Krankes Herz
Im pulsierenden London prallen zwei Welten aufeinander, als der ungestüme Musikmanager Henk und die stille Putzfrau Dana auf unerwartete Weise verbunden werden. Ein dramatischer Zusammenbruch zwingt den Choleriker zur Ruhe – und in die Obhut der einzigen Person, die seine Launen zu ertragen scheint. Was als reine Zweckgemeinschaft beginnt, nimmt eine brisante Wendung, als plötzlich Henks Eltern vor der Tür stehen und eine perfekte Fassade gefordert ist. Aus einer Notlüge entspinnt sich ein gefährliches Spiel der Täuschung, in dem die Grenzen zwischen Schein und Sein auf beunruhigende Weise verschwimmen. Ihre Ängste vor wahrer Nähe verstecken die Protagonisten hinter einem Vertrag, der Sicherheit verspricht, wo das Herz nach mehr verlangt. Welche verborgenen Sehnsüchte und Geheimnisse liegen unter der Oberfläche dieser ungewöhnlichen Beziehung? Und was geschieht, wenn die Masken fallen?
Dana war im Büro ihrer Chefin. Büro war eigentlich eine völlig übertriebene Bezeichnung für Ediz Demirels Arbeitsraum. Erstens war dieses Büro in einem Container untergebracht. Das Gebäude, in dem die Verwaltung der Reinigungsfirma normalerweise ansässig war, wurde gerade renoviert. Der Vermieter hatte für die Übergangszeit Container bereitgestellt. Aufgrund von Verzögerungen bei den Umbauarbeiten war aus den geplanten drei Monaten inzwischen ein Jahr geworden.
Dana konnte sich sehr gut an ihr Vorstellungsgespräch erinnern. Das hatte noch im normalen Gebäude stattgefunden. Ediz, die inzwischen zu einer wahren Freundin geworden war, hatte dies damals erwähnt, dass sie ja in drei Monaten wieder zurück – an diesem Platz wäre … dem war aber nicht so. Aber Ediz, mit ihrer Gelassenheit, störte das nicht. Zwischen Putzmitteln und -Geräten, zwischen Ordnern und dem Drucker stand ihr Schreibtisch, davor ein Besucherstuhl für Mitarbeitergespräche oder mögliche Kunden, die sich über „Demirel! Putz- und Hausmeisterservice“ informieren wollte. Und obwohl alles so chaotisch war, so berichtete Ediz gerade voller Stolz, hatte sie neue Kunden auftreiben können. Deshalb hatte Ediz auch Dana einbestellt. „Willst Du nicht ein bisschen mehr Zeiten übernehmen? Du hast ja nur die Abendschicht bei ‚Event Heros – Management‘?“
„Nur wenn ich „Jonnsen“ dafür loswerden kann!“ Dana grinste. Bei Ediz hatte das von Anfang an funktioniert. Hier sprach sie fast flüssig. Sie blieb an der ein oder anderen Stelle mal hängen, aber bei Ediz war es ihr noch nie passiert, dass sie Wörter überhaupt nicht herausbrachte. Ihre Chefin schüttelte allerdings den Kopf.
„Nope! Das ist nicht drin.“ Sie sah Dana ernst an. „Du kannst gerne mehr Stunden für mich arbeiten. Aber bei Jonnsen kann ich dich nicht abziehen.“ Wie immer war ihre Chefin ganz klar in ihren Ansagen. Ediz hätte gut Danas Mutter sein können. Sie runzelte die Stirn, nippte an ihrem Kaffee und sprach dann weiter.
„Dana, Du bist die Einzige, die es dort länger ausgehalten hat als nur ein paar Tage! Du bist jetzt sechs Monate dort. All Deine Vorgänger oder Vorgängerinnen sind nach kurzer Zeit wieder gegangen. Warum auch immer, er meckert Dich zwar an – und ich weiß, das ist nicht ok – scheint aber bei Dir immerhin nicht komplett auszuflippen.“
Dana nickte. „Schon ok. Ich putze da weiter. Jonnsen ist schon ziemlich strange. In letzter Zeit kommt er mir so nervös vor. Nicht, dass ich den in Schutz nehmen will, aber irgendwas ist da anders. Er meckert sogar weniger.“ Sie lachte. „Schon komisch, dass man denkt, dass jemand nicht ok ist, nur weil der Typ nicht mehr rummeckert.“
Ediz nickte zustimmend. „Vielleicht hat er sich einfach an Dich gewöhnt und gemerkt, dass all die Unverschämtheiten bei Dir nicht ziehen. Ihm keine Widerrede zu geben, lässt seine verbalen Angriffe ins Leere laufen. Das nervt ihn wahrscheinlich. Du machst das perfekt!“
Dana lächelte. „Danke, aber, um auf Deine Frage zurückzukommen: Mehr Stunden möchte ich nicht übernehmen. Sonst schaffe ich die Schule nicht. Wenn ich von zehn bis eins putze, dann bin ich morgens um 8 nicht fit. Also brauche ich mindestens 1 - 2 Stunden Schlaf am Nachmittag, bis ich mich wieder konzentriert an meine Aufgaben setzen kann. Mehr Stunden – nein, das ist bei mir nicht drin. Tut mir leid, Ediz.“
Ihre Chefin sah das gelassen. „Kann ich verstehen. Wann machst Du denn Deine Prüfung? Spätestens dann bist Du doch weg, oder?“
Dana zögerte. „DD…D…Dazu muss ich erst mal meine Prüfungen schaffen!“ Und jetzt war es doch passiert. Allein der Gedanke an die mündlichen Prüfungen ließ sie innerlich erstarren.
Ediz munterte sie, wie so oft, auf: „Meinetwegen kannst Du gerne kneifen. Aber ich weiß ganz genau, dass Du das schaffst!“
*
Dana grübelte immer noch über das Angebot von Ediz nach, das sie so schnell abgelehnt hatte. Das Geld könnte sie gut gebrauchen. Ihre Einzimmerwohnung lag in einem großen Apartmentkomplex. Das Wort Apartmentkomplex löste allerdings ein völlig falsches Bild im Kopf aus. Apartmentkomplex stand für saubere weiße Hochhäuser mit der perfekten Außenanlage und einem Concierge am Eingang. Jemand, der morgens sagen würde: „Guten Morgen, Frau Kosovic. Wie geht es Ihnen heute?“ Sie würde dann im eleganten Hosenanzug und chicen Pumps an ihm vorbeigehen und antworten: „Sehr gut, James, sehr gut!“
So war ihr Apartmentkomplex allerdings nicht. Es war ein zwölfstöckiges Hochhaus aus grauem Waschbeton. Jede Ebene beherbergt 20 Apartments in unterschiedlicher Größe. Dana hatte ein winziges Einzimmer-Apartment mit Küchenzeile und Bad. Auf 35 qm war sie zu Hause. Wenn sie ihre Tür öffnete, waren Graffiti, Tags und aufgerissene Mülltüten im Hausflur an der Tagesordnung. So manches gestohlene Fahrrad, das bis auf den Rahmen komplett auseinandergenommen worden war, lag im Innenhof. Alles war heruntergekommen und kaputt.
Aber es war billig. Hier wohnte, wer es in London nicht geschafft hatte oder in der Stadt neu war und in einer Art „Wartestellung“ auf ein besseres Apartment lauerte. Meist wurde daraus aber nichts. Je weiter in Richtung Central London, umso höher die Mieten, umso schwieriger einen Platz zu finden.
In Danas Komplex wohnte, wer Probleme mit Drogen oder anderen Süchten hatte. Hier wohnte die Unterschicht, Familien mit Migrationshintergrund, die aufgrund ihrer Kinderschar keine Chance hatten, im schicken Teil von Bromley zu wohnen, und hier wohnte Dana.
Der perfekte Rückzugsort für die scheue junge Frau, die schon vor fünf Jahren nach London gekommen war. Sie hatte vier Jahre gebraucht, um genügend Geld für die Schule anzusparen. Seit letztem Sommer ging sie tagsüber nun endlich ihrem Traum nach. Ihr Ziel: Endlich einen Schulabschluss erhalten. Nachts arbeitete sie für Ediz, um sich das Leben und ihren Abschluss zu finanzieren. Tagsüber sprach sie keiner in dieser riesigen Wohnanlage an, niemand beachtete sie hier. Gut für Dana. Dann musste sie auch nicht antworten.
Kapitel 2 - Der Unfall
Es war erst halb zehn, als Dana den Bürokomplex betrat. Sie war viel zu früh. Wie immer nickte ihr Samuel zu. Er übernahm oft den Nachtdienst an der Pforte und obwohl Dana ihn fast jeden Abend sah, wenn sie bei Event-Heros-Management putzte, hob sie ihren Ausweis, um deutlich zu machen, dass sie wirklich hier in diesem Hochglanz-Bürogebäude sein durfte. Sam sah dann gelangweilt von seiner Zeitung auf, nickte ihr zu und grummelte ein „Gutes Schaffen!“ vor sich hin. Das hatte Routine. Bis auf die Tageszeitung, die jeden Werktag eine andere war, lief die Begrüßung immer gleich ab.
Dana stieg in den Aufzug, der schon auf sie wartete, und drückte auf die „8“. Noch im Aufzug band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog ihren neuen Turban über. Sie hatte diesen auf einem Londoner Krämermarkt gefunden. Diese Lösung war einfacher als das Kopftuch, das sie sonst immer trug, um ihre Haare zu schützen. Dieser Kopf-Wrap verrutschte nicht und außerdem hatte er eine wunderschöne Farbkombination: pink und orange. Premiere für diese Kopfbedeckung! Ob er was dazu sagen würde? Dana erwartete schon einen bissigen Kommentar von „Mr. Raving Idiot“.
Sie betrat den Flur von Event Heros-Management, als sie ein komisches Geräusch wahrnahm. Ein dumpfer Schlag. Dana machte sich auf den Weg, ihre Putzsachen zu holen. Sie wollte in der Küche starten, aber ihre Neugier war stärker. Was war da heruntergefallen? Das musste recht groß oder schwer gewesen sein. Sie blickte über das Großraumbüro hinweg. Nichts, das irgendwie ungewöhnlich erschien. Wo war der Idiot aus dem Eckbüro? Nicht da? Komisch! Auf die Gefahr hin, dass sie gleich einen dieser typischen verbalen Attacken über sich ergehen lassen musste, ging sie schnellen Schrittes in Richtung genau dieses Büros. Irgendetwas zog sie förmlich dorthin.
Zuerst wusste sie nicht, wie sie das einordnen sollte. Es war nichts heruntergefallen. Henk Jonnsen lag regungslos auf dem Boden. Blut am Schreibtisch und auf dem Boden. Das sah böse aus. Dana, die ihre Putzhandschuhe schon anhatte, tastete nach seinem Puls. Sie konnte nichts fühlen. Als sie sich über ihn beugte, konnte sie aber seinen oberflächlichen Atem feststellen. „Gut!“, dachte sie. „Er lebt!“ Sie versuchte, ihn anzusprechen, aber dieser Versuch scheiterte an ihrem Stottern. Sie kam nicht mal zum H in Hallo. „Egal! Der braucht einen Arzt!“, schoss es ihr in den Kopf. Ihre Hand wanderte zur Computermaus auf dem Schreibtisch, der Bildschirm sprang in den Arbeitsmodus zurück. „Kein Passwort!“ Sie atmete auf und mit flinken Fingern öffnete sie eine ihr wohlbekannte Webpage und tippte einen Text in das vorgesehene Fenster.
Dann nahm sie den Telefonhörer und wählte den Notruf.
„Rettungs- und Notdienst. Wie können wir helfen?“ hörte sie über den Lautsprecher. In dem Moment aktivierte sie die Vorlesefunktion.
„Bitte nicht auflegen. Ich kann nur schwer sprechen, deshalb liest der Computer meinen Text! Bitte nicht auflegen. Mein Name ist Dana Kosovic. Ich bin im Upper Office Center in der 23 Oxford Street - 8. Stock. Henk Jonnsen liegt hier in seinem Büro und ist bewusstlos, mit einer großen Platzwunde, die stark blutet. Er braucht Hilfe. Er ist nicht ansprechbar. Bitte schicken Sie sofort einen Arzt!“
Das war ihr Text. Auf der anderen Seite war es still. Sie tippte. „Das ist kein Scherz. BITTE! Der Mann braucht Hilfe!“
Endlich schien der Mann am anderen Ende der Leitung aufzuwachen. „Atmet der Verletzte?“
„Ja“, tippte Dana, „Flach, kaum hörbar“. Ihre Finger fanden die Tasten ganz automatisch.“
„Wie alt ist der Mann?“, kam nun über den Lautsprecher
„Glaube so um die 30“, tippte sie schnell.
„Der Rettungswagen ist schon unterwegs. Das ist ganz nah, die sind gleich da. Ist das Gebäude offen? Sie sagten 8. Stock?“
Wieder tippte Dana. „Ja, ich gebe dem Pförtner Bescheid. Der kann ihnen zeigen, wo sie hinmüssen.“ Sie atmete stockend.
Erst jetzt realisierte sie, wie heftig ihr Herz pochte. Ihre Hände hatten zu zittern begonnen. „Gut. Maximal 10 Minuten. Versuchen Sie, den Patienten anzusprechen. Egal wie. Es ist gut, wenn er spürt, dass jemand bei ihm ist. Ok!“ Dana nickt und tippte dann schnell ein „Ok“. „Ich lege jetzt auf und gebe dem Pförtner Bescheid!“
Das tat sie auf die gleiche Art. Wieder aktivierte sie die Vorlesefunktion der Webapplikation.
„Samuel – hier ist Dana. Herr Jonnsen ist zusammengebrochen. Ich habe den Rettungsdienst gerufen. Du musst sie hereinlassen und zeigen, wo sie hinmüssen. Danke!“
Sie hatte direkt aufgelegt und hoffte, dass Samuel das nicht für einen Scherz hielt. Sie kniete sich neben Henk Jonnsen. All ihre Kraft zusammennehmend, sprach sie ihn an. Diesmal schaffte sie das „HHallllo!“ Sie versuchte sich zu beruhigen, und tatsächlich gelang es ihr, sich verständlich zu machen. Da ihr nichts Besseres einfiel, erzählte sie vom Notruf und dass die Helfer gleich da sein würden. Wie lange sie dazu brauchte, war unwichtig. Der Mann in der Leitstelle hatte gesagt, sie solle Henk zeigen, dass dieser nicht allein sei. Und das tat sie. Sie hielt seine Hand und redete, so gut sie es nur konnte, mit ihm.
Obwohl nur wenige Minuten vergangen waren, fühlte es sich für Dana wie eine Ewigkeit an. Die Wunde begann an den Rändern zu verkleben, aber es floss immer noch Blut und versickerte im grauen Teppichboden, den sie schon so oft gesaugt hatte. Sie drückte seine Hand stärker und betete noch einmal ihren Satz
„DDie kkommen gleich!“, herunter. Und tatsächlich. Die Aufzugtür öffnete sich und Dana hörte Stimmen. Samuel und ein Arzt waren zu hören.
„Hier entlang“, rief der Pförtner. Eine schwere Tasche wurde neben Dana abgestellt.
„Sie haben den Rettungsdienst gerufen?“, fragte der Arzt, ohne Dana anzusehen. Er tastete nach Henks Puls und nachdem er diesen gefunden hatte, prüfte er Schädel und Hals, dann den Rest des Körpers. Währenddessen sprach er Henk an.
„Hallo! Können Sie mich hören?“ Keine Rückmeldung. „Herr Jonnsen! Hallo!“ Eine Art Grunzen kam zurück. „Gut, er kommt zu sich!“ Wieder zu Dana gerichtet, meine er:
„Haben sie gesehen, was vorgefallen ist.“ Sie schüttelt nur den Kopf. Vom Aufzug her waren weitere Stimmen zu hören. Zwei Helfer kamen hinzu, Rettungssanitäter mit einer Trage. Sie versorgten seine Platzwunde schnell und zu zweit hoben sie ihn auf die Trage. „Ok, Abtransport!“ An Dana gerichtet kam nur die Frage:
„Sie sind ok?“ Sie nickte. Schnell schnappte der Notarzt ihr Handgelenk und maß ihren Puls. „Hm, scheint ok. Ich schlage vor, sie gehen jetzt nach Hause. Das können sie auch noch morgen putzen. Ok?“ Wieder nur ein Nicken von Dana. „Danke für Ihre guten Angaben.“
Jetzt endlich schaffte sie es, etwas zu sagen. „Wwas hat er denn?“ Der Arzt zuckte mit den Schultern.
„Schwer zu sagen. Kann alles sein. Irgendwas zwischen Herzinfarkt oder einfach nur zu wenig getrunken. Wir checken das." Er nickte ihr zu. „Einen guten Abend! Ich muss weiter.“ Im Hinausgehen rief er über die Schulter in Richtung Dana: „Trinken sie genug! Nicht, dass sie auch noch umkippen!“
Samuel war bei Dana geblieben. „Bist du ok?“ Sie nickte. „Ich pputze das …“ Samuel meinte nur: „Du hast den Arzt gehört! Mach Schluss!“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nnein.“ Sie holte Luft. „Ich mmuss was tun!“
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- Artikel-Nr.: SW9783961274390458270
- Artikelnummer SW9783961274390458270
-
Autor
Mireen Amara
- Verlag Novo Books im vss-verlag
- Seitenzahl 172
- Veröffentlichung 13.04.2025
- ISBN 9783961274390
- Verlag Novo Books im vss-verlag