelt des NYPD gehörte, untersucht werden musste.
Emma Dawson hatte der Abteilung bei einigen Verbrechen, die im Zusammenhang mit verfluchten Objekten standen, sehr helfen können.
De Silva erinnerte sich an einige der Fälle. Da war diese antike Puppe gewesen, die Menschen verfluchte und ihnen Unheil brachte, die Taschenuhr, die die Zeit umdrehte und jemandem den Tod brachte. Und das zerbrochene Medaillon, das einst einem Magier gehörte und dem Besitzer besondere Kräfte verlieh.
War Emma Dawson einem verfluchten oder ungewöhnlichen Objekt auf der Spur gewesen und hatte deshalb sterben müssen? Das bedurfte unbedingt der Klärung.
Er beugte sich über die Leiche, um sie näher zu begutachten. Verletzungen waren an der Toten nicht festzustellen, es war kein Blut zu sehen. Das Einzige, was ihm auffiel, waren gerötete und geplatzte Äderchen rund um den Augapfel.
Antonio zückte sein Smartphone. Er würde Lisa Coleman anrufen und sie bitten, die Leiche von Emma Dawson zu untersuchen.
»Hallo Lisa«, sagte er, als er die Stimme der Pathologin am Earpiece seines Smartphones hörte. »Ich möchte eine Leiche in die Pathologie am Laconia Ave schicken. Kannst du dorthin kommen und eine Untersuchung der Leiche vornehmen? Ich denke, es geht da um eine Sache, die unser Zwischenwelt-Team betrifft. Kannst du dich an Emma Dawson erinnern, die uns die vielfältigen Informationen über die Fälle mit den verfluchten Objekten geliefert hat? Sie liegt hier vor mir und ist tot. Liegt vor der City Hall. Ich kann auf den ersten Blick nicht erkennen, woransie gestorben ist. Du müsstest dir das wirklich ansehen.«
De Silva hörte Lisas angenehme Altstimme sagen: »Emma Dawson? Natürlich erinnere ich mich an sie. Ich habe erst vor kurzer Zeit ihre Hochzeitsanzeige in der New York Times gelesen. Genau, sie hat vor zwei Wochen geheiratet. Oh Gott, und nun ist sie tot. Wie tragisch. Hör zu, Antonio. Ich fahre jetzt gleich los, um die Untersuchung zu starten. Du kannst also Emmas Leiche nach Brooklyn in die Pathologie bringen lassen. Ich nehme die Sache gleich in Angriff. Ist sowieso nicht das erste Mal, dass ich eine Nachtschicht einlegen muss.« Ihr Lachen klang, wohl anlässlich der Situation, sehr verhalten.
*
Die Obduktion der Leiche von Emma Dawson brachte Lisa zum Staunen. Sie fand kristalline Spuren rund um die Augen sowie gerötete und geplatzte Äderchen um den Augapfel. Die Iriden waren völlig verblasst. Der Tod von Emma war durch Dehydrierung verursacht worden. Die Frau hatte sich buchstäblich totgeweint. Ein Umstand, der aber biologisch unmöglich war. Der Tod durch Dehydrierung musste andere Ursachen haben. Jedenfalls war es ein Tod, der in den Aufgabenbereich der Abteilung Zwischenwelt des NYPD fiel.
Am nächsten Morgen, bei der Besprechung des Zwischenwelt-Teams, stellte Lisa die Tatsachen dem gesamten Team dar.
De Silva, der, wie immer, der Besprechung beiwohnte, sagte: »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Emma Dawson tot ist. Und dann hat sie erst vor zwei Wochen geheiratet, wie Lisa in der Zeitung gelesen hat. Und jetzt soll sie sich totgeweint haben? Ich habe so etwas noch nie gehört. Was ist da nur passiert?«
Frank Miller, der Chief of Department des NYPD erhob seine Stimme: »Tja, das möchten wir wohl alle gern wissen. Ich habe auch keine Vorstellung, was da geschehen sein könnte. Vielleicht kann uns Grandma Mambo weiterhelfen? Gibt es irgendwelche Dämonen, die mit Tränen beziehungsweise Weinen zu tun haben?«
Die haitianische Voodoo-Priesterin, die Lisa Coleman in das Zwischenwelt-Team geholt hatte, hob die Brauen und sagte: »Geister oder Dämonen mit einem direkten Bezug zu Tränen gibt es nicht. Es gibt aber den Alp oder Nachtmahr. Diese dämonischen Wesen legen sich nachts auf die Brust der Schlafenden, um ihnen Energie zu entziehen. Sie nähren sich von Angst. Dann gibt es die Lamien, Mormo oder Empusa. Es sind weibliche Dämoninnen, die sich als schöne Frauen zeigen und junge Männer verführen.
Sie töten oder »leeren« ihre Opfer nach dem sexuellen oder emotionalen Akt.
Es geht bei diesen Geistern und Dämonen also immer um den Entzug von Energie, was bei dem Tod von Emma Dawson mit Sicherheit die Hauptrolle gespielt hat. Und mit Sicherheit hat hier ein Geist oder ein Dämon sich die Energie über die Tränen geholt. Aber welches Wesen aus der Zwischenwelt das gewesen sein kann, kann ich nicht sagen.«
Frank Miller nickte resigniert und wandte sich an Chrissy Parker, die Spezialistin für digitale Ermittlungen, die neueste Mitarbeiterin im Team. Sie saß vor ihrem aufgeklappten Laptop und hatte die Diskussion mit großem Interesse verfolgt. »Chrissy, du kannst mal in unserem ‚Dämonenarchiv‘ schauen, ob uns zuvor schon mal ein Geist oder Dämon untergekommen ist, der sich von Tränen ernährt. Doch ich glaube nicht, denn das wüssten wir.«
Die junge Afroamerikanerin schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe soeben rerchiert. Es sind keine diesbezüglichen Daten vorhanden. Tut mir leid.«
Antonio de Silva meldete sich zu Wort: »Ich war hier im Team ja einige Zeit der Kontaktmann von Emma. Ihr Tod trifft mich sehr. Daher möchte ich gern bei der Aufklärung helfen und nicht nur Gewehr bei Fuß mit meinem SWAT-Team dastehen. Ich würde mich gern als Erstes mit dem Ehemann von Emma, Till Dawson, unterhalten. Er wird vielleicht irgendwelche Hinweise haben, die uns bei der Aufklärung helfen können.«
Frank Miller schien kurz zu überlegen, dann sagte er: »Gut Antonio, mach das ruhig. Aber nimm John mit. Zwei Augenpaare sehen und vier Ohren hören mehr. Wenn ihr mit Dawson geredet habt, sehen wir weiter.«
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Vorbestellerartikel: Dieser Artikel erscheint am 29. November 2025
- Artikel-Nr.: SW9783961274574458270
- Artikelnummer SW9783961274574458270
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Autor
Peter Coltrane
- Verlag Novo Books im vss-verlag
- Veröffentlichung 29.11.2025
- Barrierefreiheit
- ISBN 9783961274574
- Verlag Novo Books im vss-verlag