Temutma

Temutma hat lange geschlafen. Er spürte es wie ein klares Hornsignal, wie das dumpfe Schlagen von Kriegstrommeln, wie einen Schrei. Hinter seinen Lidern preschte die letzte Armee seines Traumzyklus auf stattlichen Pferden durch die Tore einer brennenden Stadt, teilte sich um eine hoch aufgetürmte Pyramide aus Schädeln und fiel hinter schwarzen wogenden Wolken unter ihm zurück, während er von seinen Instinkten hoch über die Steppen des Schlafs hinausgehoben wurde. Zum ersten Mal seit ungefähr vierzig Jahren öffneten sich seine Lider, aber noch stand er nicht auf. Er wartete, dass die Worte zurückkehrten. Als in Hong Kong die... alles anzeigen expand_more

Temutma hat lange geschlafen. Er spürte es wie ein klares Hornsignal, wie das dumpfe Schlagen von Kriegstrommeln, wie einen Schrei. Hinter seinen Lidern preschte die letzte Armee seines Traumzyklus auf stattlichen Pferden durch die Tore einer brennenden Stadt, teilte sich um eine hoch aufgetürmte Pyramide aus Schädeln und fiel hinter schwarzen wogenden Wolken unter ihm zurück, während er von seinen Instinkten hoch über die Steppen des Schlafs hinausgehoben wurde. Zum ersten Mal seit ungefähr vierzig Jahren öffneten sich seine Lider, aber noch stand er nicht auf. Er wartete, dass die Worte zurückkehrten.



Als in Hong Kong die berühmt-berüchtigte Walled City auf der Halbinsel Kowloon abgerissen werden soll, fühlen sich nicht nur viele der rund fünfzigtausend Bewohner gestört – städtische Kanalarbeiter stoßen auf ein weiteres Lebewesen, dem sie lieber nie begegnet wären …



Kwong Liu–So fühlte sich ungeschützt. Ihm war es egal, dass sein strapazierfähiger Overall sicher in kniehohen Gummistiefeln steckte, seine Lederhandschuhe anderthalb Zentimeter dick gepolstert waren und die Gazemaske ihr Bestes tat, die faulige Luft erträglicher zu machen. Bei solchen Gelegenheiten wünschte er sich, die Stadtwerke würden etwas diesen altmodischen Tauchanzügen Vergleichbares zur Verfügung stellen, mit einer schönen großen Metallkugel als Helm, der den Gestank fernhielt, und am liebsten auch noch mit einer zusätzlichen Panzerung, damit sich die Dunkelheit hinter seinem Rücken leichter ignorieren ließ.

Er atmete durch den Mund, meinte, den Gestank buchstäblich schmecken zu können, und fluchte hinter seiner Gesichtsmaske. Hier unten war’s schlimmer als in den Abwasserkanälen.

Wenn er es sich recht überlegte, war’s sogar noch schlimmer als der letzte Job, den Mr. Chu ihm gegeben hatte, als er aufspüren musste, was einen abgedeckten Entwässerungsgraben in Mong Kok verstopfte. Das Hindernis stellte sich als Hundekadaver in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung heraus, der sich im Abflussrohr verkeilt hatte, wodurch sich dahinter das Wasser aufstaute und die Gasse in einen stinkenden Morast mit einer breiten Palette giftiger Industrieabfälle verwandelte. Ausgesprochen ekelhaft und ein absolut unvergesslicher Geruch, aber es dauerte nur fünf Minuten, den Hundekadaver in Einzelteilen herauszubekommen, während der aktuelle Job hier ihn locker mehrere Wochen in diesem Stinkloch festhalten konnte.

Kwong schnaubte verächtlich. Sechs Tage, so lautete die Schätzung. Sechs Tage. Welcher blöde Schreibtischhengst auch immer für die Arbeitspläne verantwortlich zeichnete, er war offensichtlich noch nie in – oder besser unter – dem dreidimensionalen Labyrinth gewesen, das als Kowloon Walled City oder Ummauerte Stadt bekannt war. Und egal wie lange es am Ende wirklich dauerte, Kwong konnte sich darauf verlassen, dass er dank Mr. Chu bis zu den Achseln in der denkbar miesesten aller möglichen Aufgaben steckte. Wieder zog er die Möglichkeit in Erwägung, dass sein direkter Vorgesetzter ihn auf dem Kieker hatte. Die Anhaltspunkte dafür schienen deprimierend eindeutig.

Trotz Maske war der Gestank bestialisch und schlug den letztwöchigen Cocktail aus verfaulendem Hundefleisch und unverdünntem Industriemüll auf Kwongs persönlicher Gestankhitparade noch um Längen. Er verzog das Gesicht hinter seiner Baumwollmaske, richtete den Strahl der Taschenlampe nach oben und ließ ihn über die feucht glänzenden Steinwände gleiten.

Wie viel tiefer konnte dieser verfluchte Keller denn noch gehen? Er befand sich bereits zwei Ebenen unter dem offiziell untersten Kellergeschoss mit Wänden aus sauber gearbeitetem Backsteinmauerwerk, und es störte ihn, dass die Wände hier unten stattdessen wie in einer Höhle aus grob behauenem Fels bestanden. Zögernd ging er weiter und ließ den Lichtkegel von einer Seite zur anderen schnellen.

Es war gewaltig, richtig gewaltig. Er blieb stehen und schwenkte die Taschenlampe langsam einmal im Kreis. Er staunte, wie weit zurück die Treppe bereits lag, während sich die dunkle Kammer vor ihm in eine pechschwarze und stinkende Unendlichkeit zu erstrecken schien. Die Decke wurde von offenbar aus dem rohen Fels zu alptraumhaften Gestalten geschlagenen Säulen getragen, die beinahe menschlich wirkten, bis er den Lichtstrahl direkt auf sie richtete, die auf ihren gekrümmten Rücken und missgebildeten Schultern das auf ihnen lastende Gewicht zu tragen und nur darauf zu warten schienen, sich wieder zu bewegen, sobald er sie aus dem paralysierenden Strahl seiner Taschenlampe befreite.

Er zwang sich weiterzugehen, ließ die Taschenlampe vor und zurück pendeln, blieb erneut stehen, bewegte den Lichtstrahl langsam zu etwas zurück, das er fast übersehen hätte. Ja, da war’s, knapp fünf Meter vor ihm und ein wenig zur Seite: ein Spalt im Boden, wie der Rand einer Grube oder – er stöhnte – womöglich das Kopfende einer weiteren Treppe, die sich noch tiefer in diesen infernalischen Steinhaufen grub. Er ging ein paar Schritte, bis er sehen konnte, dass es nur eine Grube war, ein Tümpel der Finsternis mit schartigen Kanten, der alles Licht verschluckte und nichts zurückgab.

Das Geräusch und der neuerlich intensivierte Geruch erreichten ihn fast gleichzeitig: ein Geräusch wie eine zaghafte Bewegung, gedämpft und schwerfällig, gerade so, als mühte sich etwas kraftlos unter einem feuchten Gewicht ab; der Geruch war mit Abstand die unübertroffene Nummer eins auf Kwongs persönlicher Gestankhitparade und intensiv genug, um beinahe eine eigene Substanz zu besitzen, die sich wie drahtige schwarze Finger durch die Poren seiner Maske bohrte, ein so übler und erstickender Geruch, dass Kwong der bisherige Gestank vergleichsweise wie Weihrauch und Kirschblüten vorkam. Er würgte und sank auf die Knie, behielt dabei instinktiv die Taschenlampe fest umklammert – doch dann kam wieder das Geräusch, lauter diesmal und gar nicht mehr so kraftlos, zusätzlich durchdrungen von einer gewissen Entschlossenheit, die an schierer Bösartigkeit durchaus dem Geruch in Kwongs Nase gleichkam.

Es kam aus der Grube.

Kwong war bereits halb die erste Treppe hinauf, bevor er überhaupt begriff, dass er sich bewegte. Diese Erkenntnis bremste ihn allerdings nicht – fieberhaft stolpernd nahm er die restlichen Stufen, stürmte durch den oberen, aus dem Fels gehauenen Keller und kämpfte sich gerade auf die Ebene hinauf, wo das Mauerwerk begann, als er Hals über Kopf gegen einen dunklen, unförmigen Gegenstand krachte, der sofort aufjaulte, auf ihn eindrosch und ihn der Länge nach seitlich zu Boden schleuderte.

»Kwong, du verfluchter Idiot«, dröhnte Mr. Chus Stimme aus der Dunkelheit, »willst du mich umbringen, oder was?«

* * *

Bei dem Geräusch fliehender Schritte rührte er sich: Das Tempo interessierte ihn, weil es Angst erkennen ließ, und Angst war ein Wort, an das er sich schnell wieder erinnerte. Angst: ihr intensiver Geschmack, die Hitze, die sie in den Herzen der niederen Rasse entfachte, die dichte Konsistenz, die sie ihrem Blut verlieh. Angst war gut.

Er bewegte sich erneut, erinnerte sich und wischte die leeren Hülsen aus vierzig Jahren gelegentlicher Nahrung von sich, manche klein und pelzig, andere größer und unbehaart, aber alle schon lange ohne jeden Wert für ihn.

Wo war er? Was war er? Irgendwo in seinem Verstand verborgen lagen andere Worte, Worte, mit deren Hilfe er sich definieren konnte, aber vorläufig waren sie nur Schemen und noch nicht der Mühe wert, sie weiter zu verfolgen. Er ließ die Geister in einem chaotischen Bilderwirbel davontanzen.

Das Erwachen jedoch war eine vertraute Handlung, etwas, von dem er spürte, es schon viele Male zuvor getan zu haben. Er untersuchte seine Erinnerungsbilder des Erwachens, sah sich selbst geborgen tief im Schoß der Erde liegen, zugedeckt von Knochen und immer wieder aus seinen Blutträumen gerissen von neuen Barbarenkönigen, denen man folgen, neuen Schlachtfeldern, die abgegrast werden konnten. Ja, dieses Aufwachen war nichts Neues für ihn. Doch nach und nach nahmen andere Bilder Gestalt an – so viele und so verschieden, dass er von der Last und Fülle seiner Erinnerungen verwirrt war. Langsam setzte er sich auf und empfand beinahe so etwas wie Schmerz, als sich die lange nicht benutzte Muskulatur zu erinnern begann, wie man sich streckte – wessen Armee war er zuletzt gefolgt? Und spielte es irgendeine Rolle? Die letzten paar tausend Jahre hatten ihn gelehrt, dass sich ein Blutbad kaum vom anderen unterschied.

Als er sich aufrichtete, wogte unter ihm das Bett bestehend aus den Knochen anderer Lebewesen. Als er sich in der Dunkelheit zu voller Größe streckte, flatterten die Fetzen seiner Uniform zusammen mit den Geistern anderer Gewänder um ihn – wallende Umhänge und federgeschmückte Helme, Panzerhandschuhe mit Eisendornen, Kettenhemden, verwobene Lederriemen und Silberfäden, blaue und ockerfarbene Pigmentschichten.

Für einen Moment erinnerte er sich fast an sich.

Ein Jammer, dass er diesem ersten warmen Ding zu entkommen erlaubt hatte, doch schon bald würde sich etwas anderes ergeben. So war es immer.



Rebecca Bradley wurde 1952 im kanadischen Vancouver geboren, und schon früh zeigte sich ihre große Leidenschaft für das Lesen wie das Schreiben. Sie studierte Archäologie, promovierte in Cambridge. Neben Forschungsprojekten in Ägypten und dem Sudan verbrachte sie eine Zeitlang als Hausfrau in Nordirland, arbeitete in Kuwait als Redakteurin für Publikationen des Kuwait Institute for Scientific Research, während ihr Mann an der Universität lehrte, war als Verlegerin in Hongkong tätig und unterrichtete Archäologie und kreatives Schreiben in Calgary und an der Berliner Humboldt–Universität. Wo sie auch lebte, überall war sie neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit stets auch schriftstellerisch aktiv.



Stewart Sloan wurde als Kind schottisch-irischer Eltern in England geboren und und hat bis auf anderthalb Jahre in Schottland sein ganzes Leben in Hongkong verbracht. Schon immer vom Horror-Genre fasziniert, begann Stewart bereits in der Schule, Gespenstergeschichten zu schreiben, womit er sich bei seinen Lehrern nicht wirklich beliebt machte.

Heute lebt Stewart mit seiner Frau Airyn und zwei Katzen in der Nähe von Tai Po, Hongkong. Er unterrichtet an Grund- und weiterführenden Schulen kreatives Schreiben und Englisch und arbeitet mit Kindern aus schwierigen Verhältnissen.

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