Omas neuer Opa

Zwei ihr unbekannte Wörter lernt Juliane von ihrem Papa und ihrer Mama. Beide beziehen sich auf ein- und dieselbe Person: ihre Oma. Das eine Wort heißt Vermögen, das andere Wort heißt Büchernärrin. In beiden Fällen geht es um die große Büchersammlung von Julianes Oma. Ein Vermögen, so erfährt ihre Enkelin, bedeutet viel Geld, sehr viel Geld. Eine Büchernärrin sei ihre Oma, weil sie sehr lange überlege, wenn sie ein neues Kleid brauche. Bei Büchern jedoch überlegt sie nie, sagt Mama. Bei einem ihrer nächsten, überraschenden Besuche bei Oma überwindet Juliane zunächst die Angst vor... alles anzeigen expand_more

Zwei ihr unbekannte Wörter lernt Juliane von ihrem Papa und ihrer Mama. Beide beziehen sich auf ein- und dieselbe Person: ihre Oma. Das eine Wort heißt Vermögen, das andere Wort heißt Büchernärrin. In beiden Fällen geht es um die große Büchersammlung von Julianes Oma. Ein Vermögen, so erfährt ihre Enkelin, bedeutet viel Geld, sehr viel Geld. Eine Büchernärrin sei ihre Oma, weil sie sehr lange überlege, wenn sie ein neues Kleid brauche. Bei Büchern jedoch überlegt sie nie, sagt Mama.

Bei einem ihrer nächsten, überraschenden Besuche bei Oma überwindet Juliane zunächst die Angst vor einem Hund und trifft dann auf eine Oma, die irgendwie anders aussieht als sonst:

Oma trug ein Kleid und Schuhe mit hohen Absätzen.

Eine goldene Kette glänzte an ihrem Hals. Die Haare waren sehr schön frisiert. Oma erwiderte Julianes Kuss sehr vorsichtig mit ihrem geschminkten Mund. So hatte Juliane die Großmutter noch nicht oft gesehen, nur wenn die Familie an Feiertagen zum Essen wegging oder ins Theater.

Und dann sieht Juliane, dass ihre Oma noch anderen Besuch hat:

Auf dem Sofa saß ein Mann.

Vor ihm auf dem runden Tisch standen zwei hohe Gläser und eine Weinflasche auf einem Tablett.

Der Mann hatte eine Glatze, die sehr glänzte, und eine lange Nase im schmalen Gesicht.

Oma sagte zu dem Mann: „Das ist meine Enkelin Juliane, meine Jule.“

Der Mann wuchs vor dem Mädchen in die Höhe.

„Herr Büdner“, stellte Oma ihn vor.

„Felix heiße ich auch noch“, sagte der Mann mit tiefer Stimme, „klingt doch besser.“ Julianes Hand verschwand in der großen des Herrn Felix. Dann sank Herr Felix wieder hinunter auf das Sofa. Juliane schaute auf seine Glatze.

Wenig später staunt Juliane noch mehr, denn ihre sonst immer so gastfreundliche Oma bittet sie, zu gehen und an einem anderen Tag wiederzukommen.

„Pass auf, Jule. Träum nicht zu viel auf dem Heimweg.“ Vor dem Haus sah Juliane zum Fenster hoch, hinter dem sie die beiden wusste. Die Gardine wehte im Wind.

Oma aber zeigte sich nicht.

Sonst schaute sie ihrer Jule immer sehr lange hinterher und winkte.

Etwas später beschwert sie sich bei Mama, dass Oma einen Herrn Felix zu Besuch hat, der auf ihrem Sofa sitzt. Sie erzählt, dass Herr Felix mit einem gelben Stock Bücherregale bauen will für Oma.

„Er wird ausgemessen haben, Juliane“, sagte ihre Mutter, „aber wo sollen dort noch Regale hin?“

Aber vielleicht ist dieser Felix Büdner für Oma Ingrid mehr als ein Tischler, der sich um neue Regale kümmert?



Sie war in die erste stille Straße eingebogen, da erkannte sie von weitem Oma und Herrn Felix.

Der schleppte einen Koffer und trug noch eine große Tasche am Riemen über der Schulter. Oma wirkte klein neben ihm. Juliane versteckte sich hinter einem parkenden Auto. Oma und Herr Felix bogen in einen Seitenweg ein.

Juliane wusste, der führte zur Bushaltestelle.

Vorsichtig folgte Juliane den beiden, verbarg sich hinter jedem Strauch. Sie sollten sie nicht sehen.

Aber die beiden vor ihr hatten keinen Blick für andere Leute. An der Haltestelle setzte Herr Felix den braunen Lederkoffer ab und stellte die Tasche darauf. Er schaute zu Oma hinunter. Sie blickte zu ihm hoch.

Juliane dachte: Herr Felix haut ab. Er hat seinen Koffer gepackt und verschwindet.

Und jetzt wird alles gut.

Herr Felix hat die Regale gebaut. Dann kann er ja auch gehen. Herr Felix nahm Omas Hand und hielt sie fest, bis der Bus kam. Dann griff er seinen Koffer, warf sich die Tasche am Riemen über die Schulter. Er stieg ein und winkte.

Und Oma winkte zurück.

Herr Felix rief Oma etwas zu.

Juliane konnte aber nichts verstehen.

Doch plötzlich stieg Oma auch in den Bus ein, hatte gerade noch Glück, denn die Tür schloss sich schon, und der Bus fuhr ab.

Juliane schaute ihm nach, bis er hinter der nächsten Straßenbiegung verschwunden war.

Langsam lief sie nach Hause, tauchte ein in den Lärm des großen Platzes, an dem sie wohnte. Herr Felix ist mit Koffer und Tasche verschwunden.

Oma wollte ihn am Bus verabschieden. Dann ist sie auch eingestiegen, ganz plötzlich.

Das war ein Rätsel, der Kopf schmerzte beim Nachdenken darüber. Das Rätsel ließ sich nicht lösen.

In der Wohnung traf Juliane ihre Mama.

Mama fühlte sich krank und war früher als sonst gekommen.

Juliane konnte die Neuigkeit mit Oma und Herrn Felix nicht bei sich behalten.

„Bist ihnen also nachgeschlichen“, sagte Mama kopfschüttelnd.

„Ich wollte an der Haltestelle zu Oma gehen“, erwiderte Juliane, „aber sie ist ja in den Bus eingestiegen.“

„Vielleicht bringen sie Wäsche weg oder so etwas“, sagte Mama und hielt sich den Kopf. Ihre Augen glänzten fiebrig.

„Wäsche war das nicht“, widersprach Juliane.



Günter Görlich

Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.

Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.

Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.

1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.

Weitere Auszeichnungen:

Kunstpreis des FDGB 1966, 1973

Nationalpreis 2. Klasse 1971

Held der Arbeit 1974

Nationalpreis 1. Klasse 1978

Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979

Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979

Ehrenspange zum VVO in Gold 1988

Goethepreis der Stadt Berlin 1983

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