Alwin auf der Landstraße

Das Altmarkstädtchen Gösemark Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Der zwölfjährige Tierarztsohn Alwin Weingart fühlt sich eingesperrt, weil er, statt in den Sommerferien zu den Großeltern im Harz fahren zu dürfen, von dem gestrengen Vater den Auftrag erhielt, die schwachen Rechtschreibleistungen auf dem Zeugnis durch Übungen mit dem Duden zu verbessern. Die Mutter, sonst vermittelnd, weilt auswärts zur Kur. Auch die Freiheit des Freundes Ruschi kann Alwins trübe Stimmung nicht verbessern. Als sich, weil er wenig Erfolg vorweisen konnte, die Hausarreststrafe erhöht, beschließt Alwin, auf eigene Faust... alles anzeigen expand_more

Das Altmarkstädtchen Gösemark Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts.

Der zwölfjährige Tierarztsohn Alwin Weingart fühlt sich eingesperrt, weil er, statt in den Sommerferien zu den Großeltern im Harz fahren zu dürfen, von dem gestrengen Vater den Auftrag erhielt, die schwachen Rechtschreibleistungen auf dem Zeugnis durch Übungen mit dem Duden zu verbessern. Die Mutter, sonst vermittelnd, weilt auswärts zur Kur. Auch die Freiheit des Freundes Ruschi kann Alwins trübe Stimmung nicht verbessern. Als sich, weil er wenig Erfolg vorweisen konnte, die Hausarreststrafe erhöht, beschließt Alwin, auf eigene Faust aufzubrechen. Mit dem Fahrrad begibt er sich auf die zweihundert Kilometer lange Strecke in den Harz. Doch da wird dringend der Tierarzt gebraucht. Alwin, um nicht erwischt zu werden, schickt den Anfragenden bewusst in die verkehrte Richtung. Schuldbewusst setzt er seine Flucht fort.

Nun beginnt eine Tour, die dem Jungen viel Kraft und auch Entscheidungen abverlangt, die ihn hilfsbereite und auch bösartige Menschen kennen lernen lässt, immer mit dem unguten Gefühl, der Vater könne ihn zurückholen. Tatsächlich macht sich dieser, gemeinsam mit dem Deutschlehrer Alwins, an die Verfolgung. Doch Alwin, schon vor Magdeburg, trifft den Kraftfahrer Stade und dessen Tochter Gabi, die helfen ihm weiter. Als er anderntags seinem Ziel nahe ist, weiß er, mit zweihundert Straßenkilometern in den Beinen: Jeder braucht hin und wieder seinen Berg - er, und der Vater auch. Die Landstraße hat ihm gezeigt, wie er seine Stärken finden kann.



"Nu sachte, sachte! Wer wird sich denn gleich aufregen?", beschwichtigt ihn der Dicke. "Spaß verstehn ist wohl auch nicht deine starke Seite? Wer hat denn gesagt, dass wir ihn nicht machen, deinen Wagen, he? Bis morgen hast du ihn dicke fertig, mein Wort drauf! Weil du in Urlaub willst! Wir sind keine Unmenschen. - Was stehst du eigentlich hier rum?", fährt er Alwin unfreundlich an.

"Wenn ich mich darauf verlasse, bin ich verlassen. Ich fahre mit dem Zug, basta. Und Holz gibt's nicht. Schönen Feierabend!"

Alwin hatte mit halboffenem Munde daneben gestanden und sich nicht zu melden gewagt, nun, angesprochen, stottert er verwirrt: "Ich, ich hab eine Panne. Ob Sie mir vielleicht mal helfen könnten, bitte?" Es ist nicht viel Hoffnung in ihm, nach dem, was er da zu hören bekommen hat.

"Nu warte doch, ich bring ihn dir heute Abend noch rum!", ruft der Dicke dem anderen hinterher.

"Und wo steht dein Tschaika?", forscht der jüngste spottlustig.

"Heute Abend, auf Ehrenwort! Ich leg mich eigenhändig drunter. Los, Fredi, fahr ihn über die Grube!"

Alwin zeigt mit unbestimmter Handbewegung zum Zaun. "Da steht mein Rad, ich hab..."

"Die Karrete dort? Bist du verkehrt am Platze, Kleiner. Wir reparieren normalerweise nur Autos, wenn du das schon lesen kannst. Den F 8 hier, dies Jammerding, machen wir ausnahmsweise aus persönlicher Freundschaft", unterbricht ihn der Monteur, dann ruft er: "Helle, und sieh nach, was er im Tank hat. Ich muss Sonntag weg!"

Alwin hat sich das gedacht, dass er fortgeschickt werden soll. "Ich muss doch heute noch nach Magdeburg, mindestens", sagt er verzweifelt.

"Ich muss, ich muss! Ich muss heute auch noch nach Hause, fragt auch kein Aas danach, wie ich das schaffe, jeder will nur immer was von einem! Jetzt kommt's also schon so weit, dass uns die Schulgören ihre Jöpel aufhalsen wollen. Mensch, lass dir erst mal die Nase putzen, troll dich zu Muttern, kschsch, kschsch!"

Er schlenkert ein paar Mal mit der ausgezogenen Schlosserkombination zu Alwin hin, als wolle er Hühner scheuchen.

Alwin steht starr. War er nicht höflich? Hatte er nicht "bitte" gesagt? Muss er sich auch noch zu seinem Unglück beschimpfen lassen?

"Die Pfoten sollen Sie sich abquetschen, Sie olles Ekel!", schreit er aufgebracht und rennt jetzt, was er kann. Er nimmt sein Rad beim Lenker und hastet keuchend davon. Ein Schraubenschlüssel kommt ihm nachgeschwirrt und klirrt gegen die Speichen.

"...dammter Bengel!", zackeriert es hinter ihm her. "Rotzfrech heutzutage!"

Erst an der großen Kurve hält er verpustend inne. Er fasst sich an die Seite, wo er Milzstiche verspürt. Er blickt sich um und ist erleichtert, dass ihn keiner mehr verfolgt, gleichzeitig aber überkommt ihn eine große Traurigkeit. Er beugt sich herunter und fummelt an den Speichen herum. Das schöne Rad!

Er schiebt weiter, hinkend und sehr unglücklich.

Der Ort nimmt und nimmt kein Ende. Alwin stolpert über das Pflaster mit gesenktem Kopf. Er achtet nicht auf die Menschen vor den Häusern, er hat auch nicht mehr den Mut, jemanden um Hilfe zu bitten. Er fühlt sich sehr abgespannt und sehr allein, und er wäre jetzt fast froh, wenn jemand käme und ihn zurückholte. Aber er ist jetzt nicht einmal sicher, ob der Vater überhaupt etwas seinetwegen unternimmt. Vielleicht ist es ihm auch nur recht, dass er ihn los ist?

Unter solchen trübsinnigen Gedanken verlässt Alwin den Ort.



Bernd Wolff:

Geboren 12.9.1939 in Magdeburg als zweites von drei Kindern des Revierförsters Ernst Wolff aus Lödderitz, 1940 Umzug nach Wernigerode, dort aufgewachsen bis zum Abitur 1957.

1957 - 1960 Pädagogikstudium in Erfurt, Fachrichtung Deutsch/Kunsterziehung, erste Kontaktnahme zum Schriftstellerverband in Weimar, Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren Naturlyrik, Veröffentlichungen in "Unterm Brocken" (Heimatzeitschrift des Kreises Wernigerode 1957 - 1963).

1960 erste Lehrerstelle in Werben (Elbe) im Wischewinkel der Altmark, Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren in Magdeburg, Lyrikveröffentlichungen in Anthologien und Presse (NDL, Wochenpost, Volksstimme, Harzkurier)

1963 Lehrerstelle in Benneckenstein im Harz, Heirat

1964 weitere Lyrikveröffentlichungen

1967 Lehrerstelle in Blankenburg (Harz), 1969 Umzug dorthin, wo er immer noch lebt.

1968 Kinderbuch "Manne Forschtrat", Aufnahme in den Schriftstellerverband

1969 Geburt des Sohnes Holger, bis 1987 Arbeit an zehnklassiger polytechnischer Oberschule "Am Thie" (später "Wilhelm Pieck") und seit 1976 an der Erweiterten Oberschule "Am Thie" (Gymnasium)

1976 Geburt der Tochter Heike, Veröffentlichungen weiterer Kinderbücher, musikalischer Jugendstücke, u. a. am Bergtheater Thale, des biographischen Romans "Winterströme - Goethes Harzreise 1777" 1986, Sachbücher Mitglied des von Reimar Gilsenbach initiierten "Brodowiner Kreises" von Umweltautoren

1987 bis 1989 freischaffend, während dieser Zeit von den Mitgliedern frei gewählter Vorsitzender des Bezirksverbandes Magdeburg im DSV (Das Bemühen, trotz staatlicher und gesellschaftlicher Kontrollen das literarische Leben im Bezirk Magdeburg zu befördern, in den Verbandssitzungen das literarisch-kritische Gespräch zu führen, durch eigene Rezensionen und Bürgschaften den Mitgliedern zu helfen, Verdächtigungen von ihnen abzuwenden. In dieser Zeit zweimaliger Umzug des Verbandsbüros. 1990 freiwilliger Rücktritt vom Vorsitz zwecks Neuwahl)

Nach 1989 nach diesbezüglichen mehrfachen Überprüfungen Rückkehr in den Schuldienst: Malschule, dann Gymnasium "Am Thie" Blankenburg; voller Unterricht in der Abiturstufe, Veröffentlichung von Bildbänden regionaler Thematik

2002 Übergang in den Ruhestand nach zweiundvierzig Dienstjahren

2004 Veröffentlichung des Romans "Im Labyrinth der Täler - Goethes zweite Harzreise"

2008 Abschluss der Trilogie über Goethes Brockenfahrten,

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