Der gestohlene Selbstmord

Parabeln

Mal ganz ehrlich? Haben Sie schon jemals was von Friedrich Adolph Krummacher gehört? Der lebte laut Wikipedia von 1767-1845 und hatte eine erstaunliche Biografie: Er studierte ab dem Herbst 1784 am damals evangelisch-reformierten Gymnasium Academicum in Lingen Theologie, dann ab 1786 in Halle Theologie und Philosophie. 1788 legte er sein Examen in Tecklenburg ab und wurde 1790 Konrektor am Gymnasium Hammonense in Hamm. Ab 1793 bis 1801 war Krummacher Rektor am Gymnasium Adolfinum Moers. Nach seiner Promotion zum theologischen Doktor 1801 wurde er Professor für reformierte Theologie in Duisburg, seit 1802 mit einem zusätzlichen Lehrauftrag für Eloquenz. Nach dem... alles anzeigen expand_more

Mal ganz ehrlich? Haben Sie schon jemals was von Friedrich Adolph Krummacher gehört? Der lebte laut Wikipedia von 1767-1845 und hatte eine erstaunliche Biografie: Er studierte ab dem Herbst 1784 am damals evangelisch-reformierten Gymnasium Academicum in Lingen Theologie, dann ab 1786 in Halle Theologie und Philosophie. 1788 legte er sein Examen in Tecklenburg ab und wurde 1790 Konrektor am Gymnasium Hammonense in Hamm. Ab 1793 bis 1801 war Krummacher Rektor am Gymnasium Adolfinum Moers. Nach seiner Promotion zum theologischen Doktor 1801 wurde er Professor für reformierte Theologie in Duisburg, seit 1802 mit einem zusätzlichen Lehrauftrag für Eloquenz. Nach dem Niedergang der Duisburger Universität ab 1807 war er als Pfarrer in Kettwig an der Ruhr (heute: Essen), dann ab 1812 als General-Superintendent von Anhalt-Bernburg tätig.

Uns interessiert hier aber noch etwas ganz anderes. Denn ab 1805 veröffentlichte Krummacher seine volkstümlichen Parabeln, die heute fast vergessen, von Goethe seinerzeit jedoch sehr geschätzt wurden. Im Unterschied zur Mathematik etwa versteht man in der Literatur unter Parabeln gleichnishafte Texte wie etwa die berühmte „Ringparabel“ aus Lessings „Nathan der Weise“. Aber nicht an Lessing, sondern an Krummachers Texte knüpft Volker Ebersbach mit seinen Parabeln an, in denen auch von einem Selbstmord die Rede ist, der gestohlen wird. Kann man denn einen Selbstmord überhaupt stehlen? Wohl schon, wie der folgende Text von Volker Ebersbach gleichnishaft beweist:



DER GESTOHLENE SELBSTMORD

Als sie wieder ins dunkle Zimmer kam und leise die Tür hinter sich abschloss, sah sie neben dem irdenen Krug, in dem alles vorbereitet war, einen Zettel liegen. Sie war noch einmal zur Toilette gegangen und hatte sich lange von ihrem Spiegelbild verabschiedet.

Im matt durch Laub und Gardine sickernden Schein der Straßenlampe erkannte sie seine Schrift:

Du hast nicht bemerkt, dass ich in der Ecke saß; das Straßenlicht fällt in die andere. Ich sah dich ein Pulver in den Krug schütten und darin verrühren. Ich ahnte, was es war, ich wollte, als du hinausgegangen warst, eigentlich nur daran schnuppem.

Nun habe aber ich es ausgetrunken.



Der Herr General-Superintendent würde sich wohl darüber freuen. Und im Übrigen ist es hilfreich zu wissen, dass der Autor am 6. September 1942, also vor nunmehr fast 80 Jahren, in Bernburg geboren und dort von 1997 bis 2002 Stadtschreiber war.



DIE DREI AUFRECHTEN FLASCHEN

DER AUSGEZEICHNETE FISCH

DER GESTOHLENE SELBSTMORD

DAS AFRIKANISCHE MÄDCHEN

KÜNSTLER

DER SCHALTER

HOFFNUNG

GEKAUFTES RECHT

DER EWIGE TARTÜFF

WAR NICHT SO GEMEINT

TASSEN FÜR LINKSHÄNDER

EIN ESEL

APORIE

DER WEIßE STIER

ALSO SPRACH MARXATHUSTRA

SIEG

DER GRÖSSTE DENKER ALLER ZEITEN

ENDE DER SCHÖPFUNG

DIE BOTSCHAFT

INSCHRIFTEN

STRAND FÜR EINZELGÄNGER

DIE PARABEL: EIN NACHDENKLICHES GENRE



GEKAUFTES RECHT

Der Parkschein, den ich aus dem Automaten zog, war hauchdünn und leicht wie eine Feder. Die Handbewegung, mit der ich ihn am Armaturenbrett ablegte, hatte etwas zu viel Schwung. Das Papierchen rutschte dicht an der Windschutzscheibe in einen Schlitz der Belüftung. Ich hatte das Recht, mein Auto hier abzustellen, durch Kauf erworben, konnte es aber niemandem zeigen. Es existierte, aber nicht sichtbar für die einzige Person, die es vielleicht binnen zehn Minuten – länger lässt solch eine Dame selten auf sich warten – würde sehen wollen. Ihrem Gehör konnte sich der Parkschein nicht bemerkbar machen. Vielleicht sollte man einen solchen Parkschein aber noch erfinden. Ergreifen würde sie den Parkschein nicht wollen, nur sehen, deutlich sichtbar hinter der Windschutzscheibe. Schon ihn auf den Kopf oder mit der leeren Seite nach oben hinzulegen, annullierte mein gut bezahltes Recht. Denn im ersten Fall konnte die Politesse es als Schikane auffassen. Sie war ja nicht verpflichtet, sich den Hals zu verrenken. Im anderen Fall war der Parkschein so weiß wie irgendein Zettel. – Also hatte ich das Recht, und ich hatte es auch nicht. Mein Recht steckte unsichtbar in einem Schlitz. Der Philosoph nennt so etwas, glaube ich, dialektisch. Mein Recht steckte einfach in einem falschen Schlitz. Die Münze fällt in einen Schlitz, und der Parkschein fährt aus einem Schlitz. Wie komme ich dazu, noch eine Münze zu opfern für ein Recht, das ich schon gekauft habe?

Mit der äußersten Zinke meines Taschenkamms gelang es mir, den Parkschein aus dem Schlitz zu ziehen. Mein Recht war gerettet! Stolz hörte ich zu, wie meine Frau meine Findigkeit lobte. Wir konnten aussteigen. Gleichzeitig öffneten wir die Wagentüren. Ein Wind, nein, es war nur ein Luftzug – ein Luftzug genügte, so dünn war mein Recht – fuhr über das Armaturenbrett und trug den Parkschein hinaus. Er trug ihn, den Fallbewegungen solcher Wirbel folgend, unter das benachbarte Auto, dessen Fahrer seinerseits ordnungsgemäß das Recht auf ein befristetes Abstellen seines Autos durch Kauf erworben hatte. Mein Recht lag nun unter seinem Recht, und zwar weit hinten in einer schlammigen Pfütze, die es nach ihren eigenen Gesetzen festhielt, meiner Hand, von welcher Seite auch immer, unerreichbar. Der Autobesitzer wusste nicht einmal etwas davon, dass sein Recht auf meinem Recht stand, und er hätte auch nichts davon gehabt und hätte auch nichts für mein Recht unternommen, wenn ihm etwas davon zu Ohren gekommen wäre.



Volker Ebersbach ist am 6. September 1942 in Bernburg/Saale geboren und dort aufgewachsen. Nach Abitur und Schlosserlehre studierte er von 1961 bis 1966 Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 promovierte er über den römischen Satiriker Titus Petronius. Danach lehrte er Deutsch als Fremdsprache ab 1967 in Leipzig, 1968 in Bagdad, 1971 bis 1974 an der Universität Budapest, wo er auch mit seiner Familie lebte.

Seit 1976 ist er freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt Erzählungen und Romane, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biografien und Anekdoten. Er übersetzte aus dem Lateinischen ausgewählte Werke von Catull, Vergil, Ovid, Petronius, das Waltharilied, Janus Pannonius und Jan Kochanowski. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Koreanische übersetzt.

Von 1997 bis 2002 war er Stadtschreiber in Bernburg. Danach lehrte er bis 2004 an der Universität Leipzig.

Preise und Auszeichnungen

Lion-Feuchtwanger-Preis, 1985

Stipendiat des Künstlerhauses Wiepersdorf und des Stuttgarter Schriftstellerhauses, 1993

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