Die Leiche im Affenbrotbaum

Kriminalroman

„Das hier", erklärte Sall, „fanden wir in dem hohlen Affenbrotbaum." Er legte eine beredte Pause ein und begann dann, das Kuvert mit einer feierlichen Ruhe zu öffnen. „Und hier haben wir den zweiten greifbaren Fakt aus Ihrem Lügenmärchen: einen Zettel!" Er hielt das linierte Blatt, aus einem Schreibheft herausgerissen, in seiner triumphierend erhobenen Hand. In deutscher Sprache und wieder aus vorgedruckten Buchstaben geschnitten und daraufgeklebt, las ich da: TÖTE DEN EVANGELISTEN. Dem Leipziger Journalist Karl Bondel ist seine Frau nach der Wende mit einem westdeutschen Arzt durchgebrannt, sein Arbeitsplatz ist auch gefährdet. Er... alles anzeigen expand_more

„Das hier", erklärte Sall, „fanden wir in dem hohlen Affenbrotbaum." Er legte eine beredte Pause ein und begann dann, das Kuvert mit einer feierlichen Ruhe zu öffnen. „Und hier haben wir den zweiten greifbaren Fakt aus Ihrem Lügenmärchen: einen Zettel!"

Er hielt das linierte Blatt, aus einem Schreibheft herausgerissen, in seiner triumphierend erhobenen Hand. In deutscher Sprache und wieder aus vorgedruckten Buchstaben geschnitten und daraufgeklebt, las ich da: TÖTE DEN EVANGELISTEN.

Dem Leipziger Journalist Karl Bondel ist seine Frau nach der Wende mit einem westdeutschen Arzt durchgebrannt, sein Arbeitsplatz ist auch gefährdet. Er will einfach ausspannen und bucht einen teuren Urlaub im fernen Senegal. Dort holt ihn seine DDR-Vergangenheit ein und er lernt seine Stasispitzel kennen. Er verliebt sich neu und gerät in äußerst lebensgefährliche Abenteuer.



Die Rhododendrenblüten, die ich vor Augen hatte, um Clari eine Freude zu machen, schimmerten im Licht des Mondes gelb und rot. Es handelte sich um zwei große Büsche, die direkt hinter der Mauer des d'Aubert neben dem Baum wuchsen, den die Einheimischen Baobab nannten. Wie sich ein Zweig Rhododendron im Hotelzimmer hielt, wusste ich nicht. Im Augenblick bestand mein Problem auch mehr darin, die starken Zweige ohne Hilfe eines Messers zu brechen.

Dabei störte mich ein großer, sandgelber Hund.

Vielleicht störte auch ich den Hund, denn er fraß. Mit konzentriert geschlossenen Augen und den sehnigen Körper in höchste Anspannung versetzt, wühlten Maul und Vorderläufe in einem Loch im Stamm. Das Loch begann etwa zwei Ellen hoch über dem Erdboden. Es erweiterte sich nach oben und sicher auch tief ins Innere des Baumes. Die sandgelbe Bestie sah zum Fürchten einem beflissenen Liliputaner ähnlich, wie sie auf den Hinterbeinen balancierte, um den hoch gelegenen Spalt zu erreichen.

Mehr als ich irgendwas sah, hörte ich, wie die Zähne des Tiers etwas zerkrachten. Mit einem kleinen Knochen im Maul ging es dann zu Boden. Nunmehr auf allen vieren liegend, starrte der Hund mich aus blutbespritzten Augen an, als wäre ich ein Gast, der beim kalten Buffet des Sächsischen Staatsministers für Wissenschaft herumsteht, ohne offiziell eingeladen zu sein.

Ich wusste, dass solche Stadthunde feige sind. Bloß ein kräftiges Auftrampeln scheuchte diesen Nachfahren eines Schakals fort. Also trat ich kräftig mit dem Fuß auf.

Wie ein Geist verschwand das Biest in der Dunkelheit. Dabei verlor es den Knochen. Ich kniete nieder und leuchtete mit dem Feuerzeug.

Wären mir während meiner journalistischen Arbeit nicht schon manchmal die Fleischhallen der Gerichtsmedizin vor Augen gekommen, hätte ich jetzt garantiert gekotzt. Denn was unten im Sand lag, offenbarte sich eindeutig als menschlicher Finger. Ein fast vollständiger, weißer Mittelfinger.

Vorsichtig stieg ich auf eine Luftwurzel. Millimeterweise näherte ich mein Gesicht der Höhle im Stamm. Ziemlich verärgert stellte ich fest, dass die Hand, die sich an der Borke festklammerte, auf und nieder zitterte wie ein gekescherter Schmetterling.

Nachdem sich meine Augen an die Finsternis im Inneren des Baumes gewöhnt hatten, schrak ich entsetzt zurück. Zwei Zoll vor meinem Gesicht grinste mir die leblose Maske des Kommissars Schnützle entgegen. Er war mit den Füßen zuerst in den Spalt geschoben. Der asketische Kopf starrte überstreckt nach oben, und die Augen waren weit aufgerissen.

Eine Hand hing verdreht und blutig aus dem eleganten schwarzen Jackett. Sie stellte den Teil seines Körpers dar, der dem Eingang am nächsten lag. Das sah fast aus, als hätte Schnützle, zu Tode verwundet, noch einen Befreiungsversuch unternommen. Doch ich glaubte dem Anschein nicht. Der war wohl mausetot gewesen, als ihn sein Feind in den Baum packte.

Durch die Mauer gedämpft, hörte ich fröhliches Kreischen und Geplatsche. Wahrscheinlich veranstaltete man hinter meinem Rücken ein Badefest. Ich nahm alle Courage zusammen und leuchtete den Toten mit der blaugelben Flamme des Feuerzeugs ab, so weit mein Arm hineinreichte.



Steffen Mohr wurde am 24. Juli 1942 in Leipzig geboren, wo er auch aufgewachsen und bis heute geblieben ist. Nach dem Abitur studierte er sowohl (katholische) Theologie als auch Theaterwissenschaften, welche er 1966 mit einem Diplom abschloss. Nach seiner Ausbildung am Leipziger Literaturinstitut kam 1975 ein zweites Diplom hinzu. Davor hatte Mohr unter anderem als Hilfsarbeiter und Hilfsschauspieler, als elektrischer Prüfer und als Redakteur beim „Sächsischen Tageblatt“ sowie als Regieassistent beim Jugendtheater und als Dramaturg beim DDR-Fernsehen (Krimi-Genre), aber auch als Briefträger und Leiter wilder Theatergruppen gearbeitet. Seine erste Kriminalstory hatte Mohr 1966 unter dem Pseudonym „Harald Eger“ in der bekannten „Blaulicht“-Reihe veröffentlicht – „weil mir sonst als Student das Honorar vom Stipendium abgezogen worden wäre“. Weitere Bücher folgten und schließlich 1989 gemeinsam mit dem West-Berliner Autor -ky (Hinter diesem Kürzel verbirgt sich der erfolgreiche Kriminalschriftsteller und Soziologieprofessor Dr. Horst Bosetzky, Jahrgang 1938) der erste und zugleich letzte deutsch-deutsche Krimi „Schau nicht hin, schau nicht her“ – erschienen zwei Monate vor dem Mauerfall. Eine literarische Spezialität des Leipziger Künstlers, der auch als Dozent für kreatives Schreiben tätig ist und der Freien Literaturgesellschaft Leipzig e.V. vorsteht, sind seine Rätselkrimis, die bundesweit in Zeitungen mit einer wöchentlichen Auflage von etwa 1 Million Exemplaren veröffentlicht werden. Darin lässt Mohr nicht nur den Leipziger Kommissar Gustav Merks ermitteln, sondern vor allem seine kriminalistisch veranlagten Leserinnen und Leser.

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