GEO Epoche 119/2023 - Verschwörungsmythen

Wie der Glaube an finstere Machenschaften die Geschichte geprägt hat

Aus heutiger Sicht gehört das Cover der US-Zeitschrift "Life" vom 7. November 1969 zu den seltsamsten Titelbildern, die dieses berühmte Blatt je veröffentlicht hat. Das Foto zeigt den Musiker Paul McCartney im Kreise seiner Familie. Auf dem Arm hält der Beatle seine erst wenige Wochen alte Tochter Mary. So weit, so gewöhnlich. Was irritiert, ist die Schlagzeile: "Paul is still with us", heißt es da. Frei übersetzt: Paul lebt noch. Aber warum sollte ein Magazin eine so banale Information an so prominenter Stelle vermelden, zumal es sich bei McCartney damals um einen 27-Jährigen ohne besondere Krankheitsgeschichte handelte? Nur ein toter Star... alles anzeigen expand_more

Aus heutiger Sicht gehört das Cover der US-Zeitschrift "Life" vom 7. November 1969 zu den seltsamsten Titelbildern, die dieses berühmte Blatt je veröffentlicht hat. Das Foto zeigt den Musiker Paul McCartney im Kreise seiner Familie. Auf dem Arm hält der Beatle seine erst wenige Wochen alte Tochter Mary. So weit, so gewöhnlich. Was irritiert, ist die Schlagzeile: "Paul is still with us", heißt es da. Frei übersetzt: Paul lebt noch. Aber warum sollte ein Magazin eine so banale Information an so prominenter Stelle vermelden, zumal es sich bei McCartney damals um einen 27-Jährigen ohne besondere Krankheitsgeschichte handelte? Nur ein toter Star ist eine Nachricht, oder nicht? Hinter dem ungewöhnlichen Titelblatt steckt eine irrwitzige Verschwörungstheorie, die im Herbst 1969 internationale Schlagzeilen machte. Am 12. Oktober hatte sich ein mysteriöser Anrufer bei einer Radiostation in Detroit gemeldet und den Discjockey der laufenden Sendung aufgefordert, das Beatles-Stück "Revolution 9" rückwärtszuspielen. Kurz darauf erklangen die Worte "Turn me on, dead man" ("Mach mich an, toter Mann"). Aus dieser und weiteren vermeintlichen Spuren entstand ein abstruses Konstrukt: Der echte Paul McCartney sei schon 1966 bei einem Autounfall gestorben und durch einen Doppelgänger ersetzt worden. Vor allem das Cover des gerade erst erschienenen Albums "Abbey Road" wurde nun durch die verschwörungstheoretische Linse betrachtet: Demnach bildeten die vier Beatles, die den Zebrastreifen überquerten, in Wahrheit eine Trauerprozession: John Lennon in Weiß war der Prediger, Ringo Starr in Schwarz der Bestatter, der falsche Paul ging barfuß als wandelnde Leiche, und George Harrison, der Totengräber, trug die Jeanskluft eines Arbeiters. Man könnte solche geistigen Verrenkungen als harm- lose Spinnereien abtun, wenn sie denn immer harmlos wären. Doch das sind sie nicht, wie Sie auf den folgenden Seiten lesen werden. So wie Beatles-Fans aus Plattencovern und Songschnipseln eine große Verschwörung der Musikindustrie herausgelesen haben, haben andere Verschwörungsgläubige ihrerseits eine alternative Version der Realität konstruiert. Und die war oft genug tödlich. Denn wer überzeugt ist, dass finstere Übeltäter im Geheimen das Weltgeschehen steuern, der schreckt womöglich nicht davor zurück, die vermeintlich Schuldigen zu ermorden. Kein Wunder, dass einige der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte auch von solchen Denkmustern befeuert wurden. Inzwischen haben das Internet und die sozialen Medien den Verschwörungserzählungen ganz neue Wege der Verbreitung eröffnet. Ob deshalb auch immer mehr Menschen an sie glauben, haben wir den Historiker Claus Oberhauser gefragt (siehe Seite 154). Die Antwort hat mich überrascht. Manchmal ist es wirklich nicht so, wie es scheint.



GEO EPOCHE ist das GeschichtsMagazin von GEO und erscheint sechsmal pro Jahr. Jede Ausgabe ist einem historischen Thema gewidmet - Epochen wie dem Mittelalter, Staaten wie Preußen, Weltreligionen wie dem Judentum. Geschichte schillernd und packend ohne Staub, Fußnoten und Zahlenkolonnen. Erzählt werden Geschichten über bedeutende Personen und dramatische Ereignisse, über Alltag und Kultur, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. In genauen historischen Rekonstruktionen sowie opulenten Bildessays und Experteninterviews, mit Karten und Infokästen wird die jeweilige Epoche zum Leben erweckt und vor allem deren Alltag sinnlich nacherzählt. "Wir nehmen die Leser mit auf eine Zeitreise", so lautet das Credo der Chefredaktion.



NICHTS SO, WIE ES SCHEINT? Bildessay

Verschwörungstheorien des 20. Jahrhunderts 6

RITUALMORDLEGENDE Tod eines Knaben 1475

Ein Leichenfund bringt die Juden von Trient in Bedrängnis 20

PAPISTENVERSCHWÖRUNG Das falsche Spiel des Titus Oates 1678

England erzittert vor einem erdachten katholischen Komplott 36

GESCHICHTSFÄLSCHUNG Die Mär von der großen Lüge 1690

Ein Jesuit bezweifelt die Echtheit antiker Texte 48

HEXENGLAUBE Salem – Ein Dorf im Wahn 1692

Puritaner wähnen sich im Griff von Teufelsdienerinnen 50

ILLUMINATEN Die Erleuchteten 1776

Der Geheimbund verfolgt hehre Ideen – scheitert aber bald 68

KOMMUNISTENHETZE Im Auftrag des Königs 1851

Wilhelm Stieber fälscht Beweise für Preußens Monarchen 82

FREIMAURER Der große Schwindel 1896

Ein früheres Mitglied schürt Angst vor den Logen 84

ANTISEMITISMUS Das Gift, das nie vergeht 1905

Angebliche »Protokolle« befördern eine fatale Mär 96

MANIPULATION Der Herr der Wünsche 1929

Edward Bernays steuert Geschmack. Und Meinungen 110

DOLCHSTOSSLEGENDE Eine unheilvolle Saat 1919

Das Militär lügt – um vom eigenen Versagen abzulenken 112

UFOLOGIE Geheimnis am Himmel 1947

Eine »Sichtung« unbekannter Flugobjekte verstört die USA 122

BILDERBERG-KONFERENZEN Der diskrete Club 1954

Die inoffiziellen Treffen von Mächtigen machen misstrauisch 134

VEREINIGTE STAATEN Die Verdächtigen 2001

Viele trauen den USA alles zu. Eine Suche nach den Gründen 136

INTERVIEW Ein altes Phänomen in neuer Qualität

Wie bedrohlich Lügenerzählungen im Internet-Zeitalter sind 154

Werkstatt 64

Die Welt von GEO 65

Impressum, Bildnachweise 66

Lesezeichen 67

Vorschau »Die Rosenkriege« 162

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