Das Lied der Schwäne
Chroniken aus Anderland - Band 1
Samarkuna, das geheimnisvolle Land der ewigen Wälder: Die junge Melisande macht sich nach dem Tod des Vaters auf die Suche nach ihrer Mutter, die seit Jahren verschwunden ist. Von der alten Waldfrau Rautgundis erfährt sie, dass ihre Mutter eigentlich ein magisches Schwanenwesen aus dem sagenhaften Eskildenor im hohen Norden ist und ihre Heimat einst nicht ganz freiwillig verlassen hat. Doch Melisandes Reise ins Land ihrer Mutter nimmt eine unerwartete Wendung, als sie die schillernde Feenkönigin Lordana kennenlernt: Die berichtet ihr von einer bösen Macht, die Eskildenor und andere Länder unterjocht und viele Bewohner verschleppt hat. Ihre Mutter, heißt es, schwebe in großer Gefahr. So begibt sich Melisande auf eine abenteuerliche Mission, begleitet von dem schwatzhaften Wichtel Towi, einem treuen Wolf und sieben zauberhaften Kriegerinnen.
Weit, sehr weit im Norden, dort wo in alter Zeit die Mitternachtssonne das Gold der tausend Seen zum Funkeln brachte, lag das Land Eskildenor. Keines Menschen Fuß durfte es je betreten, so wollte es der heilige Bund; dafür sollte Frieden herrschen in allen Landen ringsumher. Es war das Reich der schönen Königin Asaya vom Volk der Schwäne. Doch ein tolldreister Jüngling hatte einst – so hieß es – gegen dieses uralte Gebot verstoßen. Er war in Liebe entbrannt zur stolzen Asaya und hatte sich heimlich hineingewagt ins verbotene Land der tausend Seen. Durch eine List hatte er sich der Königin bemächtigt und sie ihrer magischen Kraft beraubt. So konnte er sie mit sich führen in sein fernes Heim nach Samarkuna, dem Land der ewigen Wälder. Blind vor Begehren hatte er so das Unheil heraufbeschworen, das nun über Länder und Völker hereinbrechen sollte.
I
In der kleinen Waldgemeinde Belvildis im Süden von Samarkuna war Gismund, der Jäger, auf die Reise zu seinen Ahnen gegangen. Melisande, seine einzige Tochter, hatte seine Asche nach altem Brauch in alle vier Winde verstreut. Nur sein Herz wurde der Erde übergeben. Frisch gebrochene Zweige bedeckten es, von jeder Baumart des Waldes einer.
Es waren nur wenige Menschen versammelt. Kaum eine Handvoll, dachte Melisande schmerzlich berührt. Nur einige Jäger aus benachbarten Waldflecken und Jorinda, ihre treue Freundin aus Kindertagen, standen ihr zur Seite. Die Jäger grüßten den Verstorbenen ein letztes Mal feierlich und gingen dann schweigend ihrer Wege. Zurück blieben die beiden Mädchen.
Jorinda umarmte die Freundin. „Komm zu uns in Dorf“, sagte sie leise. „Hier draußen ist es zu einsam für dich.“
Melisande schüttelte den Kopf.
„Aber bald nach der Sonnenwende ist meine Hochzeit, Melli. Du wirst doch meine Brautjungfer sein. Komm, bitte sag ja“, beschwor Jorinda sie eindringlich.
„Ich glaube nicht“, erwiderte Melisande. „Ich werde wohl fortgehen.“
„Aber wohin denn? Du hast doch niemanden!“, rief Jorinda.
„Eben deshalb“, sagte Melisande. „Hier hält mich nichts mehr.“
Jorinda schaute sie entgeistert an. Tränen traten ihr in die Augen.
„Verzeih, so meinte ich das nicht“, beeilte sich Melisande zu versichern. Sie legte den Arm um die Freundin. „Jorli, versteh mich doch. Ich kann hier nicht mehr leben. Aber du wirst immer in meinem Herzen sein.“
Jorinda machte sich los. „Ich muss gehen, mein Bräutigam wartet“, stieß sie hervor und huschte davon.
„Leb wohl, meine Jorli“, flüsterte Melisande. „Und alles Glück, das diese Erde dir geben kann.“
Sie warf energisch ihren dicken goldblonden Zopf nach hinten, wo er ihr lang über den Rücken hing, und machte sich auf den Weg zu ihrer Hütte. Plötzlich raschelte es kaum vernehmlich neben ihr im Unterholz. Melisande hatte ein feines Gehör und war mit allen Geräuschen des Waldes vertraut. War das ein Tier, oder …? Doch ehe sie sich’s versah, trat eine gebeugte Gestalt in ihren Weg, dick in wollene Tücher und Röcke gehüllt.
„Rautgundis!“, rief Melisande überrascht. „Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst.“
„Du weißt, ich stand deinem Vater nicht nahe. So hielt ich mich lieber fern“, gab die Alte mit rauer Stimme zur Antwort. „Doch was höre ich da, Kind? Du willst dich ganz allein davon machen? Was du vorhast, ist gefährlich.“
„Aber ich kenne mich aus in der Wildnis, mir kann so schnell nichts etwas anhaben“, versetzte Melisande.
Die Alte schüttelte besorgt den Kopf: „O jugendlicher Unverstand! Nichts weißt du von der Welt. Sie ist dunkel geworden, diese Welt! Wir leben in einer bösen Zeit, mein Kind. Da wird ein hübsches junges Mädchen schnell ins Verderben gestürzt!“
„Ach, Rautgundis“, lachte Melisande. „Immer die alte Schwarzseherin! Ich bin keine ahnungslose Göre, die in die erstbeste Falle tappt.“
Inzwischen waren sie an der Hütte angelangt, in der Melisande aufgewachsen war. Leise stöhnend ließ sich die Alte auf der Holzbank neben der Eingangstür nieder: „Lass mich noch ein wenig verschnaufen und die müden Glieder in der Sonne wärmen.“
„Bleib nur, so lange du willst“, sagte Melisande. „Aber hör auf, dir übertriebene Sorgen zu machen.“
Sie fasste nach ihrem Rockbund. „Schau!“ sagte sie und zog das Jagdmesser ihres Vaters hervor. Mit festem Griff holte sie ihren Zopf über die Schulter nach vorn. Ein rascher Schnitt – und das goldblonde Geflecht baumelte in ihrer Hand. „Nicht Melisande zieht in die Welt“, verkündete sie und verbeugte sich kurz: „Gestatten, Melwin.“ Sie schüttelte die kurzen Strähnen und sah dabei tatsächlich aus wie ein Junge. Dann warf sie ihren Zopf in Rautgundis’ Schoß. „Behalt ihn als Andenken.“
Rautgundis seufzte tief. „Ich wusste immer, dass es so kommen würde“, murmelte sie. „Es geht um deine Mutter, nicht wahr?“
Melisande schwieg betroffen, ließ sich neben der Alten auf der Bank nieder und starrte vor sich hin.
„Ich muss sie finden“, erklärte sie nach einer Weile düster. „Ich will wissen, warum sie mich so früh verlassen hat.“
„Sie hatte wohl keine Wahl“, sagte Rautgundis beschwichtigend. „Niemand macht so etwas ohne triftigen Grund.“
„Ach ja?!“, rief Melisande bitter. „Sie hat mich im Stich gelassen, da zählte ich gerade mal zehn Sommer! Mein Vater hat seither kein einziges Wort mehr gesprochen. Sieben Jahre lang! Bis zu seinem frühen Tod. Soviel Kummer! Was für einen Grund gibt es da wohl??? Sag es mir!!“
Rautgundis tätschelte ihr sanft den Arm. „Ich hab getan, was ich konnte, mein armes kleines Küken“, seufzte sie, „aber natürlich war es nicht genug.“
„Aber ich bin dir doch dankbar, über alle Maßen sogar“, versicherte Melisande. „Ohne dich wäre ich verloren gewesen. Du warst mir Trost und Stütze, Ratende und Lehrende. Wann immer ich dich brauchte, warst du zur Stelle.“
„Und jetzt bist du flügge und willst aus dem Nest. Das versteh ich, aber fehlen wirst du mir schon.“
Melisande beobachtete sinnend einen Bussard, der hoch oben seine Kreise zog.
„Sie hat mir gesagt, ich solle sie niemals vergessen. Dabei kann ich mich nicht mal mehr an ihr Gesicht erinnern“, klagte sie leise. „Nur das Lied, das sie mir vor dem Schlafen gesungen hat, das weiß ich noch auswendig. Es ist in einer merkwürdigen Sprache. Sie wollte mir nie erzählen, was es bedeutet.“
Und Melisande begann zu singen: „Gùr mhala, gùr mhala, gùr geharrh, gùr geharrh, khad meha, wul sichte grosh frehàr. Khad meha, khad frehàr …“
„Das ist die Sprache des Schwanenvolks“, sagte Rautgundis. „Und es bedeutet: Schlafe, mein Liebstes, schlafe, mein Liebstes, schlafe, mein Kleinod, schlafe, mein Kleinod, träume schön und wachse heran zu einem wundervollen Geschöpf, träume schön, träume wundervoll …“
Melisande starrte sie verblüfft an. Bevor sie etwas sagen konnte, musste sie mehrmals schlucken.
„Woher … woher weißt du das?“, stammelte sie schließlich.
„Es ist an der Zeit, dir etwas über deine Mutter zu erzählen“, begann Rautgundis. „Sie war ein Schwanenmädchen. Oder gar eine Kriegerin. Dein Vater muss sie aus ihrem Land im äußersten Norden gelockt haben. Oder sie hatte sich in unser Menschenland verirrt …“
„Das verstehe ich nicht“, unterbrach sie Melisande. „Wie konnte sie ein Schwan sein? Sie war doch … ganz … normal …“
Rautgundis strich ihr lächelnd über die Wange: „Die Schwäne haben magische Kräfte, jedenfalls die meisten von ihnen. Sie können sich in Menschengestalt verwandeln, wenn sie es wollen. Und manche verlieben sich und leben unentdeckt mitten unter uns.“
Melisande wurde nachdenklich und blickte eine Weile ins Leere.
„Meine Mutter war nicht verliebt“, sagte sie dann entschieden. „Sie war oft kalt und schroff zu Vater. Trotzdem hing er so an ihr. Wie ein Hündchen. Er hat alles für sie getan. Aber sie, sie war nie zufrieden und nie glücklich. Ich glaube, wir bedeuteten ihr nichts, Vater und ich …“
„Das ist nicht wahr!“, fuhr Rautgundis sie an. „Jetzt tust du ihr Unrecht. Dich hat sie über alles geliebt!“
„Und warum ist sie dann …“
„Sie hatte wahrscheinlich Heimweh nach Eskildenor“, erklärte Rautgundis nun wieder ruhig. „Oder sie hat eine geheime Botschaft bekommen, die sie sofort aufbrechen ließ.“
„Siehst du, deshalb muss ich sie suchen“, sagte Melisande resolut. „Sie schuldet mir eine Antwort.“
„Dann lass mich dir etwas geben, mein Vögelchen.“ Rautgundis kramte in ihrem Umhang und reichte Melisande eine winzige silberne Flöte, kaum so groß wie eine Hand: „Trage die immer bei dir. Wenn du in Not bist, blase hinein. Sie gibt einen Ton, den menschliche Ohren nicht wahrnehmen können, aber du wirst Hilfe erhalten. Und wenn dir jemand naht, dem nicht zu trauen ist, verfärbt sie sich dunkel, dann bist du gewarnt. Wenn sie sich jedoch rot färbt, droht dir große Gefahr.“
Melisande dankte der alten Waldfrau und nahm zärtlich Abschied von ihr.
*
Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang trat sie zum letzten Mal aus der grob gezimmerten Tür der betagten Hütte. Als Kind hatte sie die Tür mit gemalten Blumen und Tieren verziert. Die Bildchen aus Pflanzenfarbe waren mit den Jahren verblasst, doch immer noch sichtbar, wenn man genau hinschaute.
Melisande hatte ihren goldenen Haarschopf unter einer wollenen Mütze verborgen und war bekleidet mit Hosen, Stiefel, einem Männerhemd und einem Wams mit Gürtel. Da-ran hingen das Jagdmesser und ein Wasserschlauch aus Leder. Über der Schulter trug sie einen Proviantbeutel aus geflochtenem Bast, sowie Pfeil und Bogen. Sie sah aus wie ein x-beliebiger junger Jägerbursche auf Wanderschaft.
Einmal noch reckte sie sich, atmete tief durch und schritt dann ohne sich umzublicken in den Wald hinein.
II
Eines Morgens, nachdem sie ohne besondere Ereignisse stetig vorangekommen war, hockte Melisande am neu entzündeten Feuer ihres Nachtlagers und röstete ein paar Nüsse und wilde Getreidekörner in einem kleinen Kupferpfännchen. Außerdem hatte sie frische Beeren gesammelt und aus ihrem Vorratsbeutel einige Stückchen Dörrfleisch hinzugefügt. Da hörte sie, wie sich Schritte hinter ihrem Rücken näherten. Verstohlen warf sie einen Blick auf ihre Flöte. Sie blinkte unverändert silbrig in der Morgensonne. Also verhielt sie sich ruhig und wartete.
Schon hörte sie eine verzückte Stimme: „Hmmm, riecht das köstlich!!“
Und durch die tief hängenden Zweige hoppelte ein Männchen, das ihr gerade bis zur Taille reichte, mit spitz zulaufendem, braun-grünem Hütchen, ebensolchem Rock und dunkelblauen Beinkleidern samt grasgrünen Gamaschen.
Der Fremde machte eine putzige Verbeugung und verkündete:
„Ich bin untröstlich, Euer Gnaden, hier einfach so hereinzuplatzen und Euer Gnaden Morgenmahlzeit zu inkommodieren, aber eine allzu dringliche Botschaft meines Magens, will sagen eines Knurrlautes …“
Hier konnte Melisande ihr Lachen nicht weiter verbergen.
„Ach, was soll’s“, schloss das Kerlchen nonchalant, „ich hab einen Mordshunger und das duftet hier so verführerisch. Ich bin übrigens Towi. Towaldar genauer gesagt. Vom Volke der Nyrvölti.“
„Und ich bin Mel. Melwin genauer gesagt. Aus Belvildis in den Südwäldern. Setz dich her und lang zu, es ist genug da.“
„Das lass ich mir nicht zweimal sagen“, rief Towi aus und ließ sich ans Feuer plumpsen. „Mein Dank sei dir gewiss, teurer Freund.“
„So schnell schließt du Freundschaft?“, spottete Melisande. „Ist das nicht leichtsinnig in diesen Zeiten?“
„Oh, ganz im Gegenteil“, versicherte Towi ihr, während er genüsslich und geräuschvoll kaute. „Es ist sogar ausgesprochen hochsinnig. Ich hab einen Riecher dafür, wer ein braver Kerl ist und wer nicht. Und den Guten öffne ich mein freundschaftliches Herz, ganz frohsinnig.“
Er griente breit und schaufelte sich noch einmal ein Portion des knusprigen Frühstücks in den Mund.
„Sehr edelsinnig, der Herr Gevatter“, bemerkte Melisande schmunzelnd. „Was treibt denn so ein sinnenfroher Bursche vom Volk der Nur…dingsda in diesen Wäldern?“
„Nyrvölti!!“, verbesserte Towi energisch und fuhr mit vor Stolz bebender Stimme fort: „Wir sind ein uraltes Volk! Wir stammen von der Windgöttin Nyrsiv ab.“
„Noch nie von der gehört“, sagte Melisande, während sie das Feuer löschte und das Pfännchen reinigte.
„Nun ja, man kennt sie mehr auf den westlichen Inseln“, räumte Towi ein. „Auf Fardör, da wo ich geboren bin, gibt es jedes Jahr ein großes Fest ihr zu Ehren.“
„Und was verschlägt dich denn nun hier her, kleiner Freund von den Inseln?“
Towi senkte verschwörerisch die Stimme: „Ich habe eine Mission. Eine geheime Mission. Sehr geheim. Gewissermaßen eine geheime Geheim-Mission. Ich kann leider nicht darüber sprechen.“
„Natürlich nicht, sonst wäre sie ja nicht mehr geheim, deine Mission“, sagte Melisande belustigt. „Dann werde ich dich nicht weiter aufhalten. Ich muss jetzt weiter.“
„Hast du auch einen geheimen Auftrag?“, fragte Towi betont gleichmütig.
„So was in der Art“, erwiderte Melisande und schulterte ihren Bogen. „Ich bin auf einer Suche.“
„Eine Suche, soso.“ Towi zupfte zerstreut an seinem braun-grünen Leibrock herum. „Ich bin übrigens gut im Suchen.“
„War das etwa ein Angebot?“, fragte Melisande und zog die Brauen hoch. „Und was ist mit der wichtigen Geheim-Mission?“
„Och …“, machte Towi ein wegwerfende Handbewegung, „die hat Zeit. Ich könnte mir durchaus einen kleinen … sagen wir: Umweg erlauben.“ Er straffte sich, um größer zu wirken. „Natürlich nur, wenn’s dir genehm ist, lieber Freund.“
Melisande lachte. „Na gut, dann begleite mich. Wir werden schon miteinander auskommen.“
*
Die folgenden Tage wanderten die Beiden einträchtig Richtung Norden, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Sie waren schnell aufeinander eingespielt: Melisande, die von ihrem Vater zu einer geschickten Jägerin ausgebildet worden war, sorgte für den Speiseplan. Towi kundschaftete einen Platz fürs Nachtlager aus und sammelte Feuerholz. So durchquerten sie schattige Waldgebiete, in denen die Bäume so dicht standen, dass ihre Kronen ein undurchdringliches grünes Dach bildeten, kämpften sich durch dorniges Dickicht und sperriges Unterholz, wateten durch klare Bäche. Und des Abends waren sie so müde, dass selbst Towis unablässiges Geplauder verstummte.
Irgendwann lichtete sich der Wald, ging über in sanftes Hügelland mit einzelnen Baumgruppen und niedrigerem Buschwerk. An einem von Birken, Lärchen und kompakten Beerengewächsen umsäumten Gewässer beschlossen sie spontan zu übernachten. Melisande hatte noch einen fetten Nager erlegt und bereitete ihn, leise vor sich hinsummend, für die Abendmahlzeit vor. Towi war noch nicht mit dem Feuerholz zurück.
Ein plötzliches Knistern, gefolgt von einem lauten Zischen ließ Melisande verstummen. Alarmiert drehte sie sich um. Vor ihr bäumte sich eine riesige Schlange auf. Ihr langer Leib schillerte in der Abendsonne in allen Farben. Langsam und bedrohlich glitt sie auf Melisande zu. Die wich ebenso langsam zurück. In dem Augenblick tapste, schwatzend wie immer, Towi durch die Bäume, hielt mitten im Wort inne und ließ das gesammelte Holz polternd fallen. Die Schlange wandte sie ihm zu und schoss blitzschnell in seine Richtung.
„Towi, gib Acht!!“, rief Melisande ihm mit gedämpfter Stimme zu. „Das ist eine Jördur-Schlange!!“
„Heiliger Unrat! Ist die giftig??“
„Und wie!! Ein Tropfen von ihr – und wir sind hinüber!! Dauert keine zwei Lidschläge.“
„Prächtige Aussicht! Im Wildschweinsgalopp ins Totenreich. Ausgesprochen ungesund, eine derartige Hast!“ Er wischte sich mit zitternder Hand Schweißperlen von der Stirn. „Wieso starrt die mich so gierig an?? Die will mich als Appetithäppchen verspeisen. Stimmt’s?!“
„Schscht!!“ machte Melisande. „Zappel nicht rum! Das macht sie nur angriffslustiger!“
„Lustiger nennst du das?? Da kann ich mich ja gleich totlachen.“
„Reiß dich zusammen. Ich hol Hilfe“, zischte Melisande.
Sie langte nach ihrer Pfeife, die sich purpurrot verfärbt hatte. Mit aller Kraft blies sie in das winzige Mundstück. Kein Laut war aus dem Instrument zu hören. Dafür glitt ein Schatten an ihr vorbei und stürzte sich um Nu auf die bösartige Natter. Melisande verschlug es fast den Atem. Gebannt schaute sie auf ein kämpfendes Bündel aus grau-schwarzem Fell und bunt glänzender Reptilienhaut, dazu waren ein wütendes Knurren und tückisches Zischen zu hören.
Auch Towi war eine Weile sprachlos und folgte dem Schauspiel mit offenem Mund. Ein Wolf hatte sich direkt hinter dem Kopf der Schlange verbissen. Ihr gewaltiger Leib zuckte und peitschte wild durch die Luft. Doch der Wolf ließ nicht locker.
„In Deckung!!“, rief Melisande Towi zu und zerrte ihn aus der Kampfzone. „Die Jördur-Haut ist auch giftig! Sie darf uns auf keinen Fall berühren!“
„Das ist zuviel für einen friedfertigen Nyrvölti-Sproß!!“, keuchte Towi. „Tapferkeit mag ja eine Zier sein, aber man kann’s auch übertreiben mit dem Aufputz.“
Er raffte sich auf und wuselte hektisch durch das Beerengestrüpp davon.
Die Schlange ringelte sich inzwischen ermattet auf dem Boden. Der Wolf hatte sie aus dem Fang gelassen, beugte sich aber gefährlich knurrend mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen über sie. Noch einmal schoss das schmale Haupt der Jördur nach oben. Der Wolf heulte kurz auf. Dann sackte der gewaltige Reptilienleib zusammen und blieb reglos im Staub liegen.
Melisande suchte unter dem verstreuten Feuerholz einen stabilen Stock heraus und stupste das Reptil damit vorsichtig an. Keine Regung. Sie probierte es noch zwei-, dreimal. Nichts. Das gefährlichste Biest der Wälder war tatsächlich tot. Ihr Bezwinger, der Wolf, war wieder verschwunden, ebenso schnell wie er erschienen war.
Doch wohin mit dem Kadaver? Melisande rief nach Towi. Keine Antwort. Erst nach dem vierten Rufen steckte er seine Nase hinter einem Birkenstamm hervor.
„Ist sie…?“
„Ja. Ist sie“, erwiderte Melisande ungeduldig. „Komm, hilf mir. Wir müssen sie wegschaffen.“
„Wegschaffen?? Wie das denn? So riesig, wie die aussieht?“
„Wir brauchen zwei kräftige Äste. Dann rollen wir sie gemeinsam da hinüber in die Büsche.“
„Ach, nichts leichter als das!!“, stöhnte Towi im komischer Verzweiflung, lüftete seinen spitzen Hut und kratzte sich das struppige Haar.
„Stell dich nicht so an!“
„Immer zu Diensten, der Herr.“
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, den Schlangenkadaver ein geraumes Stück weiter ins Gebüsch zu rollen.
Towi schnappte nach Luft. „Jetzt haben wir uns das Abendessen aber reichlich verdient“, keuchte er.
„Dann mach du schon mal Feuer, ich kümmere mich um den Rest“, rief Melisande, die schon auf dem Rückweg zum Lagerplatz war.
„Tyrann“, brummelte Towi. „Wie kann man nur so rastlos sein.“
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- Artikel-Nr.: SW9783961274406458270
- Artikelnummer SW9783961274406458270
-
Autor
Rhea Vallin
- Verlag Novo Books im vss-verlag
- Seitenzahl 100
- Veröffentlichung 20.04.2025
- ISBN 9783961274406
- Verlag Novo Books im vss-verlag