Das Liebste und das Sterben

Roman einer Familie

„Ihr wisst es, wie es kam. Es musste nicht so kommen.“ Diesen Gedanken des früheren expressionistischen Dichters und späteren ersten DDR-Kulturministers Johannes R. Becher hat Görlich diesem „Roman einer Familie“ vorangestellt. Die Familie ist die Berliner Arbeiterfamilie Wegener. Vor allem aber ist es der Roman der beiden Söhne Arthur und Willi. Die Handlung setzt im Frühjahr 1939 ein: Wie das Radio berichtet, ist die deutsche Wehrmacht im Schneegestöber in Prag einmarschiert - am 15. März 1939. Arthur und Willi arbeiten zu dieser Zeit in der gleichen Bude, in den Temler-Werken, wo Flugzeugmotoren produziert werden und die... alles anzeigen expand_more

„Ihr wisst es, wie es kam. Es musste nicht so kommen.“ Diesen Gedanken des früheren expressionistischen Dichters und späteren ersten DDR-Kulturministers Johannes R. Becher hat Görlich diesem „Roman einer Familie“ vorangestellt. Die Familie ist die Berliner Arbeiterfamilie Wegener. Vor allem aber ist es der Roman der beiden Söhne Arthur und Willi.

Die Handlung setzt im Frühjahr 1939 ein: Wie das Radio berichtet, ist die deutsche Wehrmacht im Schneegestöber in Prag einmarschiert - am 15. März 1939. Arthur und Willi arbeiten zu dieser Zeit in der gleichen Bude, in den Temler-Werken, wo Flugzeugmotoren produziert werden und die bald zu einem nationalsozialistischen Kriegsmusterbetrieb aufgebaut wird.

Die Risse in der Familie zeigen sich sehr deutlich an einem Maisonntag 1939, als Vater Hermann Wegener 60 wird und ein bisschen gefeiert wird. Auch Arthur und Willi und ihre Frauen kommen zu Vaters Ehrentag – aber nicht gemeinsam. Es wird Bier getrunken und vorsichtig geredet, um nichts Falsches zu sagen. Doch es kommt trotzdem zum heftigen Streit:

Vera sagte, als die kleine Monika ins Zimmer kam und sich an sie schmiegte: „Wie schön es heute die Kinder haben, Vater. Wenn du an deine Kinderzeit zurückdenkst, nicht? Ach, wie schön es unsere haben.“

Alle sahen auf Monika, auf ihr Stupsnäschen und nickten.

Nur Arthur sagte: „Hoffentlich haben es die Kinder noch lange so, hoffentlich.“

Eigentlich war das keine besonders überlegte Bemerkung. Es waren nur seine Gedanken, die er aussprach, weil er manches wusste und ahnte. Er wollte auch keinen damit treffen.

Willi warf den Kopf hoch, und erregt fragte er: „Was meinst du damit?“

Die Frage ließ alle aufhorchen. Arthur hätte jetzt sagen können, dass er das ganz allgemein gemeint habe. Aber als er die Wut in Willis Blick bemerkte, den vor Spannung halb offnen Mund der Vera sah, die noch immer die Hand auf dem Wuschelkopf der Monika liegen hatte, diese saubere und gesunde deutsche Familie, da sagte er: „Ich meine, man jagt uns dem Krieg entgegen.“

Er fuchtelte mit den Händen in der Luft umher und schrie: „Du bist immer der gleiche, du bist ein Hetzer.“ Schon immer habe er schweigen müssen, weil der Herr Bruder die Weisheit mit Löffeln gefressen habe. Im Werk müsse er Angst haben, schief angeguckt zu werden und sich mit seinen Vorgesetzten zu verfeinden. Alles setze er, der fanatische Kommunist, aufs Spiel, die ganze Familie bedrohe er. Er habe keine Kinder, werde wohl nie welche haben, deshalb könnten er und Maria so sein.



An einem Junitag holten sie Arthur aus der Einzelzelle im Zuchthaus Brandenburg. Er erwartete neue Quälereien und fröstelte, als er vor dem Zuchthausbeamten die hallenden Gänge entlangging. Wochenlang hatten sie ihn in Ruhe gelassen. Er war allein in der Zelle, allein im Dunkeln, allein vor den steinernen Wänden, und seine Tage waren nur geregelt durch die stumpfe Monotonie des Zuchthauslebens. Arthur wartete auf den Prozess. Er wusste, dass der Prozess vor dem Volksgerichtshof für die meisten von ihnen das Todesurteil bringen würde. Bis jetzt hatte die Gestapo gezögert. Von Erich Fischer und den anderen wusste Arthur nichts. Erst bei dem Prozess würde er sie wahrscheinlich wiedersehen. Er fürchtete sich davor. Er wusste, wie er sich in den letzten Monaten verändert hatte. Aus dem Spiegel, den er zum Rasieren bekam, schaute ihm ein faltiges, altes Gesicht entgegen.

Der Beamte führte ihn nicht in das berüchtigte kahle Zimmer, das Arthur von seinen Vernehmungen her kannte. Auf dem düsteren Hof wartete ein Gefangenenwagen. Arthur erfasste ein Schwindelgefühl. Er spürte die warme Luft. Es roch nach blühenden Linden. Ganz in der Nähe mussten sie blühen. Er blieb stehen, atmete tief und lächelte.

„Los, weiter“, befahl der Beamte. „Das Grinsen wird dir noch vergehen, unter Garantie.“ Er stieß Arthur zum Auto. Sie legten ihm Handschellen an. Zwei Zivilisten stiegen ein. Einer wies Arthur darauf hin, dass er beim geringsten Fluchtversuch erschossen würde.

Er zog eine flache Pistole aus der Jackentasche und wog sie in der Hand. Der Mann hatte ein müdes, aschfahles Gesicht und kalte, gleichgültige Augen. Arthur dachte: Natürlich wirst du schießen. Müde siehst du aus. In der jetzigen Lage ist es nicht so einfach, Gestapo zu sein. Sie hetzen euch umher, eure Führer. Flicken sollt ihr das bröcklige Gebäude des tausendjährigen Reiches.

„Glotz nicht so dämlich“, sagte der mit dem müden Gesicht. „Schau dir lieber die Welt noch mal an. Wenn du sie auch bloß durchs Gitter siehst. Jedenfalls ist es die Welt. Du hängst doch an der schönen Welt, was? Du glaubst doch sowieso nicht an den lieben Gott.“ Er lachte kurz und verdrossen auf.

Arthur befolgte den Befehl. Sonnenüberflutet waren die Straßen und die Felder. Seit seiner Verhaftung waren Monate vergangen. Grauenhafte Monate, angefüllt mit bestialischen Verhören, abstumpfender Einzelhaft, immer wieder niedergekämpfter Furcht, voller Zweifel und Angst und Hoffnung und mit der unstillbaren Sehnsucht nach einer bunten, sonnenüberfluteten Welt. Jetzt zog sie an seinen Augen vorüber wie ein Film. Noch nie in seinem Leben hatte er versucht, so angespannt jede Kleinigkeit festzuhalten: die Leute auf der Straße, die Radfahrer auf ihren alten, klapprigen Rädern, Kinder in hellen Kleidern, die Dörfer, die Straßenschilder, von denen die Farbe abbröckelte. Sie fuhren an einem Flugzeugwrack vorüber, einem britischen Bomber, kenntlich durch die Kokarde. Vor dem zersplitterten, verbrannten Rumpf stand ein alter Soldat mit einem langen Gewehr. Er jagte die Kinder fort, die sich vor dem abgeschossenen Flugzeug drängten.

Später rollte der Gefangenenwagen über die Brücke in der Nähe von Werder. Arthur beugte sich näher ans Fenster. Am eisernen Geländer der Brücke, fast genau an der Stelle, an der Arthur einmal mit Maria gestanden hatte – an einem warmen Sommerabend war es, vor vielen Jahren, und sie hatten auf das träge fließende Wasser der Havel geschaut und zu den Segelbooten geblickt –, da stand ein Posten in einer blaugrauen Uniform, ein Kerlchen jung wie Martin, die Maschinenpistole an der Seite. Der Bursche schaute voller Neugier auf den vergitterten grünen Wagen. Und Arthur konnte sehen, dass die Augen des Jungen erschrocken waren, und wie er nach der Maschinenpistole griff. Dann war die Brücke über der Havel vorüber, die schmerzlichen Gedanken an Maria blieben.

Seit dem Tag im vergangenen Jahr, als die Gestapo ihn aus dem Prüfstand verhaftete, hatte er Maria nicht mehr gesehen. In den vielen einsamen Stunden seitdem war immer wieder die quälende Erinnerung an diesen Morgen aufgetaucht, da er zum letzten Mal zur Schicht gegangen war.

Schönes Wetter war an jenem Morgen gewesen. Zum Fenster hinein zog der taufrische Duft der Sommerwiesen. Arthur hatte fest und tief geschlafen, wie lange nicht mehr.

„Nächsten Sonntag fahren wir zum Tretener See. Ganz bestimmt, Maria“, sagte er.

Maria lächelte. „Ach, was du redest. Bis dahin ist noch lang. Wer weiß, was am Sonntag ist. Schön wär’s ja …“

Er fasste sie um die Taille. „Du bist ja eine Gazelle. Wirklich, du bist noch so wie vor vielen Jahren.“

Sie wehrte ab und lachte: „Dass du jetzt schon Süßholz raspelst. Dabei liebst du was Vollschlankes. Ich weiß Bescheid …“ Dann drängte sie: „Du kommst zu spät.“

An jenem Morgen hatte sich Arthur auf den Abend besonders gefreut, und er hatte es ihr gesagt. Maria war rot geworden und hatte gelächelt. Dieses Bild blieb in seiner Erinnerung: Ihr glückliches Gesicht und das glänzende dunkle Haar.

Je weiter der Gefangenenwagen in die Stadt hineinfuhr, desto ausgedehnter wurden die Ruinenfelder. Arthur blickte mit schmerzenden Augen auf die ausgebombten Häuserzeilen. Er hatte durch den Kalfaktor schon viel von diesen Bombenangriffen erfahren. Aber so verheerend hatte er sich die Verwüstung nicht vorgestellt. Das sind die Zeichen des Untergangs, dachte Arthur. Keine noch so demagogische Rede des Propagandaministers kann diese Trümmer beiseite räumen. Und er betrachtete die blassen, übernächtigen Menschen, die wie gehetzt die Straße entlanghasteten und den wundervollen Sommermorgen nicht zu bemerken schienen.

Das Auto fuhr in der Nähe der Avus, als die Sirenen losheulten. Die Gestapo-Leute sahen sich an.

„Verdammte Scheiße! Jetzt kommen die schon am Morgen. Die waren doch erst heute Nacht hier.“ Der das gesagt hatte, spähte zum Rückfenster hinaus. Die Passanten rannten in die Hauseingänge.

„Wo ist hier bloß so ein verdammter Bunker? Hier muss doch einer sein.“

Der andere holte sich eine Zigarette aus der Jackentasche und zündete sie an. „Zur Prinz-Albrecht-Straße, du kennst den Befehl.“

Gebückt drängte er sich an Arthur vorbei, drückte ihn grob beiseite und öffnete das Fenster zur Fahrerkabine.

„Schneller! Zur Albrechtstraße. Gib Signal.“

Er blieb dann neben Arthur sitzen, blickte ihn mit seinen tief liegenden Augen an und reichte ihm eine Zigarette. „Damit du dir nicht in die Hosen machst, wenn’s knallt.“

Der Wagen beschleunigte die Geschwindigkeit. Arthur rauchte in tiefen Zügen. Er dachte: Warum soll ich Angst haben. Es ist doch gleich. Sterben muss ich sowieso bald. Ihr lasst mich ja doch nicht leben. Er sah dem Gestapo-Mann ins Gesicht. Der hatte zahllose Fältchen um die Augen, wie Menschen, die viel lachen. Über was mag der lachen?

Der Gestapo-Mann sah interessiert zu, wie Arthur die Zigarette mit den gefesselten Händen zum Mund führte. Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht.

„Das sieht aus, als willst du beten. Immer schön die Hände gefaltet zum Dankgebet. Der liebe Gott hat dir die Zigarette geschenkt.“

Der Wagen geriet ins Schleudern. Der Gestapo-Mann fiel gegen Arthur. Draußen war Bersten und Krachen.

„Sie sind schon da, die Hunde“, schrie der Gestapo-Mann an der Tür. Der neben Arthur trommelte mit den Fäusten gegen das Fahrerhaus.

„Weiter! Gib Gas!“

Der Wagen ruckte wieder an.

Da sah Arthur am Fenster eine Wand von Staub und Qualm aufsteigen. Der Wagen kippte langsam zur Seite. Der Gestapo-Mann krallte sich an Arthur fest. Es stank nach verbranntem Gummi. Arthur stemmte mit seinen gefesselten Händen den Körper des anderen von sich. Der schrie und verstummte dann. Er war tot. Die Wand aus Stahlblech war in seinen Rücken gedrungen.

Arthur kroch zur Tür. Die war verklemmt, aber ein wenig offen, so dass er sich hindurchzwängen konnte. Draußen war es fast dunkel von Qualm und Bränden. Funkengarben sprühten auf. Das Heulen der hinabstürzenden Bomben wechselte mit den harten Erschütterungen der Einschläge. Vor dem umgestürzten Fahrzeug lag der zweite Gestapo-Mann. Sein rechtes Bein schien gebrochen oder zerschlagen zu sein. Er starrte Arthur mit verzerrtem Gesicht entgegen, und plötzlich hatte er die Pistole in der Hand. Arthur warf sich auf ihn. Der Mann biss und wollte die Pistole hochreißen. Arthur erwürgte ihn mit seinen gefesselten Händen. Er hockte gebeugt auf dem Toten und blickte schwer atmend in das blaue Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper. Dann war der Gedanke in ihm: Du bist frei. Die Freiheit war die Hölle: einstürzende Häuser und rußiger Qualm.

Auf dem Toten hockend, bemerkte Arthur, wie die Vorderfront eines vierstöckigen Hauses langsam nach vorn kippte. Es sah aus, als falle eine Baukastenwand zusammen. Kleine Ziegelbrocken lösten sich im Flug und schlugen vor der zusammenfallenden Wand auf die Straße. Die stürzende Häuserfront riss Arthur aus seiner Verwirrung. Hastig durchsuchte er die Taschen des Toten, der ihm die Handschellen geschlossen hatte. Er zerfetzte mit den Zähnen den Stoff der Hose, um an das Schlüsselbund heranzukommen.



Günter Görlich

Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.

Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.

Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.

1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.

Weitere Auszeichnungen:

Kunstpreis des FDGB 1966, 1973

Nationalpreis 2. Klasse 1971

Held der Arbeit 1974

Nationalpreis 1. Klasse 1978

Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979

Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979

Ehrenspange zum VVO in Gold 1988

Goethepreis der Stadt Berlin 1983

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