Und jetzt?

Joe Cullen #2

Die Leiche von Ex-Model Karen Justice wird im Harlem River gefunden — offenbar hatte die erfolgreiche Immobilienmaklerin zumindest einen ernstzunehmenden Feind. Am Tag der Beerdigung wird Detective Joe Cullen unfreiwillig Zeuge, wie der frischgebackene Witwer Tony sich sehr körperbetont mit der ebenfalls anwesenden Star-Fotografin Diana tröstet. Hat das etwas zu bedeuten? Das Thema »sexuelle Obsessionen« beherrscht auch Teile der sogenannten besseren Gesellschaft — im privaten wie äußerst exklusiven Club Frères werden extreme Sexualpraktiken ausgelotet. Und das findet nicht jede(r) gut … »Alle bereit.« Der... alles anzeigen expand_more

Die Leiche von Ex-Model Karen Justice wird im Harlem River gefunden — offenbar hatte die erfolgreiche Immobilienmaklerin zumindest einen ernstzunehmenden Feind.

Am Tag der Beerdigung wird Detective Joe Cullen unfreiwillig Zeuge, wie der frischgebackene Witwer Tony sich sehr körperbetont mit der ebenfalls anwesenden Star-Fotografin Diana tröstet. Hat das etwas zu bedeuten?

Das Thema »sexuelle Obsessionen« beherrscht auch Teile der sogenannten besseren Gesellschaft — im privaten wie äußerst exklusiven Club Frères werden extreme Sexualpraktiken ausgelotet. Und das findet nicht jede(r) gut …



»Alle bereit.«

Der Harlem River, geglättet durch den Konflikt von Gezeiten und Strömung. Drei schmale Rennruderboote lauerten wie Wassersprinter.

»Bereit.«

Es wurde Frühling, und hier und da entlang der Ufer waren noch Überbleibsel des Winters zu sehen, schmutzige Flecken von altem Schnee; doch die Ruderer hatten sich für ihre Aufgabe aufgewärmt, die Sweatshirts ausgezogen und sicher verstaut. Die Uni–Mannschaft trug, was ihr Privileg war, betting shirts – T–Shirts, die sie bei früheren Regatten von gegnerischen Mannschaften gewonnen hatten: das Purpurrot von Harvard, Blau von Yale, Penn und MIT und Cornell. Die zweite und dritte Mannschaft trug Lumpen.

»Rudert!«

Die Ruderboote ächzten. Eine Möwe, aufgeschreckt durch das Aufblitzen der Ruder, flog höher und höher. Die Steuerleute klopften mit den hölzernen Handgriffen der Steuerleinen den Rhythmus, riefen die Wechsel aus. Der Steuermann des Tri–Var war eine Frau, und ihre Sopranstimme hallte von Ufer zu Ufer, Manhattan auf der Steuerbordseite, Randall’s Island backbord. Sie waren weit von zu Hause fort, dem Bootshaus in Spuyten Duyvil; es war Frühlingsanfang, zweimal täglich Training, und der Coach machte Dampf.

Drei Meter siebzig lange Eschenholz–Ruder, die Blätter hellblau und weiß, gruben sich ins Wasser. Acht schlanke Schlagmänner, selbst so lang und geschmeidig wie Ruder, streckten die Beine, drückten sich gegen die Stemmbretter ab – metallene Bügel, in denen ihre Füße von Lederriemen gehalten wurden –, glitten auf Schienen befestigten Rollsitzen zum Bug. Auf halbem Weg zurück krümmten sie die Rücken und versuchten die Ruderholme an ihre Bäuche zu heranzuziehen. Und schließlich, wenn sie sich über die Senkrechte nach hinten beugten, konnten die Schlagmänner nicht weiterziehen; mit einer schnellen Drehung der Handgelenke nach unten befreiten sie dann die Blätter aus dem Griff des Flusses. Dort, wo die Blätter sich eingruben, entstanden winzige Wirbel.

Die Handgelenke immer noch gedreht, so dass die Ruderblätter parallel zur Wasseroberfläche standen, rutschten die Schlagmänner auf ihren Sitzen nach achtern, klappten zusammen, bis ihre Knie fast das Kinn berührten, führten die Ruderholme über die Dollborde, drehten die Handgelenke wieder nach vorn, brachten die Blätter für den nächsten Zug in Position.

Schwingen nennen sie das. Gemeinsam schwingen. Ein Moment, der nicht jeden Tag erreicht wird (und den manche Mannschaften niemals erreichen), ein Augenblick vollkommener Harmonie, Einheit und Symmetrie. Jeder Zug ist sauber, jeder Schlag weit und glatt, jedes Ausheben präzise, jedes Einholen gelassen, so dass die nach achtern verlaufende Bewegung der Sitze auf ihren Rollschienen nicht im Widerspruch zur Vorwärtsbewegung des Bootes steht. Gemeinsam schwingen, ohne ein Stocken, ohne den Rollsitz zu schnell zu bewegen, ohne die Ruder zu verwinkeln, ohne vom Kurs abzukommen. Bei einem Ruderboot greift alles exakt ineinander: Alle Köpfe befinden sich in einer Reihe, alle Hände greifen über die Dollborde hinaus, ohne das Gewicht der Körper folgen zu lassen, was zum Kentern des Bootes führen würde, das keinen Kiel besitzt. Gemeinsam schwingend, gemeinsam schlagend, verschmelzen die acht zu einem und der eine mit dem Boot. Wenn man so dicht am Wasser sitzt, bekommt man das Gefühl unwahrscheinlicher Geschwindigkeit; die Möglichkeit des Fliegens scheint zum Greifen nah.

Jetzt, beinahe an der Spitze von Randall’s, nahe am Hell Gate, wo der Harlem in den East mündet, schwingen alle drei Boote. Das erste in Führung, dann das zweite, dann das dritte, dann wieder das erste, eine halbe Länge, vielleicht, vorauseilend, nie mehr. Der Traum eines jeden Coach, drei Boote, die um die Spitzenposition kämpfen, und der Coach, in der Barkasse dahinter, beugte sich über die Windschutzscheibe hinaus und brüllte überglücklich in sein Megaphon.

Dann stockte er, drosch melodramatisch auf die Luft ein und knallte das Megaphon aufs Kontrollpult der Barkasse, denn der Bugmann der Uni–Mannschaft hatte »einen Krebs gefangen«, hatte sein Ruder zu tief ins Wasser gebracht und konnte es jetzt nicht mehr herausziehen, bekam den Ruderholm gegen die Brust. Folge: Das Boot stand bewegungslos im Wasser.

»Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Der Coach brüllte den anderen beiden Booten nach, langsam ausgleiten zu lassen, dann gab er dem Steuermann ein Zeichen, die Barkasse zum ersten Boot zu bringen, damit er eine kleine Standpauke halten konnte. Es überraschte ihn, als er sah, dass die anderen Schlagmänner sich umgedreht hatten und jetzt spöttisch auf den ungeschickten Bugmann zeigten. Er hoffte nur, dass er sich hier keine Mannschaft von Petzen heranzüchtete.

Nein, sie zeigten auf etwas im Wasser. Also hatte der Bugmann vielleicht doch keinen Mist gebaut, und es wäre auch nicht das erste Mal gewesen, dass irgendwas aus dem Harlem hochgekommen wäre und sich an einem Ruder verfangen hätte: Matratzen, Kisten, Telefonmasten, Herde und Kühlschränke, Kloschüsseln, Stühle, Sofas, Betten, Fahrräder, Motorräder, Autos und Lastwagen – das Strandgut eines Flusses in der Stadt.

Etwas Weißes.

Etwas Glattes und Weißes.

Eine Schaufensterpuppe. Oder eine dieser Schneiderpuppen, nur ein Torso. (Der Coach hatte es noch nie jemandem erzählt, aber als kleiner Junge hatte er sich in das Nähzimmer im ersten Stock des Hauses seiner Großmutter geschlichen und, na ja, hatte ein bisschen herumexperimentiert an der Puppe, die in der Ecke am Fenster stand. Nichts Abartiges – nur, du weißt schon, ein bisschen rumgefummelt eben.) Oh, Himmel, was jetzt?

Der Bugmann und zwei andere hingen über den Dollborden und kotzten in den Fluss. Waschlappen. Nimm sie nur ein bisschen härter ran, und schon spucken sie ihr Mittagessen aus.

… Oh, Jesus, nein.

Das ist keine Schaufensterpuppe, das ist eine …

Oh, Jesus, es ist eine Frau.

Er konnte nicht anders. Als er feststellte, dass es eine Frau war, wurde ihm schlecht.

Mit Brüsten, mit Schamhaaren.

Aber ohne Hände. Ohne Füße. Ohne Kopf.



Jerry Oster ist 1943 in New Mexico geboren, kommt als Zehnjähriger nach New York, besucht die Highschool, geht später auf die Columbia University, wo er Englische Literatur im Hauptfach studiert. Danach hat er einen Job bei United Press International News Service, dann bei Reuter und schließlich bei den New York Daily News. Ein Journalist, ein Mann wie manche seiner Protagonisten. Jerry Oster war Polizeireporter, hat unzählige Tatorte aufgesucht und über alle möglichen Verbrechen geschrieben.

1980 erscheint mit »Port Wine Stain« sein erster Krimi. Der Durchbruch gelingt 1985 mit dem Roman »Sweet Justice«, der von der Kritik sehr positiv aufgenommen wird. Trotz durchweg guter Besprechungen löst Osters amerikanischer Verlag 1992 seinen Vertrag mit dem Autor. Danach sind weitere Romane dank des großen Engagements seines damaligen deutschen Verlags Rowohlt zumindest auf Deutsch erschienen.

Peter Hetzel, sein Lektor bei Rowohlt, verglich Osters kunstvoll komponierte Gesellschaftspanoramen mit einer Bemerkung, die George Grosz über New York machte: »Alles dörrt, siedet, zischt, grölt, lärmt, trompetet, hupt, pfeift, rötet, schwitzt, kotzt und arbeitet.«

Oster ist ein wahrer Meister darin, seine Plots mit scheinbar sinnlosen Ab– und Ausschweifungen auszuschmücken, die dann in ihrer Summe ein atmosphärisch dichtes und plausibles Gemälde dieses »Kolosses unter den Städten« und der dort lebenden Menschen ergeben.

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