Weintrauben
Erzählung eines Arbeiters
Ein Mann sitzt allein in seiner Wohnung. Der Sturm draußen scheint sein Innerstes zu spiegeln. Zwischen verstreuten Papieren, Erinnerungen und Schmerz beginnt er zu schreiben – seine Geschichte, die Geschichte eines Arbeiters.
Adam Scharrer erzählt eindringlich vom Leben in den 1920er Jahren, von der Zerrissenheit zwischen politischem Engagement und familiärer Verantwortung, von Armut, Klassenkampf und einem unerbittlichen Schicksalsschlag, der alles verändert.
Weintrauben ist mehr als ein persönlicher Rückblick – es ist ein erschütterndes Zeugnis proletarischer Lebensrealität, das auch heute noch durch seine Authentizität, Klarheit und emotionale Tiefe bewegt. Eine Geschichte über Liebe, Verlust und die Kraft, trotz allem weiterzugehen.
Ins besetzte Gebiet zu kommen war nicht schwer. Doch hatte der französische Militarismus seine Taktik gegen früher schon geändert. Im Anfang versuchte er es mit „Arbeiterfreundlichkeit“. Er ließ die revolutionären Arbeiterorganisationen möglichst ungeschoren und unterstützte sogar jede Schwierigkeit, die das Proletariat des besetzten Gebietes den deutschen Machthabern durch Forderungen bereitete. Diese Tatsachen hatten schon große Teile der Arbeiterschaft verwirrt. Sie liefen zu den Separatisten über. Auch in den Arbeiterorganisationen kam es zu Auseinandersetzungen. Die Franzosen arbeiteten mit allen Mitteln der Bestechung und des Justizterrors. So waren die Genossen oft unter sich nicht mehr vor Denunziationen sicher, denn auch die Spitzel in den eigenen Reihen waren vorsichtig. Die einzige Methode, die Spitzel auszusondern, bestand neben der Beobachtung in der prinzipiellen Zerlegung der Gedankengänge, die gekaufte Elemente in die Organisation tragen wollten, bekleidet mit einem Mantel revolutionär sein sollender Phraseologie. So kamen die Genossen, die unbedingt Vertrauen zueinander hatten, im Geheimen zusammen und beschlossen, eine prinzipielle reinliche Scheidung vorzunehmen. Der Aufenthalt illegaler Genossen wurde nie genannt und stets gewechselt. Zu Versammlungen wurde erst kurz vor Beginn eingeladen. Die Erfahrungen der Berliner Arbeiter in illegalen Zeiten wurden mit Erfolg zunutze gemacht, und es währte nicht lange, dann war in der einen, der zweiten, der dritten Stadt die Spreu vom Weizen gesondert. Sobald der Feind aus den eigenen Reihen verbannt war, ging es wieder zum Angriff über. Mit Flugblättern, Zeitungen, mündlich. Doch ward die Anwesenheit fremder „Aufwiegler“ rasch bemerkt, und die Hunde waren auf deren Fersen. Doch über die Mittel und Wege, wie sie genasführt wurden – in diesem Fall rächten sie sich durch wahllose Verhaftungen –, soll hier nicht die Rede sein, aus ganz natürlichen Gründen. Die Tätigkeit war mit Erfolg beinahe vollendet. Noch eine letzte Instruktion im letzten Ort.
Bei allem Flüchtlingsleben hat Papa wohl an die Weintrauben, an den Wein, an den Kaffee, an die Schokolade gedacht – und Glück gehabt. Bis zur Abreise sollte alles ins unbesetzte Gebiet geschafft werden, durch den Wirt selbst, einen Genossen, der dies freudig übernahm und es sich nicht nehmen ließ, den Löwenanteil selbst zu tragen. Es ließen sich die Tage ausrechnen, wo der D-Zug Papa nach Berlin bringen wird und der Lohn für Strapazen und Gefahren seiner wartet.
In diesem Vorgefühl der Freude ging es abends von der Wohnung eines vertrauten Genossen ins Versammlungslokal. Von meiner Anwesenheit waren nur wenige unterrichtet und nur zuverlässige Genossen eingeladen. Ich betrat froh angeregt den dunklen Raum, um alle Kämpfer zu begrüßen, doch statt des herzlichen Empfanges auf allen Gesichtern stummes Schweigen. Keiner rührte sich vom Fleck.
Der erste Gedanke, der mir ob dieses Gebarens aufstieg, war der, in einer Mausefalle zu sitzen, von Spitzeln und geheimen Polizisten umstellt, und dass die dort versammelten Genossen schon einen Entschluss gefasst hatten. Doch hatte ich keine Zeit, dem weiter nachzuhängen. Ein alter Bekannter kam auf mich zu und gab mir einen Wink, beiseite zu kommen. Mich bei der Hand nehmend und einen flüchtigen Gruß stammelnd, frug er: „Hast du Nachricht von deiner Frau? War sie gesund, als du weggingst?“ Ein zweiter Genosse sah meine Überraschung und konnte nicht länger an sich halten. Er empfing die Post von der Organisation. „Sag es ihm doch, dass seine Frau – gestorben ist“, kam es aufgeregt über seine Lippen. Ersterer überreichte mir stumm einen Fetzen Papier, ein Telegramm. Dort stand: „A. sofort benachrichtigen. Frau verstorben. V.“
Adam Scharrer
Adam Scharrer wurde am 13. Juli 1889 in Kleinschwarzenlohe (heute Gemeinde Wendelstein, Mittelfranken) geboren. Bereits in frühen Jahren prägte ihn das harte Leben der Arbeiterklasse. Nach einer Schlosserlehre führte ihn seine Arbeitssuche durch zahlreiche deutsche Städte sowie nach Österreich, die Schweiz und Italien. Während des Ersten Weltkriegs wurde er als Artillerist an die Ostfront eingezogen. Seine Erfahrungen als Soldat und seine Enttäuschung über die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten radikalisierten seine politische Haltung. Er trat dem Spartakusbund bei und engagierte sich später in der linksradikalen KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands).
Scharrer begann in den 1920er-Jahren mit dem Schreiben. Seine erste Erzählung „Weintrauben“ (1925) wurde anonym veröffentlicht und brachte ihm eine Anklage wegen „literarischen Hochverrats“ ein. Seine Werke sind stark autobiografisch geprägt und erzählen aus der Perspektive der unteren Gesellschaftsschichten. 1930 erschien sein wohl bekanntestes Werk „Vaterlandslose Gesellen“, eine proletarische Antwort auf Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Der Roman ist eine schonungslose Abrechnung mit dem wilhelminischen Militarismus und dem Ersten Weltkrieg.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 musste Scharrer untertauchen und floh zunächst in die Tschechoslowakei, dann in die Sowjetunion. Dort lebte er in einer Autorenkolonie und schrieb weiter über die Nöte der Arbeiter und Bauern. Während seines Exils entstanden unter anderem „Maulwürfe“ (1934), „Pennbrüder, Rebellen, Marodeure“ (1937) und „Der Krummhofbauer und andere Dorfgeschichten“ (1939).
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Scharrer 1945 nach Deutschland zurück und ließ sich in Schwerin nieder. Er arbeitete als Redakteur der „Schweriner Landeszeitung“ und wurde Leiter der Literatursektion im Kulturbund. Trotz seiner politischen Nähe zur Arbeiterbewegung trat er keiner Partei bei.
Adam Scharrer starb am 2. März 1948 in Schwerin an den Folgen eines Herzanfalls, der durch eine hitzige Debatte über den Umgang mit der NS-Vergangenheit ausgelöst wurde. Er hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk, das in der DDR große Verbreitung fand und als wichtiger Beitrag zur proletarischen Literatur gilt.
Seine Bücher, darunter „Vaterlandslose Gesellen“, „Der große Betrug“ und „In jungen Jahren“, geben bis heute Einblicke in das Leben und die Kämpfe der Arbeiterklasse und bleiben ein wichtiges Zeugnis der deutschen Literaturgeschichte.
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- Artikel-Nr.: SW9783689124670458270
- Artikelnummer SW9783689124670458270
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Autor
Adam Scharrer
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 81
- Veröffentlichung 07.05.2025
- ISBN 9783689124670
- Wasserzeichen ja