Auch eine Jugend

Ein Leben am Rande der Gesellschaft

Ein Jugendlicher zwischen Armut und Aufbruch: Heinrich Sperber ist kein Held, kein Rebell – er ist einer von Tausenden, ein Sohn der Landstraße, der das Elend der deutschen Unterschicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den eigenen Händen tastet. In schonungsloser Ehrlichkeit schildert Adam Scharrer die Geschichte eines Jungen, der von Kindheit an mit harter Arbeit, Hunger und Demütigung konfrontiert wird, der durchs Land vagabundiert, zwischen Aufbegehren und Resignation schwankt – und doch seine Menschlichkeit nicht verliert. Eine autobiografisch geprägte Sozialreportage über Ausgrenzung, Überlebenswillen und Solidarität –... alles anzeigen expand_more

Ein Jugendlicher zwischen Armut und Aufbruch: Heinrich Sperber ist kein Held, kein Rebell – er ist einer von Tausenden, ein Sohn der Landstraße, der das Elend der deutschen Unterschicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den eigenen Händen tastet. In schonungsloser Ehrlichkeit schildert Adam Scharrer die Geschichte eines Jungen, der von Kindheit an mit harter Arbeit, Hunger und Demütigung konfrontiert wird, der durchs Land vagabundiert, zwischen Aufbegehren und Resignation schwankt – und doch seine Menschlichkeit nicht verliert. Eine autobiografisch geprägte Sozialreportage über Ausgrenzung, Überlebenswillen und Solidarität – kraftvoll, erschütternd, zeitlos.



AUCH EINE JUGEND

1. Jugendfreunde

2. Heimat, Landstraße

3. Wanderung ins Nichts

4. Drachselwald



Sechzehn Wochen in Heu- und Strohschobern zu nächtigen, jeden Morgen, wenn die Sonne höher kommt, nach dem Rauch der Bauernhäuser zu schauen, wo zuerst Kaffee gekocht wird, und dann untertänigst vorzusprechen ist gar nicht so schlimm. Ich wurde bald klug und sah mich abends rechtzeitig nach den entsprechenden Freihotels um. Auch wenn es einmal vierundzwanzig Stunden regnet, nimmt man das nicht tragisch. Es geht nicht weiter als bis auf die Haut. Wenn man gerade Pech hat und zwischen Würzburg und Aschaffenburg durch den Spessart wandert, vor dem Regen nirgends ausweichen kann und sich trotzdem unter einen Baum stellt, auch wenn man weiß, dass es dort nicht trockener ist, so gehorcht man eben dem inneren Bedürfnis, sich gegen völlige Wehrlosigkeit aufzubäumen.

Jugendillusionen sind zähe. Der letzte Rettungsanker war bei mir immer, dass die alten Speckjäger auch einmal jung gewesen sein müssen. Wo ich nur konnte, suchte ich etwas aus dem Leben dieser Alten zu erfahren.

Sie hatten alle einmal hier und dort gearbeitet. Hatten Liebste gehabt, schöne Zimmer bewohnt. Daran klammerte ich mich. Die größte Angst hatte ich davor, aufgegriffen und per Schub nach Hause befördert zu werden. Sonst konnte mich so leicht nichts aus der Ruhe bringen – vorderhand. Beweis:

Ich unterbreche meinen eintönigen Trott und stelle mich unter einen Baum. Trotzdem ich wusste, dass ich dort keinen Schutz hatte und deswegen bald wieder weitergehen würde, weil man im Stehen ja doch nicht ausruhen kann. Ich wollte eben momentan nicht länger weitertrotten. Das Wasser lief mir am Körper hinunter. Die Straße war aufgeweicht, und so blieb es nicht dabei, dass bei jedem Tritt nur die Suppe in meinen Schuhen quietschte – sie hatten auch viel zu große Löcher, um Sand, kleine Steine usw. fernzuhalten. Das alles mahlte unter den Sohlen und zwischen den Zehen. Diese Schuhe mussten also von den Füßen. Ich blieb noch eine kleine Weile stehen, hing dem Gedanken nach an Arbeit und die Liebsten, die ich irgendwo einmal, wie auch andere Handwerksburschen, bekommen würde. Vorderhand vielleicht nicht. Ich war körperlich fast noch ein Kind, und viele fragten mich, warum ich von der Schulbank fortgelaufen wäre. Aber so ein bis zwei Jahre auf der Landstraße, dachte ich, dann werde ich schon noch wachsen.

Mit einem Male fühlte ich so etwas wie einen elektrischen Schlag im Körper. Dieses Gefühl kannte ich genau, weil wir in der Lehre mit der Durchleitung von elektrischem Strom durch Maschinen oder Eisenstangen – die der Betreffende, dem das Attentat galt, gerade berührte – eine angenehme Abwechslung sahen. Trotzdem die Elektrizität den ganzen Körper packt, sucht man doch unwillkürlich den Teil des Körpers zu isolieren, wo sie überspringt. Man fühlt dort eine stärkere Erschütterung. So war es auch hier. Dieser Punkt schien bei mir zwischen den Beinen an der unteren Bauchgegend zu sein. Ich fasste mit beiden Händen dorthin und fühlte auch einen Fremdkörper durch die Hose. Um sicherzugehen, schloss ich die Hände aus Leibeskräften zur Faust. Ich merkte, dass der Gegenstand, den ich gefasst hatte, nachgab, und mein Wille zum Leben diktierte den Willen zur Vernichtung des Ungewissen, auch wenn es der Teufel selbst sei. Ich muss sehr stark gedrückt haben, denn ich sah nachträglich die Spuren meiner Fingernägel in meiner Handfläche. Als ich glaubte, dass selbst besagter Teufel tot sein müsse, wenn er es sei, ließ ich los.



Adam Scharrer

Adam Scharrer wurde am 13. Juli 1889 in Kleinschwarzenlohe (heute Gemeinde Wendelstein, Mittelfranken) geboren. Bereits in frühen Jahren prägte ihn das harte Leben der Arbeiterklasse. Nach einer Schlosserlehre führte ihn seine Arbeitssuche durch zahlreiche deutsche Städte sowie nach Österreich, die Schweiz und Italien. Während des Ersten Weltkriegs wurde er als Artillerist an die Ostfront eingezogen. Seine Erfahrungen als Soldat und seine Enttäuschung über die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten radikalisierten seine politische Haltung. Er trat dem Spartakusbund bei und engagierte sich später in der linksradikalen KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands).

Scharrer begann in den 1920er-Jahren mit dem Schreiben. Seine erste Erzählung „Weintrauben“ (1925) wurde anonym veröffentlicht und brachte ihm eine Anklage wegen „literarischen Hochverrats“ ein. Seine Werke sind stark autobiografisch geprägt und erzählen aus der Perspektive der unteren Gesellschaftsschichten. 1930 erschien sein wohl bekanntestes Werk „Vaterlandslose Gesellen“, eine proletarische Antwort auf Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Der Roman ist eine schonungslose Abrechnung mit dem wilhelminischen Militarismus und dem Ersten Weltkrieg.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 musste Scharrer untertauchen und floh zunächst in die Tschechoslowakei, dann in die Sowjetunion. Dort lebte er in einer Autorenkolonie und schrieb weiter über die Nöte der Arbeiter und Bauern. Während seines Exils entstanden unter anderem „Maulwürfe“ (1934), „Pennbrüder, Rebellen, Marodeure“ (1937) und „Der Krummhofbauer und andere Dorfgeschichten“ (1939).

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Scharrer 1945 nach Deutschland zurück und ließ sich in Schwerin nieder. Er arbeitete als Redakteur der „Schweriner Landeszeitung“ und wurde Leiter der Literatursektion im Kulturbund. Trotz seiner politischen Nähe zur Arbeiterbewegung trat er keiner Partei bei.

Adam Scharrer starb am 2. März 1948 in Schwerin an den Folgen eines Herzanfalls, der durch eine hitzige Debatte über den Umgang mit der NS-Vergangenheit ausgelöst wurde. Er hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk, das in der DDR große Verbreitung fand und als wichtiger Beitrag zur proletarischen Literatur gilt.

Seine Bücher, darunter „Vaterlandslose Gesellen“, „Der große Betrug“ und „In jungen Jahren“, geben bis heute Einblicke in das Leben und die Kämpfe der Arbeiterklasse und bleiben ein wichtiges Zeugnis der deutschen Literaturgeschichte.

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