Wenn es Nacht wird

Joe Cullen #4

Detective Joe Cullen möchte nichts zu tun haben mit dem übertrieben ausgelassenen Theater der großen und kleinen Partys aus Anlass des St. Patrick’s Day – er nimmt sich frei und macht all die tausend Dinge, für die im Alltag kaum Zeit bleibt: die Wohnung aufräumen, in Ruhe einkaufen, ins (Programm-) Kino gehen und alte französische Filme sehen. Leider kommt alles anders, als er aus dem Café des Kinos Zeuge eines brutalen Mordes auf offener Straße wird. Was er zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnt: zeitgleich passiert ein zweiter Mord. Und beides zusammen markiert den Beginn einer Kette von Ereignissen, die vieles ändern werden,... alles anzeigen expand_more

Detective Joe Cullen möchte nichts zu tun haben mit dem übertrieben ausgelassenen Theater der großen und kleinen Partys aus Anlass des St. Patrick’s Day – er nimmt sich frei und macht all die tausend Dinge, für die im Alltag kaum Zeit bleibt: die Wohnung aufräumen, in Ruhe einkaufen, ins (Programm-) Kino gehen und alte französische Filme sehen. Leider kommt alles anders, als er aus dem Café des Kinos Zeuge eines brutalen Mordes auf offener Straße wird. Was er zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnt: zeitgleich passiert ein zweiter Mord. Und beides zusammen markiert den Beginn einer Kette von Ereignissen, die vieles ändern werden, auch für Joe Cullen.



Genau in diesem Augenblick, genau in diesem beschissenen, gottverdammten Augenblick tauchte die Frühlingssonne hinter einer dicken, fetten Wolke auf, und das Sonnenlicht loderte durch die Balkontür herein, verschlang den Balkon, verwandelte den anderen Mann von einem Menschen in eine Silhouette, ein spinnenartiges Etwas, einen Alien, knochenlos, ektoplasmatisch. Das Licht blendete Cullen für einen Moment, und das wusste der andere. Er drehte wirbelte flog peitschte herum, hatte die Hände vor sich gestreckt, zusammengehalten, zielte richtete griff attackierte schoss ballerte feuerte.

Woher die Kanone gekommen war – Cullen hatte nicht den geringsten beschissenen Schimmer. Hatte sie die ganze Zeit über in der Hand des Mannes gelegen oder hatte sie vorn in seinem Gürtel oder hinten in seiner Gesäßtasche gesteckt? Cullen hätte es bemerken müssen. Aber was spielte es schon für eine Rolle, auf lange Sicht gesehen, in einem größeren Rahmen? Der Kerl hatte eine Kanone, er hatte sie von irgendwoher gezogen, er schoss damit, schoss damit auf Cullen, 50 Jahre, nicht einfach nur ein Meilenstein, ein Endpunkt, und das war’s dann, was spielte es schon für eine Rolle?

»Der Anfang ist ganz in Osters bewährter Manier gehalten: Riskanter Quereinstieg, unverständliche Gewalttat sehr blutdürstig, sehr brutal, aber nie voyeuristisch. Der Roman ist gekonnt waghalsig aufgebaut und von der ersten Seite an spannend. Alles ist geschmückt mit schier schnörkellosen Ab- und Ausschweifungen, die, obgleich sie sinnlos sind, den Plot ausmachen. Ich habe das Manuskript mit feministischer Faszination und literarischem Wohlwollen gelesen.« So die Autorin und Dramaturgin Uta-Maria Heim, nachdem sie für Rowohlt das amerikanische Manuskript gelesen hatte.



Für Joe Cullen war es ein völlig normaler, durchschnittlicher St. Patrick’s Day gewesen: Er hatte das eine oder andere in der Wohnung erledigt, war zu einem Treffen der AA gegangen, hatte eine Baseballmütze gekauft, hatte beobachtet, wie ein Schwarzer mit breitem Kreuz einem schmalen Schwarzen mit Goldzahn mitten ins Gesicht geschossen hatte.



Baseballmützen waren schon so lange modern, dass sie fast schon wieder ein alter Hut waren; Mädchen und Frauen, kleine Jungs, erwachsene Jungs, alte Jungs und gute alte Jungs trugen sie drinnen wie draußen, bei Arbeit, Sport und Spiel, zu jeder Jahreszeit. Ein Gletscher, wenn’s um Mode ging, kaufte sich Cullen schließlich im Paragon auch eine, die Reproduktion einer Mütze der St. Louis Cardinals aus den vierziger Jahren: marineblauer Kopf, kirschroter Schirm, kirschroter Knopf und die kirschroten, ineinander verschlungenen Buchstaben S, t und L.



»Gute Wahl«, meinte der Verkäufer. »Sind Sie ein Fan der Cardinals?«



Cullen schüttelte den Kopf. »Mir gefallen die Buchstaben.«



»Ich glaube, die Schriftart heißt Baskerville«, sagte der Verkäufer. »Sie sehen aus wie die Initialen eines mittelalterlichen Manuskripts — The Book of Kells zum Beispiel oder das Très Riches Heures de Jean, Duc de Berry.« Mit zurückweichendem Haar und Bierbauch sah er vielleicht ein wenig pastorenhaft aus.



Cullen lachte. »Sportartikel verkaufen ist für Sie nur ein Job?«



»Ich bin Archäologe mit Spezialgebiet Mesopotamien«, erwiderte der Verkäufer.



»Mesopotamien liegt noch mal wo …?«



Der Verkäufer nickte düster. »Im Irak, ja. Es herrscht heute keine besonders große Nachfrage nach Spezialisten für Bewässerungssysteme im Ur der Zeit der Chaldäer. Die Wiege der Zivilisation, und wir haben das Ding gottverdammt geschaukelt, stimmt’s nicht? … Und was machen Sie so beruflich?«



»Ich bin, äh, Polizeibeamter. Detective.«



»Mordkommission?«



»Gelegentlich.«



»Zögern Sie immer, bevor Sie sagen, was Sie machen? Ich bin, äh, Polizeibeamter. So als wär das gesellschaftlich nicht akzeptabel?«



Cullen zögerte überhaupt nicht, bevor er antwortete: »Wenn ich zögerte, bevor ich sage, was ich mache, würde mich irgend so ein Drecksack ausknipsen.«



Der Verkäufer hob beschwichtigend eine Hand, »Tschuldigung. Sie haben’s echt schwer, ich weiß. Und ich bin nur ein verbitterter alter Akademiker, der Spielsachen verkauft.« Er hielt ihm die Mütze hin. »Wollen Sie die gleich aufsetzen?«



Cullen fühlte sich überhaupt nicht mehr modisch. Zum einen litt er immer noch unter seinem 50. Geburtstag vor drei Monaten, zum anderen war er natürlich (oder übernatürlich) gehemmt, und wieder zum anderen wollte er auch nicht auf dem Grab der Karriere eines verbitterten alten Akademikers tanzen. Also log er: »Die ist für meinen Sohn. Wir haben die gleiche Größe.«



»Dann wollen Sie also eine Tüte.«



»Bitte.«



»Es wird Ihren Sohn vielleicht interessieren: Die Cards haben in den Vierzigern vier Meisterschaftswimpel und dreimal die World Series gewonnen. Zweiundvierzig haben sie die Yanks geschlagen, Dreiundvierzig haben sie gegen sie verloren, Vierundvierzig haben sie die Browns geschlagen — im folgenden Jahr dann gleich noch mal, und 1946 die Red Sox.« Er zuckte mit den Achseln. »Neuere Archäologie — auch eine Art Zeitvertreib.«



»Danke. Das wird ihn bestimmt interessieren. Danke.«



* * *



Der Winter hatte die Hacken in den Boden gestemmt und dachte ja gar nicht daran, die Stadt in absehbarer Zeit zu verlassen, aber um schon mal sein Schlendern für wärmeres Wetter zu üben, bummelte Cullen über den Gemüsemarkt am Union Square, wobei er sich die Paragon-Tüte unter den Arm klemmte, wurde von Knoblauchketten und Rosmarinsträußen, von Krügen mit dunklem Cider und extrem nahrhaften Brotlaiben, von Schnittblumen und Knospen und Kräutern in Töpfen in Versuchung geführt. Am Abend würde er zweifellos in seinem Supermarkt um die Ecke landen, wo er dann schlaffen Salat und versteinerte Tomaten untersuchte, misstrauisch an mutmaßlichen Hühnchen und angeblichem Rindfleisch schnupperte, versuchte, wenigstens eine einzige Konservendose von irgendwas zu finden, die nicht verbeult war, ein Gewürzglas, in dem sich etwas anderes als Minze befand. Doch er war weit weg von zu Hause, sein Viertel lag im tiefsten Queens, und er hatte keine Lust, noch mehr Tüten quer durch die ganze Stadt zu schleppen. Und es war noch nie sein Ding gewesen, sich selbst was Gutes zu tun; für Freunde und Familienangehörige konnte er jederzeit ein Festessen zaubern, sich selbst jedoch servierte er die Kost eines Knackis, der im Loch saß, in der Einzelzelle schmorte.



An der Fahnenstange in der Mitte des Platzes, unter dem Text der Unabhängigkeitserklärung (»When in the course of human events«, las Cullen aus den Augenwinkeln. »We hold these truths … The Present King of Great Britain has refused …He has forbidden …He has dissolved … He has obstructed …«), saßen zwei alte Schwarze links und rechts von einem alten Einkaufswagen und hörten aus einem alten Radio New Jack Swing. Bell Biv DeVoe: Poison. Bei näherem Hinsehen erkannte Cullen, dass es zwei junge Männer waren, viel zu früh und jäh gealtert: Dealer, die – versehentlich? – selbst zu Crackheads geworden waren.



In der Nähe der Fourteenth Street, hinter dem U-Bahnkiosk, griff ein Albino-Dealer, der noch nicht zu seinem eigenen besten Kunden mutiert war, unter den Ärmel seines langen Ledermantels, um ein elektronisches Zwitschern abzustellen: Sein Herr und Meister befahl, zu Hause anzurufen.



»Schön stehenbleiben«, raunte Cullen ins Dealerohr, und der Dealer spürte, nur einen winzigen Augenblick lang, wie er von ganz weit oben auf die Erde krachte. Dann erholte er sich wieder und lachte.



»Scheiße, die Bullen haben keinen Nachwuchs mehr.«



»Wie spät ist es?«



Feindseligkeit ließ die weißen Augen des Dealers hellrot werden. »Zieh hier keine Show ab, Bulle. Was zum Geier interessiert’s dich, wie spät es is?«



Cullen deutete mit dem Daumen auf die Zeckendorf Towers. »Von hier aus konnte man früher die Con Ed-Uhr sehen. Heute nicht mehr. Ist schon eine Schande. Ja, ja, der Fortschritt. Also, wie spät ist es, Dealer? Pisser.«



Der Dealer sah Cullen weiter fest in die Augen, während er den Ärmel hochschob, unter dem ein TNI Motorola-Armbanduhrenpieper zum Vorschein kam.



»Scheiße!«, sagte Cullen und ging weiter. Wenn er nicht im Dienst war, zog er nur selten eine Schau ab, trotzdem versuchte er, alle Ganoven, große wie kleine, immer schön auf den Hinterbeinen zu halten. In dieser Stellung knipsten sie sich manchmal gegenseitig aus, und das war doch auch schon mal was, oder nicht?



Jerry Oster ist 1943 in New Mexico geboren, kommt als Zehnjähriger nach New York, besucht die Highschool, geht später auf die Columbia University, wo er Englische Literatur im Hauptfach studiert. Danach hat er einen Job bei United Press International News Service, dann bei Reuter und schließlich bei den New York Daily News. Ein Journalist, ein Mann wie manche seiner Protagonisten. Jerry Oster war Polizeireporter, hat unzählige Tatorte aufgesucht und über alle möglichen Verbrechen geschrieben.

1980 erscheint mit »Port Wine Stain« sein erster Krimi. Der Durchbruch gelingt 1985 mit dem Roman »Sweet Justice«, der von der Kritik sehr positiv aufgenommen wird. Trotz durchweg guter Besprechungen löst Osters amerikanischer Verlag 1992 seinen Vertrag mit dem Autor. Danach sind weitere Romane dank des großen Engagements seines damaligen deutschen Verlags Rowohlt zumindest auf Deutsch erschienen.

Peter Hetzel, sein Lektor bei Rowohlt, verglich Osters kunstvoll komponierte Gesellschaftspanoramen mit einer Bemerkung, die George Grosz über New York machte: »Alles dörrt, siedet, zischt, grölt, lärmt, trompetet, hupt, pfeift, rötet, schwitzt, kotzt und arbeitet.«

Oster ist ein wahrer Meister darin, seine Plots mit scheinbar sinnlosen Ab– und Ausschweifungen auszuschmücken, die dann in ihrer Summe ein atmosphärisch dichtes und plausibles Gemälde dieses »Kolosses unter den Städten« und der dort lebenden Menschen ergeben.

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