Vom Eulchen und der Dunkelheit

Zaghaft klettert Eulchen auf den Nestrand. Sehen kann es wohl, aber es findet's gruslig im Dunkeln. Wie soll es da lernen, Mäuse zu fangen? Allein im Nest ist es kalt, und es ist noch grusliger, als nachts auszufliegen. Eulchen beschließt, die Nachbarn zu besuchen. Es klopft bei den wilden Bienen an, trifft das Eichhörnchen, und dann weiß es: Es muss beweisen, dass es genauso gut jagen kann wie alle Eulen. Es gab sich einen Ruck und breitete die Schwingen aus, und siehe, es ging. Wie schön war es, zu fliegen, wie groß war die Welt ... LESEPROBE: Während es noch da saß und überlegte, was es eigentlich hier wollte, sah es... alles anzeigen expand_more

Zaghaft klettert Eulchen auf den Nestrand. Sehen kann es wohl, aber es findet's gruslig im Dunkeln. Wie soll es da lernen, Mäuse zu fangen? Allein im Nest ist es kalt, und es ist noch grusliger, als nachts auszufliegen. Eulchen beschließt, die Nachbarn zu besuchen. Es klopft bei den wilden Bienen an, trifft das Eichhörnchen, und dann weiß es: Es muss beweisen, dass es genauso gut jagen kann wie alle Eulen. Es gab sich einen Ruck und breitete die Schwingen aus, und siehe, es ging. Wie schön war es, zu fliegen, wie groß war die Welt ...



LESEPROBE:

Während es noch da saß und überlegte, was es eigentlich hier wollte, sah es plötzlich ein Paar Augen vor sich, die fast so schön glühten wie seine eigenen, nur eben grün, während Eulen ja bekanntlich gelbe Augen haben.

Erst erschrak unser Eulchen ein bisschen, aber dann besann es sich auf seine gute Kinderstube und sagte höflich: „Gute Nacht und gute Jagd!", denn wie es sich erinnerte, hatte sein Vater Eulerich ihm beigebracht, dass Tiere mit Augen, die nachts leuchteten, Jäger seien wie Eulen auch.

Die Antwort ließ auf sich warten. Endlich kam sie, allerdings klang sie kläglich. „Sie haben mich erschreckt", sagte eine Stimme voller Zurückhaltung. „Sie, da oben, was suchen Sie in meinem Lieblingsbaum? Das hier ist ein Privatgrundstück."

Eulchen besah sich das Wesen, das da hockte. Es war ein Tier, nicht sehr viel größer als es selbst, mit einem runden Kopf, rosiger Nase, langhaarigem, getigertem Fell und einem Schwanz, zwar nicht so puschlig und elegant wie der des Eichhörnchens, aber doch auch recht beachtlich, und vor allem, es trug diesen Schwanz um die Vorderpfoten gelegt. Eulchen hatte ja noch nie im Leben eine Katze gesehen. Dann sagte es höflich: „Verzeihung, ich bin einfach angeflogen, und das hier war das geeignetste Landeobjekt in der Flugbahn. Ich wollte Sie nicht stören.“

„Angeflogen?“, sagte die Katze, und ihr Ton verriet Interesse. „Darf ich Ihren Worten entnehmen, dass Sie ein Vogel sind?“

„Ich bin eine Eule“, entgegnete Eulchen, und es klang sogar stolz. Aber das schien die Katze in keiner Weise zu beeindrucken. „Also ein Vogel“, stellte sie fest und fuhr fort: „Ich jage nämlich leidenschaftlich gern Vögel."

Etwas in diesem Ton gefiel Eulchen gar nicht. „Jagen? Mich jagen?", sagte es und musste lachen. „Das würde ich Ihnen nicht geraten haben. Was mich angeht, ich habe einen eisenharten krummen Schnabel und Krallen, so scharf wie Messer, und außerdem keine Angst vor Ihnen."



Während es noch da saß und überlegte, was es eigentlich hier wollte, sah es plötzlich ein Paar Augen vor sich, die fast so schön glühten wie seine eigenen, nur eben grün, während Eulen ja bekanntlich gelbe Augen haben.

Erst erschrak unser Eulchen ein bisschen, aber dann besann es sich auf seine gute Kinderstube und sagte höflich: „Gute Nacht und gute Jagd!", denn wie es sich erinnerte, hatte sein Vater Eulerich ihm beigebracht, dass Tiere mit Augen, die nachts leuchteten, Jäger seien wie Eulen auch.

Die Antwort ließ auf sich warten. Endlich kam sie, allerdings klang sie kläglich. „Sie haben mich erschreckt", sagte eine Stimme voller Zurückhaltung. „Sie, da oben, was suchen Sie in meinem Lieblingsbaum? Das hier ist ein Privatgrundstück."

Eulchen besah sich das Wesen, das da hockte. Es war ein Tier, nicht sehr viel größer als es selbst, mit einem runden Kopf, rosiger Nase, langhaarigem, getigertem Fell und einem Schwanz, zwar nicht so puschlig und elegant wie der des Eichhörnchens, aber doch auch recht beachtlich, und vor allem, es trug diesen Schwanz um die Vorderpfoten gelegt. Eulchen hatte ja noch nie im Leben eine Katze gesehen. Dann sagte es höflich: „Verzeihung, ich bin einfach angeflogen, und das hier war das geeignetste Landeobjekt in der Flugbahn. Ich wollte Sie nicht stören.“

„Angeflogen?“, sagte die Katze, und ihr Ton verriet Interesse. „Darf ich Ihren Worten entnehmen, dass Sie ein Vogel sind?“

„Ich bin eine Eule“, entgegnete Eulchen, und es klang sogar stolz. Aber das schien die Katze in keiner Weise zu beeindrucken. „Also ein Vogel“, stellte sie fest und fuhr fort: „Ich jage nämlich leidenschaftlich gern Vögel."

Etwas in diesem Ton gefiel Eulchen gar nicht. „Jagen? Mich jagen?", sagte es und musste lachen. „Das würde ich Ihnen nicht geraten haben. Was mich angeht, ich habe einen eisenharten krummen Schnabel und Krallen, so scharf wie Messer, und außerdem keine Angst vor Ihnen."

Die Katze räusperte sich leicht verlegen und zog sich ein paar Schritte zurück. „Dann — ehem — dann ist das natürlich was anderes. Entschuldigen Sie schon. Trotzdem dürfen Sie hier nicht einfach eindringen. Privatbesitz, ich sagte es ja schon." Ihre Stimme klang wieder recht gereizt.

Das Wort hatte Eulchen noch nie gehört. So sagte es ganz ehrlich: „Das versteh ich nicht."

Die Katze lachte auf. „Sie sind wohl aus dem Wald, was? Also, das bedeutet, dass dieser Baum mir gehört."

„Ihnen allein?", fragte Eulchen erstaunt. Die Katze bewegte ihre Krallen und schloss zwischendurch mal kurz die Augen, das sah sehr hochmütig aus. Mag sein, ich bin ein dummes Ding vom Lande, dachte Eulchen, aber darum braucht sie sich noch lange nicht so zu haben. Am liebsten wäre es auf und davon geflogen, aber es sagte sich, dass dies die beste Gelegenheit war, etwas über die Stadt zu erfahren, und dass es vielleicht klüger wäre, sich in Geduld zu fassen und die Launen der Katze zu ertragen.

„Ja, er gehört mir", erwiderte die gerade. „Das heißt, eigentlich gehört er den Menschen, denen ich gehöre."

Eulchen seufzte. „Das ist mir alles zu verwickelt. Bei uns im Wald gehört keiner irgendwem, und keinem gehört irgendwas, außer der Beute, aber die muss man sich erst erjagen. Und sitzen darf man in allen Bäumen."

„Tja, mein Liebes", entgegnete die Katze geziert, „hier in der Stadt ist das eben etwas anders." Sie kicherte. „Das heißt, im Prinzip können Sie auch in diesem Baum sitzen, wenn Sie mich vorher um Erlaubnis fragen."

„Aha", sagte Eulchen und fügte geduldig hinzu: „Also dann frage ich hiermit um Erlaubnis, ob ich in diesem Baum sitzen darf."

„Die Erlaubnis ist erteilt", erwiderte die Katze großmütig, als sei sie eine Königin, die jemandem ein Reich verleiht. Eulchen war schon wieder nach Lachen zumute. Aber es bezwang sich. Es sagte: „Gut, das wäre erledigt. Darf ich jetzt etwas anderes fragen?"

„Bitte sehr", antwortete die Katze und zuckte mit den Schultern. Schließlich hatte sie Mitleid mit dem Dummchen vom Walde.



geboren in Wernigerode (Harz), Studium der Germanistik, Latein und Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin (Ost) sowie der Freien Universität Berlin (West).

1961 bis 1973 Dramaturgin am Landestheater Halle im Team von Generalmusikdirektor Horst-Tanu Margraf, Regisseur Heinz Rückert und Bühnenbildner Rudolf Heinrich. In dieser Zeit Bühnenfassungen und Übersetzungen von 16 Händel-Opern aus dem Italienischen.

1973 bis 1977 Dramaturgin und Opernregisseurin am Volkstheater Rostock. Erster Roman "Herr Lucius und sein schwarzer Schwan", erschienen 1973 beim Verlag Neues Leben, Berlin.

Seit 1977 freiberuflich. Seitdem ca. 60 veröffentlichte Buch-Titel, darunter 12 gemeinsam mit Tochter Miriam Margraf, über 20 Hörspiele für Kinder und Erwachsene, Reisebücher, Filmdrehbücher, Libretti für zwei Rockopern, Publikationen in Zeitschriften, Anthologien, Periodika, Rezensionen und Feuilletons in Tageszeitungen.

Auszeichnungen

1970 Händelpreis der Stadt Halle

1978 Lion-Feuchtwanger-Preis der Akademie der Künste der DDR

1988 Nationalpreis der DDR

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