12 Stunden Frist

12 Stunden bleiben Manfred Thaler, dann drohen die Entführer seine Tochter zu töten. Es sei denn, er gewinnt bis dahin das von seiner Firma vermarktete Computerspiel. Nur eine Person kann ihm helfen: die Programmiererin des Spiels, Ricky Schäfer. Doch diese hat wenig Interesse daran, ihren ehemaligen Chef, von dem sie sich im Streit getrennt hat, zu unterstützen. Die Suche nach dem Kind wird zur Verfolgungsjagd durch Berlin – und zu einem Spiel gegen einen Gegner, dessen Pläne sehr viel weitreichender sind, als irgendjemand ahnt. Sonnabend, 6. Juli – 11.07 Uhr „Oh Monfree, quelqu'un a enlevé Marie-Claire!“ Dem folgte ein... alles anzeigen expand_more

12 Stunden bleiben Manfred Thaler, dann drohen die Entführer seine Tochter zu töten. Es sei denn, er gewinnt bis dahin das von seiner Firma vermarktete Computerspiel. Nur eine Person kann ihm helfen: die Programmiererin des Spiels, Ricky Schäfer. Doch diese hat wenig Interesse daran, ihren ehemaligen Chef, von dem sie sich im Streit getrennt hat, zu unterstützen.

Die Suche nach dem Kind wird zur Verfolgungsjagd durch Berlin – und zu einem Spiel gegen einen Gegner, dessen Pläne sehr viel weitreichender sind, als irgendjemand ahnt.



Sonnabend, 6. Juli – 11.07 Uhr



„Oh Monfree, quelqu'un a enlevé Marie-Claire!“

Dem folgte ein Schwall weiterer französischer Worte, die Manfred Thaler nicht verstand. Er sprach ohnehin kaum Französisch. Wann immer seine Frau vor Aufregung in ihre Muttersprache verfiel, redete sie so schnell, dass er gar nichts mehr begriff.

„Monique, bitte beruhige dich. Was ist los? Was ist mit Marie-Claire?“

„Sie ’aben entführt mon petit bébé!“ Monique heulte los.

Manfred war für einige Augenblicke erstarrt und umklammerte den Telefonhörer, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Schlagartig überfiel ihn das Gefühl, einen Albtraum zu erleben, der mit der Angst begann, sein Kind nie wiederzusehen. Oh Gott, bitte, nur das nicht! Tausend Gedanken und Bilder schossen ihm durch den Kopf, eins schlimmer als das andere. Das schlimmste zeigte seine kleine Tochter tot in einer trostlosen Umgebung, weggeworfen wie eine zerbrochene Puppe. Panik stieg in ihm auf. Er kämpfte sie mit eisernem Willen nieder. Er musste einen klaren Kopf behalten. Unter allen Umständen, auch wenn ihm vor Angst und damit einhergehender Verzweiflung zum Schreien war. Und zum Heulen.

„Was genau ist denn passiert?“ Hysterisches Schluchzen. „Monique? Rede mit mir!“

„Isch ’abe gelassen ma petite auf die Terrasse nur pour un moment, um zu gehen ins Bad. Als isch komme zurück, sie ist weg. Dafür liegt une lettre in ihre Laufstall.“

„Was für ein Brief?“

„Worin sie stellen ihre absurden conditions. Oh Monfree, du musst kommen sofort nach ’ause!“

Er war schon aufgestanden und schaltete seinen Computer aus. „Hast du die Polizei gerufen?“

„Mais non! Das ’aben sie verboten! Wir rufen la police, und sie töten notre enfant! Monfree, komm schnell!“

„Ich bin unterwegs.“

Er unterbrach die Verbindung und zitterte am ganzen Körper. Er erwog, die Polizei sofort anzurufen. Im Gegensatz zu Monique machte er sich keine Illusionen darüber, dass sie ihr Kind nur lebend wiedersehen würden, wenn sie der Polizei die Sache überließen. Zunächst musste er sich aber selbst ein Bild von der Sache machen. Monique neigte manchmal zu Übertreibungen. Und aus ihrer Schilderung wurde er sowie nicht ganz schlau. Was nicht nur an ihrem halb französischen Gestammel lag. Außerdem hoffte er, dass sich das Ganze als Irrtum oder böser Streich herausstellte.

Andererseits hatte er befürchtet, dass eines Tages so etwas passieren könnte. Niemand war so schnell so erfolgreich wie er, ohne sich ein paar Feinde zu machen und Neider auf den Plan zu rufen. Aber er hatte geglaubt, dass es ausreichte, seine Firma zu sichern, sie mit dem neuesten und besten Equipment überwachen zu lassen und an seinem Grundstück Alarmanlagen und Überwachungskameras anzubringen. Im Leben hätte er nicht damit gerechnet, dass jemand am hellichten Tag in einem Wohngebiet ein Kind von der Terrasse entführen könnte.

Und wenn er nicht jeden Sonnabend, manchmal bis in die Nacht, in seiner Firma arbeiten würde, sondern stattdessen zu Hause gewesen wäre, dann hätte Monique Marie-Claire nicht allein lassen müssen und seine Tochter wäre nicht entführt worden. Oder der oder die Entführer hätten sich das Kind mit Gewalt geholt, wobei irgendjemand möglicherweise schwer verletzt oder sogar tot auf der Strecke geblieben wäre.

Manfred schloss hastig sein Büro ab, aktivierte den Sicherheitscode der Tür und rannte zum Ausgang. Das ganze Gebäude war ausgestorben, weshalb seine Schritte geisterhaft hallten. Weil er der Einzige war, der sonnabends in der Firma arbeitete– nur dann hatte er die größtmögliche Ruhe–, musste er jede Zwischentür auf- und wieder zuschließen. Es schien ewig zu dauern, bis er endlich den Ausgang erreicht hatte und den Schließcode erst für die innere, dann für die äußere Tür eingegeben hatte, wobei er sich auch noch vertippte.

Er sprang in seinen Wagen, der vor dem Haupteingang stand, und parkte mit quietschenden Reifen so heftig aus, dass er beinahe mit einem der Blumenkübel kollidierte, die den Rand des Parkplatzes säumten. Er raste zum Tor und verfluchte den Umstand, dass er hier anhalten und aussteigen musste, um den Sicherheitscode einzutippen, der das Tor öffnete und nach der Durchfahrt wieder anhalten und aussteigen musste, um es zu verriegeln. Er fuhr nach Hause, so schnell er konnte und es der Verkehr erlaubte, und hatte das Gefühl, dass die sechzehneinhalb Kilometer, die er vom Firmengelände auf der Grünauer Straße in Adlershof bis zu seinem Haus in der Koenigsallee in Grunewald brauchte, kein Ende nähmen. Er scherte sich den Teufel darum, dass er auf dem Weg mehrmals geblitzt wurde. Zum Glück waren Schulferien und die A 100 vergleichsweise leer, sodass er wenigstens hier schneller vorankam als gewöhnlich.

Während der Fahrt betete er unablässig, dass sich alles als harmlos herausstellen würde und nicht als Entführung. Marie-Claire war der Mittelpunkt seines Lebens, seit er sie unmittelbar nach ihrer Geburt vor zwei Jahren zum ersten Mal im Arm gehalten hatte. Allein der Gedanke, dass sie sich in fremden Händen befinden könnte, die unsanft mit ihr umgingen und an die Angst, die sie ausstehen musste, drehte ihm den Magen um.

Als er endlich mit einer Vollbremsung vor seinem Haus ankam, erwartete Monique ihn bereits in Tränen aufgelöst an der Gartentür. Sie warf sich ihm in die Arme und weinte herzzerreißend. Er zog sie ins Haus. Die Nachbarn mussten nicht unbedingt mitbekommen, dass bei Thalers etwas nicht in Ordnung war. Zum Glück waren sowohl die Schmidts zur Rechten wie auch die Krampowskis zur Linken seit Tagen im Urlaub. Und Professor Faber von gegenüber spielte hingebungsvoll und bis auf die Straße hörbar ein Nocturne von Chopin auf seinem Flügel und bekam sowieso nichts mit, was draußen vor sich ging.

„Beruhige dich, Monique. Bitte. Wo ist der Brief?“

Sie brachte kein Wort heraus, sondern deutete zum Wohnzimmer. Manfred ging hin und zog sie mit sich, da sie sich an ihn klammerte, ihr Gesicht gegen seine Schulter presste und nicht bereit war, ihn loszulassen. Er musste sie energisch in einen Sessel drücken, ehe sie von ihm abließ. Auf dem Tisch lag ein aufgefalteter Zettel. Er nahm ihn und las die computergeschriebene Nachricht:



Manfred Thaler,

wir haben Ihre Tochter. Wenn Sie sie unversehrt wiedersehen wollen, spielen Sie TRENIGMARIS in Ihrem Haus. Wir überwachen das Spiel mit der Webcam.



Unsere Bedingungen:

1 Verlassen Sie während des Spiels nicht das Haus. Verlassen Sie es oder geben Sie Ihren Laptop in fremde Hände, stirbt Ihre Tochter.

2 Gewinnen Sie alle Levels der Reihe nach von Level 1 bis Level 7 in zwölf Stunden.

3 Verlieren Sie oder benötigen Sie länger als zwölf Stunden, stirbt Ihre Tochter.

4 Haben Sie das Spiel nicht bis 14 Uhr begonnen, stirbt Ihre Tochter. Sobald Sie begonnen haben, bekommen Sie für jeden Level 1 Stunde und 42 Minuten Zeit. Überschreiten Sie bei nur einem Level diese Zeit, haben Sie das Spiel verloren und Ihre Tochter stirbt. Je eher Sie beginnen und je schneller Sie die einzelnen Levels schaffen, desto mehr Zeit haben Sie für die folgenden Levels.

5 Sie erhalten während des Spiels verschiedene Hinweise. Alle Hinweise zusammen führen zum Aufenthaltsort Ihrer Tochter. Level 7 zu gewinnen ist also die einzige Möglichkeit für Sie, sie lebend wiederzusehen.

6 Halten Sie sich akribisch an unsere Anweisungen, sonst stirbt Ihre Tochter.

7 KEINE POLIZEI! Sonst stirbt Ihre Tochter.



Der Countdown läuft.



Jetzt wusste er, was Monique mit „absurden Bedingungen“ gemeint hatte. Die erste Absurdität war, dass die Erpresser kein Lösegeld verlangten. Stattdessen sollte er ein verdammtes Computerspiel spielen. Das war doch Irrsinn! Besonders im Hinblick darauf, dass seine Firma TRENIGMARIS zwar vermarktete, er selbst es aber gar nicht spielen konnte. Er war Geschäftsmann, kein Nerd, der seine Zeit mit PC-Spielen verbrachte.

Und die wiederholte Drohung, dass Marie-Claire sterben sollte, wenn er nicht tat, was diese Wahnsinnigen verlangten, machte ihn wütend und versetzte ihn in Panik. Bis zu Maries Geburt hatte er sich nicht vorstellen können, dass man ein Kind so sehr lieben könnte − dass er jemals ein Kind so sehr lieben könnte. Doch er liebte seine Tochter nicht nur– sogar mehr als Monique, wenn er ehrlich war–, er hätte buchstäblich sein Leben für sie gegeben.

Dass er nicht da gewesen war, als sie entführt wurde, dass er nicht in der Lage war, sie zu beschützen und keine Möglichkeit hatte, sie zu befreien, ließ ihn sich schwach und hilflos fühlen. Ein widerliches Gefühl, das in ihm den brennenden Wunsch weckte, die Entführer zu töten; sie langsam und qualvoll zu Tode zu foltern, damit sie am eigenen Leib seine Hilflosigkeit erfuhren und jeden Schmerz, den sie Marie-Claire vielleicht zugefügt hatten. Er durfte gar nicht daran denken, was die Kerle mit ihr taten. Oder schon getan hatten.

Er sah auf die Uhr. Elf Uhr zweiundvierzig. Ihm blieben noch zwei Stunden und achtzehn Minuten, um mit dem Spiel zu beginnen– einem Spiel, bei dem er wahrscheinlich schon den ersten Zug auf Level 1 verlor. Oh Gott! Wer tat ihm so etwas an?

„Monfree, je t’en prie, commence! Bitte, fang an.“

Er zuckte beim Klang von Moniques Stimme zusammen. Zum ersten Mal empfand er als unangenehm, dass sie seinen Namen auf französische Weise aussprach. Bisher hatte er das charmant gefunden; jetzt gab es ihm das Gefühl, dass sie einen Fremden meinte, nicht ihn.

Verdammt, was sollte er tun? Er konnte TRENIGMARIS nicht spielen und erst recht nicht gewinnen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, Marie-Claire zu retten: Sie mussten die Polizei einschalten, auch wenn die Entführer das verboten hatten. Aber wenn die das mitbekamen… Oh Gott! Er stöhnte und verbarg das Gesicht in den Händen.

Monique zerrte an seinem Arm in Richtung Arbeitszimmer, wo er seinen Laptop stehen hatte. „Monfree, commence!“

Wahnsinn! Das Ganze war der schiere Wahnsinn. Ihm wurde übel. Wenn er versuchte, TRENIGMARIS zu spielen, würde er verlieren und Marie sterben. Wenn er die Polizei einschaltete und die Entführer das bemerkten, würden sie Marie ebenfalls umbringen. So oder so, er, vielmehr Marie verlor in jedem Fall.

Er rannte zum Fenster und schaute auf die Straße. Weit und breit war nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches zu sehen. Alle Autos, die in Sichtweite parkten, gehörten Anwohnern. Die Fenster der gegenüberliegenden Häuser waren teilweise mit geschlossenen Jalousien oder Rollos gegen die einfallende Sommersonne geschützt. Nirgends konnte er ein fremdes oder überhaupt ein Gesicht hinter einer Scheibe sehen. Und da alle Häuser Ein- oder Zweifamilienhäuser waren ohne wechselndes Mietpublikum, war unwahrscheinlich, dass dort einer der Entführer lauerte und Manfreds Haus beobachtete.

Aber wenn doch? Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so hilflos gefühlt wie in diesem Moment der Wahl zwischen Teufel und Beelzebub. Er entschied sich für das kleinere Übel und griff zum Smartphone. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und die Übelkeit verstärkte sich.

Monique fiel ihm in den Arm. „Mon Dieu, was tust du?“

„Ich rufe die Polizei.“

„Non!“

Der Ausruf schrillte unangenehm in seinen Ohren. Den Rest ihrer Tirade verstand er nicht und hätte ihn wohl auch kaum verstanden, wenn sie Deutsch gesprochen hätte. Dass sie mit den Fäusten ziemlich kräftig gegen seine Brust trommelte, verstand er dagegen sehr gut. Er packte sie an den Handgelenken und hielt sie fest.

„Verdammt, Monique, reiß dich zusammen! Ich kann dieses Scheißspiel nicht spielen! Die Polizei ist die Einzige, die Marie-Claire retten kann. Und darum rufe ich die jetzt an.“

Er war sich jedoch keineswegs sicher, ob er damit wirklich das Richtige tat.





13.21 Uhr

Hauptkommissar Aktan Sunay schüttelte den Kopf und reichte den Erpresserbrief Staatsanwältin Paulus, die ihn überflog und an Vera Kalinina vom Erkennungsdienst weitergab, die sofort begann, ihn mit ihrem mobilen Equipment zu untersuchen.

„Das ist die ungewöhnlichste Erpressung, von der ich je gehört habe“, stellte Aktan fest. Er blickte Manfred Thaler und seine Frau an, die auf der Couch saßen, einander im Arm hielten und hofften, dass Aktan und sein Team ihr Kind retteten und die Zuständigkeit der Mordkommission auch für Entführungsfälle kein böses Vorzeichen war. „Und Sie haben wirklich keinen Schimmer, von wem das ist?“

Thaler schüttelte den Kopf.

„Oder wissen Sie, was das soll, Frau Thaler?“

„Non! Je ne sais rien!“ Sie brach in Tränen aus. Zum vierten Mal seit der Ankunft von Aktans Team.

„Herr Thaler?“

Der Mann schüttelte mit verkniffenem Gesicht erneut den Kopf. Aktan war sich nicht sicher, ob die Verkniffenheit der Situation oder dem hysterischen Geheul seiner Frau geschuldet war, das ihnen allen auf die Nerven ging. Ben Eggers, der angeforderte Notfallpsychologe, war noch nicht eingetroffen.

„Nein“, beantwortete Thaler Aktans Frage und sah auf seine Armbanduhr. „Das heißt...“ Er schüttelte zum dritten Mal den Kopf.

„Was? Wissen Sie etwas oder nicht?“

„Nein, ich weiß nichts. Jedenfalls nichts Konkretes. Der Einzige, dem ich so eine Aktion zutrauen würde, ist mein ehemaliger Geschäftspartner. Aber erstens hat der mich schon vor vier Jahren beinahe fertiggemacht, und zweitens würde er Geld verlangen und nicht so eine hirnrissige Forderung stellen.“ Er machte eine ungeduldige Handbewegung. „Sollte ich nicht langsam mit dem Spiel anfangen?“

„Nun bleiben Sie mal ganz ruhig.“ Michael Kohler, der die Fangschaltung an Thalers Laptop und der PC-Station installierte, war die Ruhe selbst und strahlte das auch aus. „Bevor ich hier nicht fertig bin, können Sie sowie nicht anfangen. Keine Sorge, das schaffen wir schon bis zwei Uhr.“ Michael lächelte ihm beruhigend zu. „Wir machen das schon.“

„Hoffentlich.“ Thaler blickte Aktan an. „Sie haben doch Erfahrung mit so was?“

„Haben wir. Wie ist das nun mit Ihrem Partner?“

Aktan wartete auf eine Erklärung, doch Thaler schwieg und tätschelte die Schulter seiner Frau in dem vergeblichen Versuch, sie zu beruhigen. Sein Hemd hatte an der Schulter bereits einen großen nassen Fleck von ihren Tränen.

„Gehen wir das Ganze mal der Reihe nach an. Wie heißt Ihr Partner?“

„Expartner. Takumi Saito.“

„Ein Japaner?“

„Ja. Eigentlich ...“ Thaler schüttelte den Kopf. „Verdammt, wir müssen doch irgendwas tun!“ Er blickte sich gehetzt um.

„Wir sind doch schon dabei, Herr Thaler. Dazu müssen wir jedes Detail wissen, auch Dinge, die Ihnen vielleicht unwichtig vorkommen. Blinder Aktionismus hilft Ihrer Tochter nicht.“

Thaler nickte. „Sie haben recht. Entschuldigung.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Ja, also die Sache mit Takumi. Ursprünglich waren wir Freunde. Das dachte ich zumindest. Ich habe in Mannheim studiert. Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Marketing.“ Er wischte sich wieder über das Gesicht.

„Ach, das ist aber ein Zufall.“ Aktan lächelte. „Ich stamme auch aus Mannheim. Stadtteil Jungbusch. Meine Familie wohnt immer noch dort.“

Das erwähnte er nicht, um sinnlos zu plaudern, sondern um Thaler ein bisschen zu beruhigen und in ihm ein Gefühl von Gemeinsamkeit zu erwecken, damit er zumindest in Aktan einen Verbündeten sah und sich nicht von lauter „Fremden“ umzingelt fühlte. Aktan war seiner Frau zuliebe nach Berlin gezogen. Naila war das einzige Kind ihrer Eltern. Denen hätte es das Herz gebrochen, wenn sie nach Mannheim gezogen wäre. Also hatte Aktan sich nach Berlin versetzen lassen. Aber er vermisste Mannheim manchmal immer noch.

„Ihr Partner hat auch in Mannheim studiert?“, nahm er den Faden wieder auf.

Thaler nickte. „Informatik an derselben Uni. Wir haben beide ein Faible für Mangas; dadurch haben wir uns kennengelernt und irgendwann mit dem Gedanken gespielt, nach dem Studium damit was Zündendes zu machen. Daraus wurde aber zunächst nichts, denn nach dem Abschluss haben sich unsere Wege getrennt, weil ich nach Berlin gezogen bin. Ich hatte hier ein lukratives Jobangebot. Vor gut vier Jahren stand Takumi plötzlich vor meiner Tür. Er hatte eine tolle Idee für ein Manga-basiertes Computerspiel. Aber um es zu realisieren und zu vermarkten, brauchte er Geld. Ich verstehe zwar nicht viel von Computerspielen, aber von Marketing. Die Idee war fantastisch, nach meiner Marktanalyse absolut einwandfrei und vor allem sehr gewinnträchtig. Also haben Takumi und ich unsere Zwei-Mann-Firma gegründet: Thaler-Rengo. Rengo ist das japanische Wort für Union. Ich klapperte mit unserem Konzept die Banken ab, sorgte für Kredite und das Vorabmarketing und holte Sponsoren ins Boot. Takumi entwickelte das Spiel.“

„Dieses TRENIGMARIS.“

Thaler schüttelte den Kopf. „Ein anderes. Wir hatten ihm noch keinen Namen gegeben. Im Nachhinein weiß ich auch, warum er darauf bestanden hat, denn ein halbes Jahr vor dem Launch“, Thaler ballte die Faust und biss die Zähne so stark zusammen, dass Aktan sie knirschen hörte, „ist er mit dem Spiel verschwunden, hat sämtliche Entwicklungsdateien von unseren Servern gelöscht und mich mit einem Riesenberg Schulden sitzen lassen, für den ich als persönlich haftender Gesellschafter geradezustehen hatte.“

„Ich nehme an, Sie haben ihn verklagt?“

Thaler nickte. „Das hätte ich getan, wenn er auffindbar gewesen wäre. Takumi ist untergetaucht. Drei Monate später brachte eine japanische Firma ein Computerspiel auf den Markt, das mit dem identisch ist, das er entwickelt hat. Da ich dank seiner Hinterlist, sämtliche Dateien zu löschen, nicht beweisen kann, dass er das Spiel für Thaler-Rengo entwickelt hat, konnte ich nichts dagegen tun. Natürlich habe ich einen Anwalt konsultiert, aber der sagte, dass ich keine Chance hätte, einen solchen Prozess zu gewinnen. Einmal mangels Beweisen, dass das Spiel ursprünglich für Thaler-Rengo gedacht war, zum anderen weil Takumi japanischer Staatsbürger ist und außerdem unauffindbar. Offenbar hat er keinen festen Wohnsitz. Zumindest nicht unter seinem Namen.“ Wieder ballte er die Faust. „Der Kerl hat doppelt abkassiert. Von mir das Geld, mit dessen Hilfe er das Spiel überhaupt entwickeln konnte, dann das Geld, das er von der japanischen Firma dafür bekommen hat. Und bestimmt ist er auch noch am Gewinn beteiligt.“

„Und was hat es mit diesem Spiel auf sich – TRENIGMARIS?“

Thaler warf wieder einen Blick auf die Uhr. „Das ist doch jetzt vollkommen unwichtig, Herr Sunay. Finden Sie meine Tochter, bevor die Zeit abläuft!“

Das dürfte unmöglich sein, da es bis jetzt keinen Anhaltspunkt dafür gab, wo man nach dem Kind suchen sollte. Aktan musste Thaler überzeugen, dass sie ohne seine Auskünfte auch kaum einen finden würden. Er blickte Michael Kohler an, der sich immer noch an Thalers Laptop zu schaffen machte.

Michael nickte ihm zu. „Schaltung steht. Sobald sich die Entführer über den Laptop oder das Telefon melden, fangen wir sie.“ Mit dem Telefon hatte sich ein zweites Team beschäftigt und eine Fangschaltung eingerichtet.

Thaler sprang auf. „Worauf warten wir dann noch?“

Aktan machte eine beschwichtigende Handbewegung. Bevor er etwas sagen konnte, kam Michaels Kollege Lukas Jung und stellte einen Laptop auf den Tisch vor die Staatsanwältin. Sigrid Paulus war die oberste Instanz bei den Ermittlungen und hatte wie Aktan und sein Team Bereitschaft gehabt, weshalb sie für diesen Fall zuständig war. Aktan stellte sich neben sie und sah ihr über die Schulter.

„Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras von der Terrasse. Die Typen sind mit einem Motorboot vom See gekommen.“ Lukas drückte die Entertaste. Die Aufzeichnung wurde abgespielt und gleichzeitig an Hauptkommissarin Rebecca Goldberg und die Leute in der sofort eingerichteten Einsatzzentrale im Präsidium am Platz an der Luftbrücke übertragen. Goldberg hatte die Einsatzleitung der BAO, der besonderen Aufbauorganisation, die bei Kindesentführungen unverzüglich gebildet wurde.

Das Grundstück der Thalers lag am Halensee und hatte hinter dem Haus einen Zugang zum Wasser. Aktan bat Thaler und seine Frau, sich die Aufzeichnungen anzusehen. Haus und Grundstück waren in einer Weise mit Überwachungskameras bestückt, dass jeder Winkel erfasst wurde. Vorbildlich, aber es hatte die Entführung nicht verhindern können.

Eine Kamera zeigte Monique Thaler, wie sie auf der Terrasse mit ihrer Tochter spielte. Nach einer Weile setzte sie das Mädchen in den Laufstall und ging ins Haus. Keine Minute später kam das Boot in Sicht, das mit drei Leuten besetzt war. Sie trugen dunkelblaue Overalls und hatten sich Sturmhauben aufgesetzt. Zwei Personen sprangen an Land. Einer rannte auf die Terrasse, während der andere mit einer Maschinenpistole in der Hand die Aktion sicherte. Der Dritte blieb im Boot. Der Mann, der auf die Terrasse zulief, warf einen Briefumschlag in den Laufstall, ehe er dem Kind die Hand auf den Mund presste – Monique Thaler wimmerte, als sie das sah–, es aus dem Laufstall hob und mit ihm zurück zum Boot rannte. Mit aufheulendem Motor drehte es vom Ufer ab und verschwand Sekunden später aus dem Erfassungsbereich der Kameras. Das Ganze hatte keine zwei Minuten gedauert.

Offenbar hatten die Entführer die ganze Aktion nicht nur von langer Hand geplant, sondern auch das Haus schon eine Zeit lang beobachtet, sonst hätten sie nicht den perfekten Moment abpassen können.

„Eindeutig Profis“, stellte Sigrid Paulus fest.

Sie trat auf die Terrasse hinaus. Aktan folgte ihr. Ein Teil von Vera Kalininas Team war damit beschäftigt, den Laufstall zu untersuchen, ob es daran Fingerabdrücke oder Faserspuren gab, die nicht von den Thalers stammten. Weitere Teammitglieder untersuchten akribisch den Boden vor der Terrasse.

Sigrid Paulus beschattete die Augen und blickte zum See. „Die haben sich wahrscheinlich bei der Insel versteckt und gewartet, bis der Zeitpunkt günstig war.“ Sie deutete auf die gegenüberliegende Seite des Sees.

Dem Grundstück der Thalers direkt gegenüber befand sich eine kleine Insel, kaum fünfzig Meter lang und höchstens halb so breit. Im Schatten der dort bis ans Ufer wachsenden Bäume, deren Zweige teilweise so tief hingen, dass sie beinahe das Wasser berührten, hatte sich das dunkle Motorboot problemlos verstecken können. Von dort konnte man die Terrasse bequem einsehen, besonders wenn man ein Fernglas nahm.

„Die Route, die sie genommen haben, ist auch klar“, meinte Aktan. „Hinter dem See ist die Trabener Straße.“ Er deutete nach rechts. „Die sind bestimmt schräg übern See Richtung Friedenthalpark. Ungefähr hundert Meter hinter dem letzten Haus geht der Weg zum Park bis fast ans Wasser. Ich wette, die haben da mit dem Auto gewartet und über die Trabener Straße die Fliege gemacht. Auf dieser Seite ist zu viel Trubel, beim Ristorante und dem Hallenbad. Und um zur Halenseestraße zu kommen, müssten sie am Park vorbei. Da sind bei diesem Wetter zu viele Leute, die sie hätten sehen können.“

„Ich lasse das überprüfen.“ Sigrid Paulus griff zum Smartphone und rief in der Zentrale an. „Frau Goldberg, wir brauchen ein Team Trabener Straße und Friedenthalpark. Das Kind wurde mit einem Motorboot über den See entführt und wahrscheinlich dort in einem Wagen abtransportiert. Lassen Sie die Anwohner befragen, ob denen was aufgefallen ist.“

Aktan wusste, dass das nicht viel bringen würde – mitten in den Sommerferien bei herrlichem Wetter, und der Zeitpunkt der Entführung war gegen elf Uhr gewesen. Die Hälfte der Leute, die am See wohnten, war verreist, die andere Hälfte tummelte sich im Halensee-Freibad, im Park oder anderswo im Freien oder waren zu Hause mit Kochen beschäftigt. Wenn die Entführer klug waren, wovon Aktan ausging, hatten sie, wahrscheinlich noch bevor sie das andere Ufer erreicht hatten, die Sturmhauben abgenommen, die Overalls ausgezogen und die Waffen verborgen, sodass sie, falls man sie gesehen hatte, nur drei Männer mit einem Kind gewesen waren.

Aber selbst wenn sie aufgefallen waren, würde es dauern, bis die Kollegen jemanden gefunden hätten, der sie gesehen hatte und beschreiben konnte. Aktan kehrte mit der Staatsanwältin ins Haus zurück und wandte sich an die Thalers.

„Herr Thaler, Frau Thaler, ist Ihnen einer der Entführer auf dem Video bekannt vorgekommen?“

„Wie denn?“, fauchte Thaler und deutete auf den Bildschirm, auf dem der leere Laufstall im Standby zu sehen war. „Die Typen haben Masken getragen, falls es Ihnen entgangen sein sollte.“

Aktan blieb vollkommen ruhig. Dies war nicht der erste Entführungsfall, den er vor Ort betreute. Die Angehörigen waren immer außer sich und reagierten abwechselnd verzweifelt, aggressiv, niedergeschlagen oder völlig irrational. Und oft genug alles zusammen. Er hatte sogar einmal erlebt, dass die Mutter eines von seinem Vater entführten Jungen mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen hatte, weil er ihrer Meinung nach nicht schnell genug arbeitete.

„Vielleicht kommt Ihnen etwas an der Art bekannt vor, wie sich einer von ihnen bewegt hat? Auch daran kann man Menschen zuverlässig erkennen.“

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