Georg

Georg stellte das Rad hart auf das Pflaster zurück, das Vorderrad hüpfte. „Und du?“, fragte er und warf den Kopf ein wenig zurück. „Wie geht es dir, hast du eine neue Geschichte geschrieben?“ Er wusste, dass ich diese fordernde, vorlaute Art nicht mochte. Ich sah ihn an. Georg wurde unsicher ... „Es ist die Geschichte eines Jungen. Eines Jungen unserer Stadt. Ich glaube, sie ist ziemlich aufregend.“ „Also eine Abenteuergeschichte!“ „Es ist deine Geschichte, Georg!“ Georg wurde rot über beide Ohren. „Na, hör mal! Geht denn das?“ Er fuhr sich aufgeregt mit der Hand übers Gesicht.... alles anzeigen expand_more

Georg stellte das Rad hart auf das Pflaster zurück, das Vorderrad hüpfte. „Und du?“, fragte er und warf den Kopf ein wenig zurück. „Wie geht es dir, hast du eine neue Geschichte geschrieben?“ Er wusste, dass ich diese fordernde, vorlaute Art nicht mochte. Ich sah ihn an. Georg wurde unsicher ... „Es ist die Geschichte eines Jungen. Eines Jungen unserer Stadt. Ich glaube, sie ist ziemlich aufregend.“ „Also eine Abenteuergeschichte!“ „Es ist deine Geschichte, Georg!“ Georg wurde rot über beide Ohren. „Na, hör mal! Geht denn das?“ Er fuhr sich aufgeregt mit der Hand übers Gesicht. „Mit allem Drum und Dran?“ „So gut ich es konnte, in allem.“ „Und was werden die Leute von uns denken, von dir und von mir, wenn sie es lesen?“...



Es war spät geworden an diesem Abend. Nun aber lag Georg in seinem neuen Bett und dachte darüber nach, wie gut es war, einen Bruder zu haben.

Heute hatte er es erlebt, ein Bruder hilft, wenn man selbst nicht mehr weiterweiß.

Es war gut, dass Marek nach Georgs Frage schnell das Gespräch auf den angebrannten Pudding brachte, denn der Vater hatte überrascht die Mutter angesehen, für einen Moment sogar das Essbesteck aus der Hand gelegt. Da fing Marek an, vom Pudding zu reden. Er redete ununterbrochen. Von einer Insel im Stillen Ozean wusste er zu berichten, auf der angebrannter Mandelpudding als Spezialität galt, und er wollte vom Vater wissen, ob es in Takataka einen Flugplatz gäbe und wie man dorthin fliegen müsse, ob über Australien oder andersherum. Takataka war nach Mareks Meinung die Hauptstadt der Puddinginsel, und er war mit einem Sprung am Bücherregal, um auf dem Globus Takataka zu zeigen, denn die Stadt gab es, jawohl.

Die Eltern sahen sich an, als hörten sie Mareks Worte nicht.

Doch Georg hatte das Lächeln gesehen, das sich von Mutters Mund zu den Augen ausbreitete.

Die Luft, die plötzlich warm und schwer über dem Abendbrottisch gestanden hatte, war wieder leicht und durchsichtig geworden, und später lachten sie sogar miteinander. Sie hatten ihren Spaß an den Nachbarn, die an Eisenhuts Wohnungstür klopften, um sich Brot oder Mehl oder eine Zwiebel auszuleihen oder nur nach der genauen Uhrzeit fragten.

„Sie müssen unbedingt erfahren, ob du nun tatsächlich bei uns bleibst“, erklärte der Vater schmunzelnd. Kaule war schon am Nachmittag gekommen und hatte gesagt, was er wollte. Kaule trat, ohne viel zu reden, in den Flur und zog einen Stadtplan unter dem Hemd hervor. „Meine Eltern meinen“, erklärte er, „dass du unbedingt einen Stadtplan brauchst!“ Er breitete die Karte auf dem Fußboden aus und zeigte auf ein dickes rotes Kreuz. „Das hier ist unser Haus.“

Eine halbe Stunde saßen sie noch in ihrem Zimmer zusammen, dann ging Kaule. Er ging wie jemand, der hierher gehörte, und das gefiel Georg sehr.

Vom Bett aus konnte Georg den Stadtplan berühren, der auf seinem Nachttisch lag. Kaule ist ein prima Kumpel, nur manchmal erschreckt er alle mit seinen Ideen, dachte er.

Die Kaugummigeschichte war längst vergessen.

Georg drückte den Kopf tiefer in das weiche Kissen. Er freute sich über das große Zimmer, in das er heute mit Marek gezogen war.

Nun musste er nie mehr in einem Doppelstockbett schlafen! Wenn er nach oben schaute, störte keine Matratze, und er sah die Zimmerdecke, von der an dünnen Fäden Mareks Flugmodelle schwebten. Waren Tür und Fenster gleichzeitig geöffnet, pendelten sie im Luftzug, als warteten sie unruhig auf den Start.

An der gegenüberliegenden Wand stand Mareks Bett. Im Licht der Nachttischlampe blätterte Marek in einem Buch. Wie Matthias hatte auch Marek ihn gefragt, stört es dich, wenn ich noch ein bisschen lese.

„Nein“, hatte Georg gesagt, „lies nur.“

So, im dämmrigen Licht, konnte er in aller Ruhe den Baum an der Tür betrachten. Die Eltern hatten die riesige Fotografie eines alten Baumes an die Tür des Zimmers geklebt, und die war von Georgs Bett aus gut zu sehen.

Georg richtete sich auf. „Du, Marek!“

„Was ist?“

„Meine Frage war blöd, stimmt’s?“

Marek überlegte nicht lange. Ohne das Buch zur Seite zu legen, antwortete er. „Na ja, das passte nicht. Sie sind in das kleine Zimmer gezogen, damit wir mehr Platz haben. Den runden Esstisch haben wir auch extra gekauft. So kann jeder den anderen sehen, und keiner ist am Tisch der Chef. Fand ich gut, die Idee. Ein neues Bett für dich und den Schrank da haben sie besorgt. Was denkst du, wie sie herumgerannt sind. Sogar die Nachbarn sind heute gekommen und wollten sehen, wie es dir gefällt.“

Wieder hörte Georg ihn mit den Seiten rascheln.



Ja, und die Frau Warmbrot, die wegen ihrer kranken Beine die Wohnung schon lange nicht mehr verlassen konnte, hatte sogar angerufen und Georg gefragt, wie er denn zurechtkäme. Als der Vater den Telefonhörer an Georg übergab, deutete er stumm zum Fenster, und Georg konnte Frau Warmbrot in ihrer Wohnung auf der anderen Seite des Hofes sehen.

Wir haben das erste Videotelefon, hatte Marek zu Georg gesagt.

Georg nickte nur, genau wusste er nicht, was Marek ihm erklären wollte.

„Verstehst du überhaupt, was ich meine?“, fragte Marek plötzlich ungeduldig.

„Natürlich verstehe ich das, ist ja nicht schwierig!“

„Siehst du!“ Jetzt richtete sich auch Marek im Bett auf. „Aber das musst du dir vorher überlegen. Kann mir vorstellen, dass es ein Problem für dich ist. Du hier und deine Originalmutter vielleicht ein Stückchen weiter, wenn sie nicht im Knast ist. Trotzdem, das kannst du nicht machen, als ersten richtigen Satz: Ob meine Mutter Lydia noch in der Stadt wohnt? Dass sie da sauer sind, ist doch normal. So was verkneift man sich. Na ja, das lernst du noch. Und nun hau dich aufs Ohr!“

Marek hatte schon bei den letzten Worten das Licht gelöscht. Der alte Baum an der Tür verschwand in der Dunkelheit. Vor dem Fenster bewegte sich die Nacht der großen Stadt in vielen Geräuschen. Irgendwo gluckste und kollerte eine Toilettenspülung, im Hof unten lachte jemand laut auf.

Schon ferner, Autohupen und Züge, die über Schienenstöße hackten.

Georg wünschte sich hundert Ohren, um alles genau zu hören und alles richtig zu verstehen.

Die Nacht hatte den Baum an der Tür und die Flugzeuge an der Zimmerdecke geschluckt. Von Bäumen wusste Georg viel, und hier im Zimmer hielten Angelsehnen die Flugmodelle in der Luft, aber welche Kraft ließ die großen Silbervögel sicher durch die Wolken ziehen? Marek konnte das bestimmt erklären, denn Marek hatte einen Flieger zum Vater. Von seinem Vater wusste Georg nicht einmal den Namen. Aber das ist für ihn nicht wichtig.

Nur, wo Mutter Lydia jetzt wohnte, das hätte er zu gern gewusst, der Vater von Damals interessierte ihn nicht mehr.



19.10.1939 in Berlin-Friedrichshain geboren.

Ausbildung und Arbeit als Motorenschlosser. Ab 1959 Offizier, Flugzeugführer/Navigator der Luftstreitkräfte der DDR. Ingenieur für zivile Flugsicherung, 1972 Entlassung aus der Armee.

Ab 1972 Studium der Theaterwissenschaften an der Theaterhochschule Leipzig, Arbeiten über Heinrich von Kleist, 1977 Diplom.

Dramaturg beim Fernsehen der DDR in Berlin. Seit 1978 freiberuflich tätig.

1978/79, 1981, 1982 Arbeit als Kfz-Schlosser im Rahmen der Entwicklungshilfe der DDR in Angola.

1983/84, 1988/89 Arbeit im UNHCR Flüchtlingscamp für namibische Flüchtlinge (Kwanza Sul in Angola) und im „ ANC Entwicklungs- und Ausbildungscamp Dakawa (Tansania) / Mazimbu“.

Die Berührung mit AFRIKA wird prägend für die schriftstellerische und publizistische Arbeit.

März 1990 bis Oktober 1990 Mitglied der Volkskammer der DDR.

Mitarbeit u. a. im "Ausschuss für Entwicklungspolitik". Als Parlamentarier offizieller Namibiabesuch, Rückführung der in der DDR lebenden namibischen Flüchtlingskinder.

1991 Teilnahme an der Afrikanischen Buchmesse in Harare / Simbabwe.

1994 / 1995 Mitinitiator der Spendenaktion ”Fischkutter für Angola”, 1995 als Maschinenassistent an Bord, Überführung eines ”DDR/Treuhand-Fischkutters” von Rostock nach Luanda.

Seit 1990 Arbeit in Namibia, u.a. Mitarbeit am Konversionsprojekt (ehemalige Basis der Südafrikanischen Luftwaffe, Projektleiter vor Ort) des Bremer Afrika Archivs und des Centre of Africa Studies (Universität Bremen) - "Ruacana Education with Production Centre" in Ruacana / Namibia.

Seit 2005 engagiert in der AFRI-LEO Foundation Namibia/Damaraland.

Bis 1992 Berlin-Prenzlauer Berg, seit 1993 Wohnsitz in Kleinbeuthen bei Berlin, wahlweise Namibia - Swakopmund, Damaraland, Farm Karos.

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  • Artikelnummer SW9783965210127458270.1
  • Autor find_in_page Jürgen Leskien
  • Autoreninformationen 19.10.1939 in Berlin-Friedrichshain geboren. Ausbildung und Arbeit… open_in_new Mehr erfahren
  • Wasserzeichen ja
  • Verlag find_in_page EDITION digital
  • Seitenzahl 276
  • Veröffentlichung 18.05.2020
  • ISBN 9783965210127

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