Jonas, erzähl mal von Paris

Autobiografischer Roman

Jonas ist Kraftfahrer. Er steckt voller Geschichten, und er darin stets als strahlender Held. Er behauptet sogar, schon einmal in Paris gewesen zu sein. Und das zu Zeiten, da Paris für die meisten Bürger der DDR so unerreichbar ist wie der Mond. Da braucht nicht nur Jonas Fantasie wie die Luft zum Atmen. Auch der Journalist der Jugendzeitung „Frohe Jugend“, den Jonas zu seinen Reportagezielen kutschiert, lässt sich von ihr beflügeln. Doch dabei wird er manchmal ziemlich unsanft in die Realität des Alltags zurückgeholt. Ein Buch aus dem Leben eines Journalisten in der DDR. Etwas verfremdet, aber durchaus mit autobiografischen Zügen.... alles anzeigen expand_more

Jonas ist Kraftfahrer. Er steckt voller Geschichten, und er darin stets als strahlender Held. Er behauptet sogar, schon einmal in Paris gewesen zu sein. Und das zu Zeiten, da Paris für die meisten Bürger der DDR so unerreichbar ist wie der Mond.

Da braucht nicht nur Jonas Fantasie wie die Luft zum Atmen. Auch der Journalist der Jugendzeitung „Frohe Jugend“, den Jonas zu seinen Reportagezielen kutschiert, lässt sich von ihr beflügeln. Doch dabei wird er manchmal ziemlich unsanft in die Realität des Alltags zurückgeholt.

Ein Buch aus dem Leben eines Journalisten in der DDR. Etwas verfremdet, aber durchaus mit autobiografischen Zügen.



Es bot sich mir ein Bild des Jammers: Charly im Blauhemd lag mit seinem Oberkörper auf der Schreibtischplatte, das Gesicht zum Fenster gewandt, seine Schultern zuckten.

Ich schob Hella aus dem Zimmer und schloss die Tür.

„Was ist passiert, Charly, sag doch was.“ Ich rüttelte an seiner Schulter.

Aus seinem Schrank nahm ich die Flasche mit dem Redaktionsschnaps, goss zwei Gläser voll.

„Na los, Charly, Kopf hoch, Schnaps runter, dann erzähl: Was ist los?“ Ich packte ihn unter der Achsel, zog ihn vom Tisch zurück in seinen Schreibtischsessel.

Mann, wie er aussah: Blass und welk, mit vom Weinen geröteten Augen. Auch jetzt, wo er saß, zuckten seine Schultern, weinte er.

In mir stieg ein Wutgefühl auf. Wie konnte sich ein erwachsener Mann so hemmungslos gehen lassen? Ich konnte mir nichts vorstellen, was so eine jämmerliche Haltung hätte rechtfertigen können.

Ich schob ihm den Schnaps in Reichweite. Er nahm keine Notiz davon. Ich hielt ihm das Glas unter die Nase.

„Los, trink das jetzt aus und dann will ich wissen, was los ist. Reiß dich zusammen“, fuhr ich ihn an.

Er nahm das Glas, trank es mit einem Zug leer und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.

Er zog wortlos seine Aktentasche unter dem Schreibtisch hervor, öffnete die Schreibtischlade und räumte alle Sachen daraus in seine Tasche.

„Aus, vorbei, sie haben mich rausgeschmissen. Ab Morgen habt ihr einen neuen Chef … Weißt du, wie lange ich das hier gemacht habe?

Weißt du das? Zwölf Jahre und dann schmeißen sie dich von einem Augenblick zum anderen einfach auf den Mist.“

Er stand auf, nahm seine Teetasse vom Fensterbrett, steckte sie in seine Aktentasche.

„Was ist? Rausgeschmissen? Wie geht denn das?“, fragte ich ungläubig.

Ich goss noch mal die Gläser voll.

„Die Illustration zum Romanauszug sei Propagierung faschistischer Symbolik und mit der Aussage in der Winterurlaubsreportage, dass das Programm mehr ein Schulungs- als ein Urlaubsprogramm gewesen sei, würden wir vorsätzlich einen Keil zwischen Verbandsführung und Mitgliedschaft treiben. Und was wir diesen Matti sagen lassen, das bewirke einen unerlaubten Abbau von positiven Vorbildern … Einem Chefredakteur, der so etwas durchgehen lässt, aus welchen Gründen auch immer, dem könne vom Herausgeber kein Vertrauen mehr entgegengebracht werden.“

Charly leerte das Glas mit einem Zug.

Mir wurde auf einmal verdammt mies zu Mute. Ich war der eifrigste Befürworter der Illustration bei der entscheidenden Redaktionssitzung gewesen, die Reportage über den Winterurlaub der Landjugend stammte aus meiner Feder … Ich war also schuld daran, dass Charly rausgeschmissen wurde!

Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich gern die Rollen mit Charly getauscht. Sollten sie mich rausschmeißen, aber Charly doch nicht, der brav und dennoch mit Elan ein gutes Dutzend Jahre dem Herausgeber ergeben gedient hatte.

Charly musste allen Grund haben, mich zu hassen. Ich war es, der, ohne es zu wollen oder auch bloß zu ahnen, die Stolpersteine auf seinen bisher linientreuen Weg gewälzt hatte.

„Warum hast du nicht einfach alles auf mich geschoben, schließlich hab’ ich doch …“

„Das würde mich auch nicht gerettet haben. Nach dem Chefredakteursprinzip bin einzig und allein ich verantwortlich. Außerdem gab es da nichts mehr zu diskutieren. Als ich den Raum betrat, war das Urteil schon gefällt: Genosse Mohn, letztens unsere Kritik gegen die Überfülle von Fotos mit langhaarigen Beatmusikern hast du nicht ernst genommen. Jetzt die verantwortungslose Veröffentlichung dieser Illustration, dann diese Reportage, die das Verhältnis der Leitung unseres Verbandes zur Mitgliedschaft schwer belastet, das alles beweist, dass du unser Vertrauen missbraucht hast. Deshalb entbinden wir dich mit sofortiger Wirkung von der Funktion des Chefredakteurs …“

Charly klemmte sich seine Aktentasche unter dem Arm, ging zur Tür, durchschritt das Sekretariat, in dem Hella saß und weinte. An der Tür zum Treppenhaus stieß Charly fast mit Hubert zusammen, der gerade von einer Pressekonferenz aus der koreanischen Botschaft zurückkam.

„Junge, Junge, haben die einen Schnaps ausgeschenkt, Ginseng, da sollst du hundert Jahre nach alt werden. Hier, hab’ ich für euch mitgebracht, ihr sollt auch hundert Jahre alt werden …“

Hubert zog eine Flasche aus der Hosentasche, in der eine weißliche Wurzel schwamm.

Charly schob Hubert wortlos zur Seite und ging die Treppe hinunter.

„Was ist denn mit Charly los? Ist der sauer, weil ich ein bisschen high bin?“

„Komm mit in mein Zimmer“, sagte ich zu Hubert.



„Ganz schöne Scheiße, was euch da passiert ist. Euer neuer Chef soll ja so eine Art Kommissar sein. Da könnt ihr euren Laden gleich dichtmachen. Übrigens, deinen Winterurlaubsartikel fand ich gar nicht schlecht. Gut, er hätte noch etwas schärfer sein können und über das Girl Mareike hättest du mehr schreiben müssen …“

Ich war mit Jonas auf dem Weg nach Teltow.

Der neue Chef ließ uns alle ausschwärmen, um Material für Beiträge zu sammeln, die die Rolle und Bedeutung der FDJ ins rechte Licht rücken sollten.



Geboren am 18.01.1936 in Berlin. Die ersten 3 Lebensjahre verlebte er in Woldegk, von 1943 bis 1946 kriegsbedingt in Pommern, Schlesien und Bayern.

Berufsausbildung als Werkzeugmacher, Arbeit als Dreher, Bauarbeiter und pädagogischer Mitarbeiter.

1961-1963 Pädagogikstudium, danach Lehrer in Berlin-Oberschöneweide.

1965-1980 Redakteur der Jugendzeitschrift „Neues Leben“, seit 1977 stellv. Chefredakteur

1980 Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR, von 1980 – 1991 freier Schriftsteller

Seit 1991 Rentner.

Am 20.10.2018 in Berlin verstorben. Er war geschieden, hatte zwei Töchter und einen Sohn.

Bibliografie (Auszug)

Gitarre oder Stethoskop. Verlag Neues Leben, Berlin 1977

Berlin, hier bin ich. Verlag Neues Leben, Berlin 1979

Pierre. Verlag Junge Welt, Berlin 1980

Schwester Tina. Verlag Neues Leben, Berlin 1982

Simons Reise zum Es-war-einmal-Stern. Sassenverlag, Neustrelitz 1997

Jonas erzähl mal von Paris. Verlag am Park, Berlin 1997

Das bayerische Jahr. Fragment einer Kindheit in Deutschland. Verlag Alt-Friedrichsfelde 73, Berlin 1998

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