Das bist du - eine Allegorie des Menschseins

Ein Schauspiel

In diesem visionären und intensiven Werk von 1918 thematisiert Friedrich Wolf die tiefsten Fragen menschlicher Existenz: Wer sind wir? Was bedeutet es, zu leben, zu lieben, zu sterben und wiedergeboren zu werden? In einer surrealen Welt aus Wandel und Verwandlung entfaltet sich ein symbolträchtiges Drama, das die Grenzen von Individualität, Gemeinschaft und kosmischen Kräften auslotet. „Das bist du“ ist eine faszinierende Mischung aus philosophischer Reflexion, emotionaler Tiefe und dramatischer Spannung – ein zeitloses Schauspiel, das heutige Leser genauso berührt wie vor über 100 Jahren. VORSPIEL Erscheinung einer Bergkuppe von... alles anzeigen expand_more

In diesem visionären und intensiven Werk von 1918 thematisiert Friedrich Wolf die tiefsten Fragen menschlicher Existenz: Wer sind wir? Was bedeutet es, zu leben, zu lieben, zu sterben und wiedergeboren zu werden? In einer surrealen Welt aus Wandel und Verwandlung entfaltet sich ein symbolträchtiges Drama, das die Grenzen von Individualität, Gemeinschaft und kosmischen Kräften auslotet. „Das bist du“ ist eine faszinierende Mischung aus philosophischer Reflexion, emotionaler Tiefe und dramatischer Spannung – ein zeitloses Schauspiel, das heutige Leser genauso berührt wie vor über 100 Jahren.



VORSPIEL

Erscheinung einer Bergkuppe von eisigem Licht erhellt. Nebel fetzt um die Flanken des Berges. Einzelne Wiesen werden sichtbar und verschwinden.



ERSTES WESEN springt auf die Kuppe: Oben!

ZWEITES WESEN hinter ihm her: Ich trug dich!

DRITTES WESEN ebenso: Ich stach dich, bis du sprangst!

ERSTES WESEN: Was für ein Wort dies: Ich?

ZWEITES WESEN erstaunt: Warst du nie: Ich?

ERSTES WESEN: Weiß nicht.

DRITTES WESEN sticht erstes Wesen mit einem langen Stachel: Spürst du dich jetzt?

ERSTES WESEN: Wie meinst du das?

DRITTES WESEN erstaunt: Fühlst du keinen Schmerz?

ERSTES WESEN: Was ist das: Schmerz?

ZWEITES WESEN zu drittem Wesen: Ach, er war noch nie geboren.

DRITTES WESEN: Der Arme!

ZWEITES WESEN: Oder er hat es vergessen.

ERSTES WESEN zu zweitem Wesen: Sag, was ist das: geboren?

ZWEITES WESEN: Schwer zu sagen; für jeden ein andres.

DRITTES WESEN zu zweitem Wesen: Wie war’s denn mit dir zuletzt?

ZWEITES WESEN: Wart mal – zuletzt? Plötzlich. Da war ich ein Schuh, erst am Fuß eines Grafen. In vielen Hotels haben wir verkehrt; ich ward mit Milch gereinigt und mit Flanell gerieben. Aber der Graf selbst fasste mich nur mit zwei Fingerspitzen, und die andern taten’s, weil sie’s mussten. Ich ward auch bald verbraucht, kam zum Kammerdiener, und der gab mich dem Stalljungen. Nun, dacht ich, hast du’s elend; nun geht’s dir dreckig. So war’s. Aber als der Stalljunge mich so matt und schmierig sah, sprach er: „Warte du!“, kratzte mir die Poren aus, hauchte und rieb mit dem Ärmel seines Wollhemdes.

DRITTES WESEN: Ha, ha, das ist schon was Bessres.

ZWEITES WESEN: Ja, und dabei ächzte er: „Warte du!“ Das gefiel mir, und ich gab mir Mühe, blank zu scheinen. Plötzlich hielt er mich von sich, musterte mich fröhlich und sagte: „Na, Alterchen?“ Nun musste ich förmlich lachen, denn: Alterchen, das hatte noch niemand zu mir gesagt. Er aber meinte: „Schau, wie du mich anlachst!“

DRITTES WESEN: Sagte er wirklich: anlachst?

ZWEITES WESEN: Ja! Und jetzt spürte ich, dass ich Leben in mir hatte!

ERSTES WESEN starr: Was ist das: Leben?

DRITTES WESEN: Wart’s ab! Sonst stech ich dich!

ZWEITES WESEN lachend: Er spürt’s ja nicht; aber damals lebte ich, weil …

DRITTES WESEN: Weil?

ZWEITES WESEN zögernd: Weil der Stalljunge mich liebte.

DRITTES WESEN: Glaubst du, dass Liebe Leben erwecken kann?

ZWEITES WESEN: Das tut sie doch.

DRITTES WESEN: Oder: dass man ohne Liebe tot ist?

ERSTES WESEN: Was ist das: tot ist?

DRITTES WESEN: Ich glaube, wir müssen ihm etwas beibringen! Stößt einen summenden Ton aus.



Viertes und fünftes Wesen springen von rückwärts auf die Kuppe.



VIERTES WESEN: Wer summte? Der Ton macht mich rasend!

DRITTES WESEN: Weshalb?

VIERTES WESEN: Er erinnert an den Schleifstein. Ich war eine Axt. Begreifst du das, oder soll ich dich in Stücke hauen?

DRITTES WESEN: Hast du einmal eine Biene in Stücke gehauen? Auf erstes Wesen deutend. Aber dort steht einer, der möchte wissen, was „tot sein“ ist.

VIERTES WESEN erstes Wesen betrachtend: War er schon lebend?

DRITTES WESEN: Das weiß er nicht.

VIERTES WESEN: So werde ich mich hüten. Erregt. Vielleicht ist er der Ewig-Gleiche? Wer den anrührt, der kann nicht mehr verwandelt werden.



Zweites und drittes Wesen weichen entsetzt zurück.



ERSTES WESEN: Was ist das: der Ewig-Gleiche?

DRITTES WESEN: Er fragt schon wieder!

VIERTES WESEN verächtlich: Er ist doch wohl ein Mensch. Ich habe schon viele Menschen in meiner Behandlung gehabt. Tritt auf erstes Wesen zu. Soll ich dich erschlagen, Mensch? Hast du Angst?

ERSTES WESEN: Was ist das: Angst?

VIERTES WESEN zu den anderen: Er ist hoffnungslos! Kommt!



Zweites, drittes und viertes Wesen verwehen. Erstes Wesen steht unbeweglich und starrt ins Leere.



FÜNFTES WESEN tritt leise hinter erstes Wesen: Weißt du auch nicht, was Leben ist?

ERSTES WESEN: Nein.



Fünftes Wesen legt ihre Hand an die Stelle seines Herzens.



ERSTES WESEN bebend: Was ist das?

FÜNFTES WESEN: Errat’s!

ERSTES WESEN aufatmend: Ach … du?

FÜNFTES WESEN: Was ist das: du?

ERSTES WESEN erwachend: Was ich nicht mehr bin und einst war … ein Teil von mir?

FÜNFTES WESEN: Den du wieder erlangen möchtest …

ERSTES WESEN aufflammend: Dich! Dich!

FÜNFTES WESEN: Still! – Weißt du jetzt, was Leben ist?

ERSTES WESEN: Ein Sicherinnern …

FÜNFTES WESEN: Und Lieben?

ERSTES WESEN: Ein Sichwiedererkennen.

FÜNFTES WESEN ihn umarmend: Du …



Eine Wolke weht beide hinweg. Zugleich stehen zweites, drittes und viertes Wesen wieder auf der Kuppe.



DRITTES WESEN: Wo ist er?

ZWEITES WESEN: Heda! Huhihahe!

DRITTES WESEN: Er hört ja nicht.

VIERTES WESEN: Sicher ein Kieselstein. – Ich habe ordentlich Lust, wieder einmal mit Menschen umzugehen.

DRITTES WESEN: Sie nutzen uns nur aus.

VIERTES WESEN: Sie glauben es; aber auf einmal sind wir doch Herr über sie.

ZWEITES WESEN: Ja, sie merken nicht, dass auch in uns Leben steckt. Ich ließ einst meinen Grafen über einen meiner Schnürsenkel stolpern, dass er das Bein brach, nicht ins Feld brauchte und so sein Leben rettete. Und was denkt ihr, dass diese Hochnase behauptete?

DRITTES WESEN: Nun?

ZWEITES WESEN: Er habe sich das Bein gebrochen!

DRITTES WESEN: Grafen renommieren stets.

VIERTES WESEN: Still! – Ich spaltete einst einem den Schädel, weil ich mich hübsch handgerecht legte, den Stiel der Hand zu. Der böse Mensch aber, der dies gewollt hatte, wurde von einem anderen – guten – Menschen enthauptet.

ZWEITES WESEN: Sie glauben, ihr Wille geschehe überall, aber es gibt tausend andere Willen.

DRITTES WESEN: Ich dächte, es gäbe nur einen?

VIERTES WESEN: Hahahaha …



Ein Donnerschlag verschlingt die Erscheinung.



Friedrich Wolf (* 23. Dezember 1888 in Neuwied; † 5. Oktober 1953 in Lehnitz) war ein deutscher Arzt, Schriftsteller und Dramatiker, der sich besonders durch seine politische und literarische Arbeit einen Namen machte.

Friedrich Wolf wurde als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Er studierte von 1907 bis 1912 Medizin, Philosophie und Kunstgeschichte in verschiedenen deutschen Städten und promovierte 1913 in Medizin. Während des Ersten Weltkriegs diente er als Truppenarzt und entwickelte sich zum entschiedenen Kriegsgegner. Nach dem Krieg engagierte er sich politisch und wurde Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats in Dresden.

Wolf war ab 1928 Mitglied der KPD und verfasste zahlreiche politisch engagierte Werke. Sein bekanntestes Drama, "Cyankali" (1929), prangerte das Abtreibungsverbot des § 218 an und löste eine breite gesellschaftliche Debatte aus. Neben seiner literarischen Tätigkeit arbeitete er als Arzt und engagierte sich für die Rechte der Arbeiterklasse.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte Wolf 1933 in die Sowjetunion, wo er weiterhin literarisch aktiv war und für Radio Moskau arbeitete. Während des Spanischen Bürgerkriegs versuchte er, als Arzt an den Internationalen Brigaden teilzunehmen, blieb aber in Frankreich. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er in Frankreich interniert, konnte jedoch 1941 mit sowjetischer Hilfe nach Moskau zurückkehren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Wolf nach Deutschland zurück und engagierte sich in der DDR kulturpolitisch. Er war Mitbegründer der DEFA und der Deutschen Akademie der Künste. Zudem diente er von 1949 bis 1951 als erster Botschafter der DDR in Polen. Friedrich Wolf starb 1953 an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin beigesetzt.

Wolf hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk, das durch seinen politischen und sozialen Einsatz geprägt ist. Seine Söhne Markus und Konrad Wolf setzten sein Erbe als bedeutende Persönlichkeiten der DDR fort.

Staatliche Auszeichnungen

1943: Orden Roter Stern

1949: Nationalpreis der DDR II. Klasse für das Theaterstück Professor Mamlock

1950: Nationalpreis der DDR I. Klasse für den Film Rat der Götter.



Werkverzeichnis

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