Rentiere in Not

Anko wäre gern mit Vater und Großvater mit dem Rentierschlitten mitgefahren, die als Geschenk für Mutter und das Baby, das sie mitbringen wird, Silberfüchse jagen wollen. Doch Anko kommt erst im nächsten Jahr zur Schule und ist nun der einzige Mann im Haus. Plötzlich regnet es in der verschneiten Tundra – so etwas gab es noch nicht im Februar. Ein Flugzeug kreist über ihm und wirft Papier ab. Anko kann noch nicht lesen, erkennt aber ein Rentier darauf. Erst will Großmutter ihm nicht glauben, dass es geregnet hat, doch dann liest sie selbst. Die Rentiere finden in der vom Regen vereisten Tundra kein Futter, ihre Hufe bluten, weil sie ins... alles anzeigen expand_more

Anko wäre gern mit Vater und Großvater mit dem Rentierschlitten mitgefahren, die als Geschenk für Mutter und das Baby, das sie mitbringen wird, Silberfüchse jagen wollen. Doch Anko kommt erst im nächsten Jahr zur Schule und ist nun der einzige Mann im Haus. Plötzlich regnet es in der verschneiten Tundra – so etwas gab es noch nicht im Februar. Ein Flugzeug kreist über ihm und wirft Papier ab. Anko kann noch nicht lesen, erkennt aber ein Rentier darauf. Erst will Großmutter ihm nicht glauben, dass es geregnet hat, doch dann liest sie selbst. Die Rentiere finden in der vom Regen vereisten Tundra kein Futter, ihre Hufe bluten, weil sie ins Eis einbrechen. Anko und Großmutter bitten den Leiter der Pelztierfarm um Hilfe, doch er will keine Männer abstellen, um die Rentiere zu einer eisfreien Futterstelle zuführen. Also ergreift Anko die Initiative, spannt das alte Rentier Einestange vor den Schlitten und bricht in die Jagdhütte des Vaters auf.

Nur seine kleine Freundin Anjuschka weiß von seinem gefährlichen Vorhaben. Als er bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht zurück ist, suchen alle Männer des Dorfes nach ihm. Anko schläft erschöpft in der Jagdhütte, Einestange hatte den Weg gefunden und ihn gerettet. Werden die Männer nun auch die Rentiere retten können?



„Ich werde Vater suchen“, sagt Anko.

Anjuschka ist bestürzt. So hat sie das nicht gemeint. „Du nicht, ein anderer!“

„Du wirst schon sehen“, sagt Anko, „ich gehe. Ich bin nicht mehr so klein, wie du denkst.“

„Du findest die Jäger nie.“

„Die Steinmänner zeigen mir den Weg.“

„Da kommst du nach Schneezelt, aber nicht zu den Jägern.“

„Ich fahre auf dem Flusseis. Da komme ich hin. Wo der Mückenfluss in unseren Fluss mündet, dort steht die Jagdhütte.“

„Sie wird leer sein.“

„Die Jäger müssen dorthin zurückkehren. Ich lege den Zettel hin und komme gleich wieder nach Dreihäuser.“

„Tu es nicht, tu es nicht“, fleht Anjuschka, und in ihrem Inneren denkt sie mit Hoffen: Vielleicht tut er es doch.

Anko schlägt den Kragen hoch und zieht sich die Kappe in die Stirn. Seine Augen sind kaum noch zu sehen. Er will kein Polarforscher sein. Er will die Rentiere retten.

„Kysch!“, schreit er, und Einestange setzt sich in Gang, und der Schlitten mit dem kleinen Schlitten hinten dran zieht in großer Kurve dem Fuchsberg zu.

Stumm, in einem geheimnisvollen süßen Bangen sitzt Anjuschka hinter Anko.

„In einer Stunde bin ich an der Jagdhütte“, sagt Anko leichtfertig. Weiß er nicht, dass er mindestens zwei Stunden brauchen wird, wenn alles gut geht? „Und noch eine Stunde“, sagt Anko, „und ich bin zurück.“

Einestange zottelt die Steigung hinan. Der Wind malt Rippeln in den Schnee. Neben dem Schwarzen Pfahl auf dem Fuchsberg halten sie. Großvater Kergintos Spaßpfahl ist das. „Nach Moskau 7100 Kilometer.“ Und: „Eismeer 200 Kilometer.“ Anko will nicht siebentausend Kilometer reisen, er will auch nicht zum Eismeer. Er will ein Stückchen in die Tundra.

Der Schwarze Pfahl wirft einen langen Schatten in den Schnee. Im Südwesten schielt die Sonne unter einer Wolkenbank hervor nach Anko. Leise singt der Wind, in der Ferne schreit eine Krähe. „Steig ab, ich fahre jetzt“, sagt Anko.

Anjuschka bleibt sitzen. „Ich fahre mit. Wenn du fährst.“

„Glaubst du es nicht?“

Anjuschka weiß nicht, ob sie es glauben soll.

„Nun steig endlich ab!“, herrscht Anko sie an. „Du bist doch wirklich noch zu klein für die Fahrt.“ Jetzt kommt er sich vor wie Vater Wassil.

„Wenn Wölfe kommen …“, wagt Anjuschka noch einen Einwand.

„Hast du hier je einen Wolf gesehen?“

Es gibt keine Wölfe in ihrem Gebiet, warum sich ängstigen.

Anjuschka bindet ihren kleinen Schlitten los. Anko setzt sich zurecht und ruft das Ren an. Und schon zieht das Gespann durch den weißen Schnee, rutscht den Hang hinunter, braust durch die Ebene wie fünf Stunden vorher der Schlitten der Jäger.

Und wie Anko den Jägern nachgeschaut hat, so steht jetzt Anjuschka neben dem Schwarzen Pfahl. Das Mädchen winkt mit einem gelben Tuch. Wird er es wagen? fragt sich Anjuschka und bebt leise. Sie möchte es so gern, und sie erschrickt gleichsam vor seinem Mut.

Schon fährt Anko, am ersten Steinmann vorbei. Sie winkt noch einmal, aber er sieht es wohl nicht. Der Schlitten tanzt über die Hügelchen. Weiß blendet der Schnee. Anjuschka seufzt, als so das Gefährt mit Anko immer kleiner wird. Zwei Stunden wird er brauchen, dann ist er wieder da. Zwei Stunden? Anko, kehr um! Sie kann nicht mehr schreien, er ist schon zu weit. Es kratzt auch in ihrer Kehle.

Nein, Anko kehrt nicht um. Gleichmäßig zieht der Schlitten in der Ferne seine Bahn. Anjuschka steht und steht und schaut. Ihr schmerzen die Augen. Sie weiß schon nicht mehr, ob sie den Schlitten noch sieht. Plötzlich erwacht sie wie aus einem Traum. Sie schaut sich um, als sei sie erstaunt. Ja, Anko ist wirklich weg. Sie ist ganz allein hier.

Anjuschka stößt einen Jubelschrei aus. Den Rentieren wird geholfen werden. Die Kinder helfen dem Hirsch der Herde. Mit glücklichen Augen setzt sich Anjuschka auf ihren Schlitten und rodelt den Fuchsberg hinunter auf Dreihäuser zu. In zwei Stunden wird sie zurückkehren zum Schwarzen Pfahl und Ausschau halten nach Anko.

Der Junge fährt und fährt, der Schnee stiebt, das Schlittengestänge knarrt. Einestange wirft dem Jungen Schneeklümpchen vor die Brust. Die Kälte ist erträglich. Anko legt die Arme an den Leib, das wärmt mehr. Er hat das linke Bein auf dem Schlitten ausgestreckt, während das rechte auf der Kufe steht. So sitzt er wie Großvater Kerginto. Nur das Pfeifchen fehlt ihm im Mund.

Einestange läuft gleichmäßig, ohne Weisung, ohne Stockhieb und Leinenzug.

Anko schaut zurück zum Fuchsberg, aber er weiß nicht genau, welcher Hügel das ist. Viele gleiche Bodenwellen hat er durchfahren, endlos ist die Weite um ihn.

Jetzt wird Anjuschka zum Dorf zurückgehen . Hat sie etwa gedacht, er kehrt doch um? Baba Lisa wird am Fenster sitzen und stricken. Ankos Geschwisterchen braucht Wolljacken und Mützen und Handschuhe. Hätte er nur ein Fellchen erjagt, das hätte eine Pelzkappe für das Kind ergeben.

Sein Geschwisterchen braucht die Kappe nicht so nötig von ihm. Braucht es etwas, so wird es dies bekommen; sein Geschwisterchen lebt ohne Not. Anko wird den Rentieren helfen, die brauchen seine Hilfe wirklich. Ist nicht er der Schlittenmensch des Märchens, der auf dem Hügel stand und vom Schneehuhn erfuhr, ein Ren sei in Not? Hat er nicht auf dem Fuchsberg gestanden, als das Flugzeug nach Dreihäuser kam und die Botschaft überbrachte? Ist nicht der Schlittenmensch des Märchens unverzüglich aufgebrochen und hat das Ren seiner Herde zugeführt?

Nun zieht er aus, Anko, seine Wangen glühen, sein Herz schlägt wild, Freude ist in seiner Brust. Er stellt sich die Gesichter der Daheimgebliebenen vor, sähen sie, wie er mit dem Gespann durch die Tundra fliegt. Hussa, wer war das? Das war Anko aus Dreihäuser.

Vorbei rast das nächste Wegzeichen, kysch, kysch, Einestange!



Geboren am 7. August 1926 in Zschachwitz.

Volksschule in Dresden, Lehrerbildungsanstalt in Frankenberg. Ab 1944 Wehrmachtssoldat, von 1945 bis 1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Mittelasien.

1950 war er zunächst Hilfsarbeiter, dann Lehrer in Lohmen/Pirna und in Dresden. 1957 legte er das Staatsexamen ab und studierte von 1958 bis 1961 am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig. Seit 1961 freischaffender Schriftsteller in Dresden.

Auszeichnungen

Martin-Andersen-Nexö-Kunstpreis der Stadt Dresden 1966

Alex-Wedding-Preis 1973

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