Harry Potter, die Grimms und der Tod: Zur Todesmotivik in alten und neuen Märchen

In dieser fächerübergreifend komparatistischen Studie werden die Motive des Todes in Märchentexten untersucht. Als Beispiele werden vorrangig die Texte "Der Gevatter Tod" und "Der Herr Gevatter" aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sowie "Die drei Brüder" aus J.K. Rowlings Harry Potter-Romanen herangezogen. Analysiert werden die Kernelemente und möglichen Unterschiede, die anhand literarischer Interpretationen und philosophischer Positionen in den Märchentexten vorkommen und mit der Todesmotivik in Zusammenhang stehen. Hierbei werden besonders die drei Themengebiete des Wunsches nach Unsterblichkeit, der Zerstörung von... alles anzeigen expand_more

In dieser fächerübergreifend komparatistischen Studie werden die Motive des Todes in Märchentexten untersucht. Als Beispiele werden vorrangig die Texte "Der Gevatter Tod" und "Der Herr Gevatter" aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sowie "Die drei Brüder" aus J.K. Rowlings Harry Potter-Romanen herangezogen. Analysiert werden die Kernelemente und möglichen Unterschiede, die anhand literarischer Interpretationen und philosophischer Positionen in den Märchentexten vorkommen und mit der Todesmotivik in Zusammenhang stehen.

Hierbei werden besonders die drei Themengebiete des Wunsches nach Unsterblichkeit, der Zerstörung von Wir-Beziehungen und die Verwirklichung der ars moriendi behandelt.

Zudem wird ein Rückschluss auf die Charakterkonstruktionen der Figuren des Harry Potter, Severus Snape und Lord Voldemort (Tom Riddle) aufgrund der herausgearbeiteten Todesmotive gezogen und erläutert.

Auch die Funktionen von Märchen und fantastischer Literatur in Hinsicht auf Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen durch die literarischen Rezeption der Texte werden angesprochen und mit Blick auf die Todesthematik kurz erörtert.



In dieser fächerübergreifend komparatistischen Studie werden die Motive des Todes in Märchentexten untersucht. Als Beispiele werden vorrangig die Texte "Der Gevatter Tod" und "Der Herr Gevatter" aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sowie "Die drei Brüder" aus J.K. Rowlings Harry Potter-Romanen herangezogen. Analysiert werden die ...



Textprobe:

Kapitel 2.3: … der Tod im Märchen:

Märchen bieten die Möglichkeit, Gedanken über den Tod zuzulassen. In den meisten Geschichten wird der Leser nur am Rande mit dem Sterben der Nebenfiguren oder dem Scheintod der Helden konfrontiert, doch wird das Thema öfter angesprochen als auf den ersten Blick zugänglich. Auch findet man Geschichten, die das Todesmotiv zum Hauptinhalt haben und somit anschneiden, was für viele zu einem unangenehmen Konversationsgrund geworden ist.

‘Die Einstellung zum Sterben und zum Tod hat sich im letzten Jahrhundert gewandelt. Das Sterben, was früher in der Öffentlichkeit stattfand, wird heute aus dem Gesichtsfeld verdrängt und verschwiegen.’

Der Tod ist im Märchen keine Ursache für Schrecken oder Angst, die Figuren der Geschichten wundern sich nicht einmal über das Erscheinen des Herrschers über Leben und Tod. Er unterscheidet sich in seinem Aussehen und der Beschreibung kaum von den anderen Akteuren der jeweiligen Handlung. Im Gegensatz ‘scheint der Tod im Märchen eigenartig blaß [sic] und wenig eindrucksvoll.’ Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich in Märchen jenseitige Wesen auf der Seite des Diesseits aufhalten, mit den Figuren interagieren oder ihnen Rat gebend zur Seite stehen; ob es sich nun um Personifikationen übernatürlicher Mächte, die Seelen ruheloser Verstorbener oder typische Zauberwesen handelt. Kennzeichnend für die Gattung an sich ist die stillschweigende Akzeptanz des Wunderbaren, das weder kommentiert, noch in sonst einer Art hervorgehoben wird, da es für die Handelnden gar keine Besonderheit darstellt.

Im Märchen ist das Sterben etwas ganz Natürliches, das zur Lebenswelt dazugehört und mit den darin enthaltenen Menschen in direktem Zusammenhang stehen kann. Dennoch gibt es Beispiele für den Schrecken, der dadurch hervorgerufen wird, wenn dieses Ereignis oder die Vorstellung davon auf das eigene Lebensfeld übertragen wird, denn im Alltag unterdrückt man die Gedanken daran und tröstet sich damit, dass ‘man’ stirbt, aber nicht das Individuum selbst. Im KHM Nr. 42 ‘Der Herr Gevatter’ nach der Ausgabe von 1857 wird der Held mit der Möglichkeit seines eigenen Ablebens konfrontiert und gerät daraufhin in Panik. Das zuvor bestehende vertraute Verhältnis zu seinem Paten wird zerrissen, als er diesen in seinem ihm eigenen Umfeld aufsucht, begreift, um wen es sich im Einzelnen handelt und sich dadurch selbst in direkter Gefahr empfindet. Im KHM Nr. 44 ‘Der Gevatter Tod’ finden sich inhaltliche Parallelen, doch stirbt der Held gegen Ende, da er von seinem Ziehvater für den zuvor begangenen Betrug bestraft wird. Trotz gegebener Aussicht auf die Verlängerung des Lebens und die Möglichkeit, sich dem eigenen Tod zu entziehen, bricht nun der Gevatter sein Versprechen und beendet das Leben seines Patenkindes. Bei Ludwig Bechstein lässt sich ebenso eine Variante des ‘Gevatter Tod’ finden, die gleichsam 1857, aber in dessen eigener Märchensammlung erschienen ist. Der Schluss ist inhaltlich dem der grimmschen Version gleich, aber durch einen abschließenden Kommentar ergänzt, der die Determination des Menschen in seinem natürlichen Schicksal kennzeichnet:

‘In demselben Augenblick sank der Arzt um und war tot.

Wider den Tod kein Kraut gewachsen ist.’

Ein weiterer Unterschied in den Versionen der KHM ist die Position des Todes zum Sterbenden, denn in der Version von 1811 bedeutet das Stehen des Gevatters ‘zu Häupten’ des Krankenbettes das Überleben, während keine Heilung möglich ist, wenn sich der Tod ‘zu Füßen’ aufhält. Aber schon 1819 kehren sich die Standpunkte und ihre Bedeutungen ins Gegenteil. Es gibt Aufzeichnungen, in denen die Schlüsselwörter von Wilhelm Grimm durchgestrichen wurden. In den weiteren Fassungen bleibt es bei der ersten Konstellation von Heilung und Sterben.

Die ständige Todesbedrohung, die sich auf das Leben auswirkt, ist auch in den Harry Potter-Romanen enthalten. Sie ist auf facettenreiche Weise in den Handlungsstrang, die gesamte fiktive Wirklichkeit und die Atmosphäre eingebunden, so dass die ganze Umwelt Harrys düster und gefährlich wirkt. Der Tod wird auf mehrere Weisen eingeflochten, sei es durch die ‘Death Eater’, den dunklen Lord selbst oder die Gefahren, denen sich die Helden immer wieder aussetzen müssen. Besonders im siebten Band steht die Thematik im Vordergrund, Harry muss sich mit seiner Sterblichkeit auseinandersetzen und zu dieser eine individuelle Position beziehen. Als Impulse werden ihm zahlreiche Hilfsmittel zur Verfügung gestellt, so zum Beispiel die ‘Tales of Beedle the Bard’.

Nicht nur, dass wir hier erneut die Referenz zu der Bedeutung von Märchen in der Selbstfindung und Bildung persönlicher Lebenseinstellungen finden, gleichbedeutend wird die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit dem Tod hervorgehoben. Auch im ‘Tale of the Three Brothers’ wird das Sterben als Personifikation dargestellt, doch anders als in den grimmschen Märchen wird hier schon die dunkle, mysteriöse Komponente betont. Der Tod wird beschrieben als ‘hooded figure’, der kein klares Aussehen zugeordnet werden kann. Die Charakteristika ‘He [sic] was angry, that he had been cheated out of three new victims’ und ‘But [sic] Death was cunning.’ beschreiben ihn als emotionale Persönlichkeit statt als neutrale Allmacht des Übernatürlichen.

Selbst zu ‘The Tale of the Three Brothers’ gibt es eine historische, vergleichbare Variante, in der inhaltliche Parallelen zu finden sind. Geoffrey Chaucer schrieb ab 1387 ‘The Canterbury-Tales’, in denen auch ‘The Pardoner's Prologue and Tale’ enthalten ist. Der Tod wird in diesen bei seinem ersten Auftauchen zunächst als gewalttätiger Mörder dargestellt, den die drei Protagonisten aufsuchen und zur Rechenschaft ziehen wollen. Als es zu einem persönlichen Aufeinandertreffen kommt, formt sich das Bild des Gesuchten zu dem eines alten Mannes, der den Trunkenbolden freundlich begegnet und die positiven Komponenten des Sterbens aufzeigt. Er verweist sie auf den Ort, an dem sie den Tod finden können, warnt aber gleichzeitig davor, durch lasterhafte Gedanken und Intentionen möglicherweise selbst zu dessen Opfer zu werden. Schon hier findet sich der Impuls, die Vorstellungen über das Lebensende zu überdenken und von einer anderen Seite zu betrachten; einer, die mehr auf ein gutes Leben als auf den Wunsch nach Überlistung des Todes ausgerichtet ist. Die gesamte Geschichte ist jedoch integriert in einen christlich-interpretativen Rahmen, der das zu erwartende Bild auf spezifische Weise verändert. Religiöse Komponenten tauchen bei den Märchen von ‘Beedle the Bard’ dagegen gar nicht auf, so dass auch die Andeutung eines Jenseits aus neutraler Perspektive betrachtet werden muss.



Silke Jungblut wurde 1981 in Koblenz geboren. Nach ihrer Ausbildung zur Arzthelferin entschied sie sich für ein Studium der Germanistik, um ihre Leidenschaft für Literatur und Sprache zum Beruf machen zu können. Innerhalb des Lehramtsstudiums in den Fächern Germanistik und Ethik entdeckte sie viele Zusammenhänge zwischen literarischen Interpretationen und philosophischen Positionen, die sie zunehmend interessierten. Besonders die metaphysischen Fragen um den Tod faszinierten sie dabei, so dass sie den Schwerpunkt ihrer Untersuchungen weitestgehend auf diese Thematik konzentrierte.

Neben ihrem Studium beschäftigt sich die Autorin auch innerhalb eines Kunstprojektes mit dem Tod und hat sich in literarischen Arbeitskreisen und Werkstätten engagiert. Dabei stehen besonders die Romantik und Themen um die Metaphysik, Fantastik oder das Märchenhafte im Vordergrund.

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