Das blaue Band
Mit der „Cosmos“, dem größten und modernsten Ozeandampfer seiner Zeit, sticht eine illustre Gesellschaft in See: Industrielle, Künstler, Journalisten – und Menschen mit Geheimnissen. Hinter dem Glanz der luxuriösen Jungfernfahrt flackern Macht, Ehrgeiz, Rivalitäten und Sehnsüchte. Während die Maschinen donnern und das Schiff Kurs auf New York nimmt, entfaltet sich ein Panorama menschlicher Träume und Abgründe.
Bernhard Kellermann verbindet in seinem Roman Das blaue Band mitreißende Erzählkunst mit präziser Beobachtungsgabe: ein spannendes Zeitdokument über Fortschritt, Technikglauben und menschliche Hybris – und eine Geschichte, die an die Jungfernfahrt der Titanic angelehnt ist.
Ja, in der Tat, dieser Warren Prince hatte wahrhaftig fiebrige, rote Flecke in seinem glatten Studentengesicht. Das Meer erregte ihn! Der Wind wurde mit jeder Stunde stärker, und Warren träumte davon, einen jener atlantischen Orkane zu erleben, die die Schiffe einfach glattrasierten und Schornsteine und Masten wegfegten. Und er würde das alles beschreiben können! Mochte es auch diesmal nichts werden mit dem Rekord der „Cosmos“.
Zu seinem Erstaunen fand er auf der Brücke nur zuversichtliche Gesichter, es herrschte sogar eine gewisse Heiterkeit, die der gewöhnlichen feierlichen Stille hier oben widersprach. Die Offiziere belächelten Warrens romantische Wünsche. Sturm? Sie hatten soeben die letzten Wetternachrichten erhalten. Der Orkan in der Biskaya, dessen letzte Ausläufer sie hier erlebten, zog nach Süden ab, gegen Abend würde der Wind völlig abflauen. Warren verbarg seine Enttäuschung nicht.
Direktor Henricki begrüßte Warren mit der gewohnten gönnerhaften Herzlichkeit: „Nun, wie segelt unser Schiffchen, Prince?“, fragte er mit einem koketten Lächeln.
Am Bug stiegen ohne Aufhören Fontänen von Gischt empor, um als Wände von schäumendem Wasser tosend über das Vorschiff zu stürzen. Prince fand, dass die „Cosmos“ wunderbar in der See läge. „Alle Passagiere sind der gleichen Meinung“, sagte er. „Ich werde diese Tatsache kabeln.“
Henricki lächelte. „Sie werden nichts als die Wahrheit kabeln. Die ,Cosmos‘ segelt wie eine Rennjacht, wahrhaftig, sie hat die gleiche Geschmeidigkeit. Hier ist Herr Schellong, der sie erbaut hat, wie Sie wissen; er genießt seinen Triumph.“ Henricki lachte. „Ja, wahrhaftig, wir segeln förmlich, und da der Wind, Gott sei Dank, von achtern kommt, so gewinnen wir in der Stunde einige Knoten, die uns nichts kosten!“
Oh, nun begriff Warren plötzlich die heiteren Gesichter!
Henricki legte den Arm um Warrens Schulter und ging mit ihm die Brücke entlang. „Hören Sie, mein Lieber“, sagte er und blinzelte vertraulich, „die Zeitungen, die Ihr Konzern bedient, bringen lange Schlagzeilen, dass die ,Cosmos‘ um das Blaue Band des Atlantiks kämpfe. Es wurde uns gekabelt. Oh, ich weiß, ich weiß, Sie haben dieses Gerücht dementiert …“
Percival Bell sauge sich das alles aus den Fingern, sagte Warren.
„Ihr Pervical Bell scheint ja ein wahres Wunder an Begabung zu sein. Er hat auch festgestellt, dass die ,Cosmos‘ bis jetzt genau die Zeiten der ,Mauretania‘ eingehalten hat. Was sagen Sie dazu? Es stand gestern Abend in den amerikanischen Blättern!“ Henricki blieb stehen und sah Prince an, während er mit den Augen vielsagend zwinkerte.
Nun fühlte sich Warren doch einigermaßen unbehaglich. Er hatte die Fahrttabellen der „Mauretania“ in der Tasche, rechnete und verglich und sandte unscheinbare Telegramme, die er mit Bell verabredet hatte.
Henricki lachte belustigt „Er muss ja eine unbegrenzte Fantasie haben, Ihr Percival Bell“, sagte er ironisch.
„O ja“, erwiderte Warren voller Überzeugung und lachte ebenfalls. „Percival Bell machte vor Jahren seine Karriere mit einem aufsehenerregenden Bericht über den Sturm auf Port Arthur, obschon er nie bei Port Arthur war. Er saß damals im Grand Hotel von Yokohama.“
Eine mächtige See schlug über das Vorschiff. Der Dampfer zitterte.
„Herrlich“, sagte Henricki, „wundervoll Ihr Percival Bell!“ Sogar der kleine vierschrötige Herr Unmack, der nie eine Miene verzog, lachte vor sich hin. Wie gesagt, es herrschte heute fast etwas wie Ausgelassenheit auf der Brücke.
Der Kommodore Terhusen kam aus dem Navigationsraum. „Lassen Sie das Schiff gerade legen, Unmack“, befahl er. Unmack telefonierte in die Maschine, und augenblicklich begannen die Pumpen zu spielen. Sie pressten den Wasserballast aus den Steuerbordtanks in die Backbordtanks. Der Dampfer legte infolge des Winddrucks stark nach Steuerbord über.
Herr Schellong wollte das Manöver selbst überwachen und empfahl sich. „Wollen Sie mitkommen, Herr Prince?“, fragte er, schüchtern und bescheiden.
Sie fuhren zehn Stockwerke mit dem Lift hinab in die Maschine. Eine überraschende Ruhe umgab sie hier unten. Kein sausender Wind, keine klatschenden Seen. Es war eine völlig veränderte, neue, geheimnisvolle Welt. Warren war es, als sei er plötzlich taub geworden.
Ein Ingenieur saß inmitten der feierlichen Stille in einem bequemen Sessel vor der Wand des riesigen Signalbretts, das mit allen erdenkbaren Apparaten, Skalen und Zeigern versehen war, die Warren verwirrten.
„Wie viel Umdrehungen?“, fragte Schellong.
„Einhundertundachtzig, Herr Schellong!“
„Oh, sehr gut, sehr gut! Wir laufen mit etwa sechzigtausend Pferden“, rief er Warren zu. „Wir haben noch fünfundzwanzigtausend in Reserve!“
Bernhard Friedrich Wilhelm Kellermann (*4. März 1879 in Fürth; †17. Oktober 1951 in Klein Glienicke bei Potsdam) war ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Abgeordneter. Sein bekanntestes Werk ist der Roman Der Tunnel (1913), ein internationaler Bestseller, der millionenfach verkauft, in 25 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt wurde.
Kellermann studierte zunächst an der Technischen Hochschule München, später Germanistik und Malerei. Schon mit seinen frühen Romanen Yester und Li (1904) und Ingeborg (1906) gelang ihm der Durchbruch. Es folgten Reiseberichte aus den USA und Japan, die seine Beobachtungsgabe und literarische Vielfalt unter Beweis stellten.
Der Erste Weltkrieg prägte ihn tief: Als Kriegsberichterstatter veröffentlichte er Reportagen vom Frontgeschehen. Mit seinem gesellschaftskritischen Roman Der 9. November (1920), der den Umbruch am Ende des Krieges thematisiert, zog er sich den Hass der Nationalsozialisten zu – das Buch wurde 1933 verboten und verbrannt, Kellermann aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.
Nach 1945 engagierte er sich in der jungen DDR stark für kulturelle und politische Fragen. Gemeinsam mit Johannes R. Becher gründete er den Kulturbund, wurde Abgeordneter der Volkskammer und Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Für seinen Roman Totentanz erhielt er 1949 den Nationalpreis der DDR. In Westdeutschland hingegen geriet sein Name durch Boykottaktionen weitgehend in Vergessenheit.
Kellermann war zweimal verheiratet: 1915 mit der US-Amerikanerin Mabel Giberson (†1926) und ab 1939 mit Else „Ellen“ Michaelis, die nach seinem Tod seine Werke herausgab.
Bernhard Kellermann hinterließ ein vielseitiges Werk aus Romanen, Erzählungen, Reisebüchern und Reportagen. Er ruht auf dem Neuen Friedhof in Potsdam.
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- Artikel-Nr.: SW9783689125813458270
- Artikelnummer SW9783689125813458270
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Autor
Bernhard Kellermann
- Verlag EDITION digital
- Veröffentlichung 14.10.2025
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- ISBN 9783689125813
- Verlag EDITION digital