Die Sowjetmacht Bd. 1

Die Revolution der Bolschewiki 1917

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war nicht das Ergebnis eines Putschs einer hochdisziplinierten und autoritär geführten Partei, wie es viele Jahrzehnte in der Geschichtswissenschaft dargestellt wurde. Der amerikanische Historiker Alexander Rabinowitch zeigt in seiner glänzenden Studie, dass die engen Beziehungen der Bolschewiki zu den Arbeiter- und Soldatenmassen und die Unterstützung, die sie in den Betrieben gewonnen hatten, die entscheidenden Faktoren für ihren Sieg im Oktober waren. Detailreich schildert Rabinowitch die Entwicklung von den 'Juli-Tagen' bis zum Oktoberaufstand 1917 in Petrograd (St. Petersburg). Als die erste Auflage von The... alles anzeigen expand_more

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war nicht das Ergebnis eines Putschs einer hochdisziplinierten und autoritär geführten Partei, wie es viele Jahrzehnte in der Geschichtswissenschaft dargestellt wurde. Der amerikanische Historiker Alexander Rabinowitch zeigt in seiner glänzenden Studie, dass die engen Beziehungen der Bolschewiki zu den Arbeiter- und Soldatenmassen und die Unterstützung, die sie in den Betrieben gewonnen hatten, die entscheidenden Faktoren für ihren Sieg im Oktober waren. Detailreich schildert Rabinowitch die Entwicklung von den 'Juli-Tagen' bis zum Oktoberaufstand 1917 in Petrograd (St. Petersburg).

Als die erste Auflage von The Bolsheviks Come to Power erschien, war das Schicksal vieler Petrograder Bolschewiki, die in meinem Buch eine bedeutende Rolle spielen, noch ungeklärt. Dies ist nicht länger der Fall. Einige starben im Kampf ums Überleben während des Bürgerkriegs. Zu ihnen gehören W. Wolodarski und M. Urizki (beide Opfer von Terroranschlägen in Petrograd), A. I. Sluzki, W. K. Sluzkaja, I. A. Rachia und S. G. Roschal. Viele, die den Bürgerkrieg überlebten, verloren ihr Leben im Großen Terror Stalins. So erging es den meisten Mitgliedern, die auf dem Sechsten Parteitag Ende Juli 1917 ins Zentralkomitee gewählt worden waren und Anfang der 1930er Jahre noch lebten, Stalin selbst natürlich ausgenommen. Unter den Opfern der Säuberungen waren T. Smilga, L. B. Kamenew, G. E. Sinowjew, A. S. Bubnow, N. N. Krestinski, J. A. Bersin, W. P. Miljutin, A. I. Rykow, N. I. Bucharin und Leo Trotzki (der von einem Agenten Stalins in Mexiko ermordet wurde). Zu den prominenten Opfern der Säuberungen unter den Mitgliedern des bolschewistischen Petersburger Komitees zählten A. G. Schljapnikow, P. A. Saluzki, M. J. Lazis, I. N. Stukow, G. E. Jewdokimow, W. A. Antonow-Owsejenko, G. I. Boki, S. M. Gessen, M. A. Saweljew, J. N. Jegorowa, S. K. Ordschonikidse und M. P. Tomski (die beiden Letztgenannten entgingen ihrer Hinrichtung durch Selbstmord). Folgende Mitglieder der bolschewistischen Militärischen Organisation wurden ermordet: W. I. Newski, N. W. Krylenko, M. S. Kedrow, K. A. Mechanoschin, A. F. Iljin-Schenewski und F. P. Chaustow; zwei prominente Kronstädter Bolschewiki; auch F. F. Raskolnikow und A. M. Ljubowitsch fielen Stalin zum Opfer. Zu den prominenten Petrograder Bolschewiki, die sowohl den Bürgerkrieg wie auch Stalins Terror überlebten, gehörten W. M. Molotow, M. I. Kalinin, Jelena Stasowa, Alexandra Kollontai und N. I. Podwoiski.«



Auf der Leipziger Buchmesse stellt der Mehring Verlag mehrere Neuerscheinungen vor. Mit dem Buch „Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917“ veröffentlicht er zum ersten Mal das Hauptwerk des amerikanischen Historikers Alexander Rabinowitch in deutscher Sprache.



In den USA ist dieses Werk bereits 1976 unter dem Titel „The Bolsheviks Come to Power“ erschienen und seitdem ein Standardwerk der Geschichtswissenschaft geworden. Es wurde in sieben Sprachen übersetzt. In Deutschland jedoch hat sich keiner der großen Verlage dafür interessiert.



Der Grund liegt in den Vorzügen, die Rabinowitch als Historiker auszeichnen.



Erstens ist er ein unerschütterlicher Anhänger der dokumentengestützten Geschichtsschreibung. „Herausfinden wie es eigentlich war“ ist sein Credo. Seit seiner Jugend arbeitet er systematisch und unermüdlich in Archiven, unterzieht die dort vorhandenen oder auch anderweitigen Quellen einer umfangreichen, sorgfältigen und kritischen Auswertung. Jedes Detail seiner Darstellung ist durch überprüfbare Dokumente belegt, zum Beispiel durch Sitzungsprotokolle, persönliche Notizen, Aussagen von Zeitzeugen oder Akteuren des Geschehens, Zeitungsberichte, Briefe usw.



Zweitens, Rabinowitch achtet beständig darauf, die gebotene, um Objektivität bemühte Distanz des Wissenschaftlers gegenüber seinem Forschungsgegenstand zu wahren. Dennoch lässt sich aus seiner Darstellung der historischen Ereignisse unverkennbar tiefe Sympathie für die unterdrückten Massen herauslesen, für die aus dem furchtbaren Gemetzel des Weltkriegs heimkehrenden Soldaten, für die hungernden Arbeiterfamilien in den Städten und für ihre landlosen, verzweifelten bäuerlichen Verwandten auf dem Land. Nicht eine vorgefasste Ideologie, sondern die Ergebnisse seiner eigenen Forschungsarbeit brachten ihn dazu, in diesen Massen die treibende und tragende soziale Kraft der Revolution zu sehen.



Deshalb zieht er nicht nur Regierungsdokumente und Memoiren damaliger Politiker für seine Arbeit heran, sondern auch Dokumente, Zeugenaussagen, Zeitungsartikel über die Auseinandersetzungen in den Fabriken, Wohnvierteln, in den unteren Rängen der Armee. Akribisch untersucht und belegt er, wie in den bolschewistischen Parteiversammlungen, in den Sitzungen und Beschlüssen der Parteigremien – nicht immer in Übereinstimmung mit den Vorstellungen Lenins – die Stimmungen und Forderungen dieser verschiedenen Schichten Eingang gefunden hatten.



Rabinowitch kommt zum Ergebnis, dass die bolschewistische Partei, im Gegensatz zu den Jahren später unter Stalin, 1917 eine relativ offene Partei war, die in ihrem Innenleben von freimütigen Diskussionen und demokratischen Entscheidungen geprägt war. Gerade deshalb war sie in der Lage, eine sehr enge Beziehung zu den breiten Massen herzustellen, die von den Ergebnissen der Februarrevolution enttäuscht waren, sich immer mehr radikalisierten und sich der Partei der Bolschewiki und ihrem Programm zuwandten.



Mit diesen Forschungsmethoden und Ergebnissen stand und steht das Werk Alexander Rabinowitchs in krassem Gegensatz zur ideologiegetriebenen Geschichtsschreibung des Kalten Krieges, die auch in Deutschland vorherrschte und die Regale der Buchläden dominierten. Als Beispiel eines ihrer führenden Vertreter sei hier nur Richard Pipes genannt. Ihre Darstellung war auf einem vorgefassten antikommunistischen Konzept, nicht auf Forschung gegründet und lautete: Die Oktoberrevolution war nichts weiter als der Putsch einer kleinen Bande revolutionärer Verschwörer unter der Führung von Lenin und Trotzki. Diese hätten hinterlistigerweise die Nöte und Bedürfnisse der kriegsmüden und hungernden Massen erkannt und, gestützt auf eine in eiserner Disziplin dem Parteiführer Lenin blind folgende Parteimitgliedschaft, für ihre Machteroberung ausgenutzt.



Im Osten war die Konzeption, diktiert von den Legitimationsbedürfnissen der stalinistischen Bürokratie, nicht viel anders; allerdings wurde hier Trotzki, der neben Lenin wichtigste Führer und Theoretiker der Revolution, aus Fotos und Geschichtsbüchern wegretuschiert und durch Stalin ersetzt, der als engster Mitarbeiter und rechtmäßiger Nachfolger Lenins dargestellt wurde. In Wirklichkeit stand Stalin zu Beginn des Jahres 1917 einer Machteroberung der Arbeiter ablehnend gegenüber, und danach spielte er darin eine völlig untergeordnete Rolle. Sofern Zeitzeugen und Dokumente zur russischen Revolution angeführt wurden, fanden im Westen wie im Osten nur jene Eingang in die Geschichtsbücher, die in das vorgegebene Konzept passten.



Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges hat sich durch die Öffnung der Archive in Russland die Quellenlage deutlich verbessert. Alexander Rabinowitch gehörte zu den ersten Historikern aus dem Westen, die diese Chance sofort nutzten und sich in die Archive von Moskau und Petersburg stürzten, um das neu zugängliche Material zu prüfen. Er konnte jedoch feststellen, dass die neuen Dokumente seinen früheren Forschungsergebnissen nicht widersprachen, sondern sie bestätigten.



Dennoch war keiner der großen Verlage in Deutschland, wie Beck, Hanser, Suhrkamp, bereit, „The Bolsheviks Come to Power“ auf Deutsch zu veröffentlichen. Und zwar obwohl auch hierzulande Spezialisten der russischen Revolution wie Bernd Bonwetsch in Fragen der Darstellung und Einschätzung der Juli-Ereignisse und des Kornilow-Putschs und seiner Folgen den Auffassungen Rabinowitch weitgehend zustimmten. Was ist der Grund dafür?



Postmodernismus und Poststrukturalismus - Absage an Geschichtswissenschaft



In der akademischen Welt der historischen Institute und der Verlage ist die Vorherrschaft der Kalten Krieger durch die der Postmodernisten, Poststrukturalisten und Konstruktivisten abgelöst worden. Diese bekämpfen eine der Rekonstruktion der historischen Wahrheit verpflichtete Geschichtswissenschaft, und dies umso erbitterter, je mehr die Öffnung der Archive in Russland und Osteuropa sie erleichtert hat.



Für diese Ideologen gibt es keine objektive Wahrheit, keine Ursache-Wirkung-Beziehung in der Geschichte. All dies und selbst objektiv vorliegende Dokumente gehören in ihren Augen ins Reich rein subjektiver Anschauungen und „intersubjektiver Konventionen“, „Narrative“ (Erzählungen) und „Repräsentationen“.



So macht sich Jörg Baberowski, Geschichtsprofessor an der Humboldt Universität Berlin und Vertreter dieser subjektivistischen Geschichtstheorie, über jene Historiker, die wie Rabinowitch ab 1990/91 nach Moskau und Leningrad eilten, mit folgenden Worten lustig: „…so erstrahlt für manchen von ihnen die Geschichte auch heute noch umso deutlicher im Glanz der Authentizität, je mehr Quellen in das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit treten. Quellen gelten ihnen als Mosaiksteinchen, die sich zu einem Ganzen zusammensetzen lassen, und aus denen sich die Vergangenheit für die Menschen der Gegenwart hervorbringt. Historiker, die sich der Rekonstruktion vergangener Welten verschreiben, begründen ihre Tätigkeit im Verweis auf die Lücken, die zu füllen seien. Dieses Argument hat mit der Öffnung der Archive in der ehemaligen Sowjetunion an Überzeugungskraft leider [sic] noch gewonnen. (…) Die Sowjetunion als Großbaustelle, auf der Historiker die ganze Geschichte Schritt für Schritt in die Gegenwart zurückholen, – das ist es, wovon Historiker auch heute noch träumen. Das motiviert ihre Jagd auf stets neue Quellen (…). Der Anspruch, zu zeigen, wie es eigentlich gewesen sei, erweist sich in Wahrheit als Illusion. Was dem Historiker in den Quellen gegenübertritt, ist nicht die Vergangenheit (…), Vergangenheit ist Konstruktion.“(1)



Das kleine, emotionsgeladene Wörtchen „leider“, das Baberowski bei seinen methodologischen Ausführungen entrutscht, enthüllt Motiv und Stoßrichtung der postmodernistischen und poststrukturalistischen Angriffe: den alten, von Antikommunismus durchtränkten Konzepten der ideologischen Geschichtsschreibung zur Oktoberrevolution 1917 soll auch nach Ende des Kalten Krieges weiterhin die Vorherrschaft in den Universitäten, Feuilletons und Buchläden erhalten bleiben.



Gerade weil nach der Öffnung der Archive durch eine kritische Erschließung und Auswertungen zahlreicher, bisher unter Verschluss gehaltener Dokumente ihre Haltlosigkeit, ihr Widerspruch zur Faktenlage belegt werden kann, wird ihnen von den Postmodernisten umso eifriger derselbe wissenschaftliche Charakter, dieselbe Legitimation von „Narrativen“ und „Repräsentationen der Vergangenheit“ zugeschrieben wie den Forschungsergebnissen, welche historische Dokumente sorgfältig erschließen und kritisch auswerten. Beide liefern, so die Postmodernisten und Poststrukturalisten, lediglich „Repräsentationen“ oder „Konstruktionen von Vergangenheit“. Die mühevolle, dokumentenbasierte Erforschung und Darstellung der historischen Wahrheit sei „Illusion“, völlig vergebliche Liebesmühe! So lautet das Credo des Postmodernismus und ähnlicher Theorien. Es stellt in Wirklichkeit eine Absage an die Geschichtswissenschaft überhaupt dar.

Die Veröffentlichung des Buches von Alexander Rabinowitch durch den Mehring Verlag richtet sich gegen diese Theorien und Bemühungen postmodernistischer Dozenten und Autoren und ihre Darstellung der Geschichte der Russischen Revolution. Unter Bedingungen der weltweiten Krise des Kapitalismus und einer umfassenden sozialen Konterrevolution in Europa suchen viele Menschen und vor allem die junge Generation nach einem gesellschaftlichen Ausweg. So wächst das Interesse an der Geschichte und den Lehren der Oktoberrevolution von 1917. Das Werk von Alexander Rabinowitch wird für sie eine wichtige Anregung und Hilfe sein, diese Geschichte zu studieren und zu verstehen, „wie es eigentlich war“.



Danksagung

Anmerkungen zu Transkription und Transliteration

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einleitung zur englischen Ausgabe

1. Der Juli-Aufstand

2. Die Bolschewiki unter Beschuss

3. Petrograd zur Zeit der Reaktion

4. Repression ohne Wirkung

5. Der Wiederaufstieg der Bolschewiki

6. Der Aufstieg Kornilows

7. Kornilow gegen Kerenski

8. Die Bolschewiki und Kornilows Niederlage

9. Die Frage einer neuen Regierung

10. Alle Macht den Sowjets

11. Lenin ruft zum Aufstand

12. Ein Aufstand mit Hindernissen

13. Die Garnisonskrise und das Militärische Revolutionskomitee

14. Am Vorabend

15. Die Bolschewiki erobern die Macht

16. Epilog

Anmerkungen

Auswahl-Bibliografie



Aus dem Blickwinkel eines zeitlichen Abstands von nunmehr fast einhundert Jahren stellt sich die Oktoberrevolution von 1917 als Schlussphase eines ebenso komplexen wie dynamischen politischen und gesellschaftlichen Prozesses dar, der durch die zutiefst ungerechten Zustände im zaristischen Russland hervorgerufen und durch dessen absehbare Niederlage im Ersten Weltkrieg beschleunigt worden war. Der Beginn dieser Phase datiert kurz nach der Februarrevolution von 1917, die zum Sturz von Zar Nikolaus II geführt hatte und in erster Linie auf die Enttäuschung der Bevölkerung über die unschlüssige Innen- und Außenpolitik der neugebildeten Provisorischen Regierung zurückzuführen war. Ihren abschließenden Höhepunkt fand sie nach acht Monaten stürmischer Ereignisse in der Machtübernahme durch Lenin, Trotzki und die Bolschewiki (die sich ab März 1918 Kommunistische Partei nannten). Der Sieg der Bolschewiki im erbitterten Kampf um die Macht 1917 und im anschließenden dreijährigen, grausamen Bürgerkrieg wiederum mündete in die Festigung des sowjetischen Einparteienregimes, das die gesamte russische Politik und Gesellschaft beherrschte und über weite Strecken des letzten Jahrhunderts die Weltpolitik maßgeblich prägte. Unter Stalin entwickelte sich dieses Regime zu einer äußerst repressiven, allgewaltigen Diktatur. Und doch war die Machtübernahme der Bolschewiki auch der Aufbruch in einen egalitären Sozialismus – ein kolossales Experiment mit Auswirkungen auf alle Länder, das bis heute weltweit Interesse auf sich zieht. Die Oktoberrevolution ist, soviel steht fest, eine herausragende, wenn nicht die bedeutsamste historische Begebenheit des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt.

Besonders tiefgreifende Auswirkungen hatte die Oktoberrevolution in Deutschland, wo sie unter anderem den Verlauf der revolutionären Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg und deren gewaltsame Niederschlagung stark beeinflusste. Die anhaltende „rote Gefahr“ war ein wesentlicher Faktor für die Machtübernahme Hitlers, der mit seinem Versprechen, die Sowjetunion und den Bolschewismus endgültig zu vernichten, den Weg zum Zweiten Weltkrieg und zur späteren Teilung Deutschlands in West und Ost vorzeichnete. Umgekehrt besaß auch Deutschland für Russland große historische Bedeutung, besagte doch eines von Lenins Hauptargumenten zugunsten der Machtübernahme 1917, dass die Flammen eines radikalen Umsturzes in Russland die schwelende Revolution im deutschen Kaiserreich endlich entfachen würden und dass der Sieg sozialistischer Revolutionen im Westen, insbesondere in Deutschland, eine unabdingbare Voraussetzung für das Überleben der Revolution in Russland sei. Wegen dieses eminent wichtigen, oftmals übersehenen Zusammenhangs zwischen der Revolution in Russland und Deutschland sowie in Anbetracht dessen, dass man die eine Revolution schwerlich ohne die andere verstehen kann, bereitet es mir besondere Genugtuung, dass The Bolsheviks Come to Power: The 1917 Revolution in Petrograd nun in einer sorgfältig bearbeiteten Ausgabe auch in deutscher Sprache erscheint.

Einleitend möchte ich schildern, welche Einflüsse meine Vorstellungen über die Bolschewiki und die Oktoberrevolution von 1917 in Russland geformt hatten, bevor ich begann, mich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. An erster Stelle steht sicherlich, dass ich in einer russischen Emigrantenfamilie aufwuchs, die sich als liberal und demokratisch verstand. Meine Eltern hatten 1932 geheiratet. Meine Mutter, die aus Kiew stammte, war Schauspielerin an einem russischen Theater, mein Vater Eugene Rabinowitch, gebürtig in Petersburg, war ein bekannter Chemiker und Biophysiker. Wie unzählige junge Russen war auch mein Vater im Jahr 1921 nach Westeuropa geflohen und durfte dank der Bemühungen des führenden Sozialdemokraten Eduard Bernstein an einer deutschen Universität studieren. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es ihm, am chemischen Institut des Massachussetts Institute of Technology (MIT) eine feste Anstellung zu bekommen.

Und so verbrachte ich die prägenden Jahre meiner Kindheit und Jugend in einer Familie, die fest in der rührigen russischen Emigrantengemeinde an der Ostküste der USA verankert war. Unsere Sommerferien verbrachten wir in der üppigen Natur der Berge von Vermont. Das Ferienhaus, das mein Vater dort gekauft hatte, lag in der Nähe des Sommersitzes des berühmten Harvard-Historikers Michail Karpowitsch, der sich 1917 zu den gemäßigten Sozialisten bekannt hatte. Einige meiner lebhaftesten Erinnerungen aus jener Zeit kreisen um Mittags- und Abendmahlzeiten, auf denen sehr bekannte Russen, von Nabokow bis Kerenski, die damals in den USA lebten, über Themen der Geschichte, Literatur und aktuellen Politik Russlands diskutierten. Zwar kam es dabei bisweilen zu lebhaften Auseinandersetzungen, doch über gewisse Dinge herrschte offenbar Einvernehmen: Die Oktoberrevolution, die zu einem Bruch im Leben dieser Menschen geführt hatte, war ein Militärputsch einer verschworenen Gruppe revolutionärer Fanatiker unter der Führung Lenins und Trotzkis. Sie war von den Deutschen finanziert worden und hatte in der Bevölkerung wenig Unterstützung gefunden. Hervorgebracht hatte sie nichts als Scheußlichkeiten und Gefahren für die ganze Welt. Diese Ansichten entsprachen natürlich den vorherrschenden Meinungen der meisten westlichen Historiker über die Oktoberrevolution und ihre Folgen. Und so kam es, dass das aus meiner familiären Herkunft rührende Interesse an der russischen Kultur und Geschichte, das mich mein Leben lang begleitet hat, ursprünglich mit einem zutiefst negativen Bild der Bolschewiki, der Oktoberrevolution, ja der gesamten historischen Erfahrung der Sowjetunion verbunden war.

Mein Hochschulstudium der russischen Geschichte begann ich bei Leopold Haimson an der University of Chicago und bei John M. Thompson an der Indiana University. Haimson, der mittlerweile verstorben ist, leistete damals Pionierarbeit auf dem Gebiet der Sozialgeschichte des revolutionären Russlands; Thompson war ein anerkannter Experte für die Geschichte der Diplomatie. Zusammen weckten sie mein Interesse an der russischen Revolution als politisches und gesellschaftliches Phänomen von herausragender Bedeutung, das eine genauere Erforschung verdiente. Als es an der Zeit war, ein Thema für meine Doktorarbeit zu wählen, hatten sich meine grundlegenden Ansichten über die Sowjetunion und ihre Entstehung allerdings noch nicht geändert. Ursprünglich wollte ich eine Biografie Irakli Zeretelis verfassen, jenes bekannten georgischen Menschewiken und unversöhnlichen Gegners des Bolschewismus, den ich einst in Vermont kennengelernt hatte. Als sich aber herausstellte, dass eine umfassende Lebensgeschichte Zeretelis Kenntnisse des Georgischen voraussetzte, beschloss ich, mich auf den Abschnitt seines Lebens zu konzentrieren, der in die Zeit nach dem gescheiterten Aufstand vom Juli 1917 fiel. Als Kabinettsmitglied und de facto Führer der gemäßigten sozialistischen Sowjetführung auf nationaler Ebene war er damals maßgebend daran beteiligt, die Provisorische Regierung zu stützen und die Bolschewiki zu kriminalisieren.

Wie kam es, dass sich mein Interesse von der Rolle, die Zereteli Mitte 1917 gespielt hatte, immer mehr auf die Bolschewiki verlagerte? Und was führte, um vorauszugreifen, später zu meinem Bruch mit der im Westen vorherrschenden Ansicht über die bolschewistische Partei und die Revolution, die sie an die Macht trug? Die Antwort auf diese Fragen, die mir oft gestellt wurden, ist eigentlich recht einfach. Durch die Arbeit mit Haimson und Thompson hatte ich neben einer bleibenden Leidenschaft für das Sammeln historischer Quellen auch die Überzeugung erworben, dass diese möglichst unvoreingenommen und redlich interpretiert werden müssen. Und so stellte ich bald fest, dass die weithin akzeptierte Einschätzung Zeretelis, wonach der Juli-Aufstand lediglich ein gescheiterter Putschversuch Lenins war, im Widerspruch zu dem Bild stand, das sich unabweisbar aus den verhältnismäßig spärlichen Primärquellen ergab, die mir damals zur Verfügung standen. Noch bevor ich mir selbst darüber Rechenschaft ablegte, hatte sich mein vorrangiges Forschungsinteresse von Zereteli im Jahr 1917 auf die Bolschewiki und ihre Rolle im Juli-Aufstand verlagert. Im Jahr 1968 veröffentlichte ich meine erste Studie über die russische Revolution von 1917, Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising ...



Alexander Rabinowitch, emeritierter Professor an der Indiana University in Bloomington, wird weltweit als Experte für die Geschichte Russlands anerkannt. Besondere Beachtung verdient seine Vorreiterrolle bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der beiden Revolutionen des Jahres 1917.

Weitere Schwerpunkte seiner Forschungen bildeten die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Als einer der ersten Wissenschaftler aus dem Westen erhielt er Zugang zu sowjetischen Archiven, um die Geschichte der Kommunistischen Partei zu rekonstruieren.

Sein Klassiker 'The Bolsheviks Come to Power' (1976) (dt. 'Die Revolution der Bolschewiki 1917', 2012) war die erste umfangreiche Studie eines Historikers aus dem Westen, die unter Gorbatschow in der Sowjetunion publiziert wurde, und hat sich in der Fachwelt als Standardwerk etabliert.

Rabinowitch ist Autor von “Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising” (1968) und Mitherausgeber von “Russia in the Era of NEP: Explorations in Soviet Society and Culture” (1991). Er lehrte an Universitäten in Amerika, Europa, Russland und Asien und hat zahlreiche Beiträge für internationale Fachzeitschriften verfasst.

Im Mehring Verlag ist Alexander Rabinowitchs Studie 'Die Sowjetmacht. Das erste Jahr' erschienen. 2012 folgt die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe seines Hauptwerks 'Die Revolution der Bolschewiki 1917'.



Nach Jahrzehnten liegt endlich die ausgezeichnete Untersuchung des amerikanischen Historikers Alexander Rabinowitch in deutscher Sprache vor. Das Standardwerk ist auch nach so langer Zeit keineswegs veraltet, im Gegenteil, trotz oder gerade wegen der vielen Diskussionen über die bolschewistische Oktoberrevolution von 1917 ist diese Analyse aktuell. Das hängt damit zusammen, dass Rabinowitch die komplexen Sachverhalte differenziert bewertet, aber zugleich immer die großen historischen Entwicklungslinien zeigt.

Ein Gewinn für das Werk ist sein neues Vorwort für die deutsche Ausgabe. Darin wird der jüngste Forschungsstand zum Thema ebenso dargestellt wie der eigene Werdegang als Historiker und die Entwicklung der Diskussion über sein Buch.

Das geradezu spannend geschriebene großartige Werk eines bedeutenden (seinerzeit in der Sowjetunion verfemten) Historikers ist inzwischen in großer Auflage auch in Russland erschienen. Es verdient viele deutsche Leser.

Hermann Weber (Mannheim)

Dass nun auch Alexander Rabinowitchs grundlegende Studie über die Revolution von 1917 in deutscher Übersetzung erscheint, ist längst überfällig. Sie hat die Geschichtsschreibung verändert: Unvoreingenommen, sorgfältig auf die zugänglichen Quellen gestützt und von geradezu detektivischer Systematik widerlegt diese Analyse die lange Zeit vorherrschende Auffassung, bei der Oktoberrevolution habe es sich um den Putsch eines kleinen Kreises bolschewistischer Fanatiker gehandelt.

Rabinowitch löst sich von der Fixierung auf die „großen Persönlichkeiten“ wie Lenin und Trotzki – ohne sie zu vernachlässigen – und bezieht die handelnden Menschen in den Fabriken, Wohnvierteln und unteren Armeerängen als eigenständige politische Kraft in seine Untersuchung ein. Dabei wird deutlich, dass der Umsturz vom Oktober zwar durchaus gut geplant und durchgeführt war, aber zugleich als Ausdruck und Ergebnis der Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung verstanden werden muss. Ebenso klar wird ersichtlich, dass die Bolschewiki 1917 keineswegs eine homogene Partei bildeten, sondern sich dort innerhalb verhältnismäßig demokratischer Strukturen vielfältige Meinungen Gehör verschafften.

Wer die Oktoberrevolution verstehen will, muss zu diesem Buch greifen.

Heiko Haumann (Basel)

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  • Artikelnummer SW9783886347971458270
  • Autor find_in_page Alexander Rabinowitch
  • Mit find_in_page Andrea Rietmann
  • Autoreninformationen Alexander Rabinowitch, emeritierter Professor an der Indiana… open_in_new Mehr erfahren
  • Wasserzeichen ja
  • Verlag find_in_page MEHRING Verlag
  • Veröffentlichung 15.10.2022
  • ISBN 9783886347971

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