Stundenholz, Minarett und Mangobaum
Eine Entdeckungsfahrt ins Morgenland von 1960
Zwei DDR-Schriftsteller und ein Fotograf reisen 1958 und 1960 von Berlin mit einem mit Gepäck vollgestopften, klapprigen Auto über Griechenland in den Norden Afrikas und zurück über Sizilien, insgesamt 50 000 Kilometer. Sie besuchen einige Sehenswürdigkeiten, aber ihr großes Interesse gilt den Menschen dieser Länder. Sie schließen Freundschaften, erfahren große Hilfsbereitschaft, wenn das Auto mal wieder repariert werden muss, und begegnen vielen neugierigen, wissbegierigen Menschen. Ihr Budget ist klein, doch mit ihrer einfachen Campingausrüstung findet sich oft ein kostenloser Schlafplatz. Nach über 60 Jahren liest sich das Buch wie ein Eintauchen in eine relativ friedliche Welt.
HEISSES HELLAS
ERSTE BEKANNTSCHAFTEN
Königliche Gesichter
Türkenpfunde
„Liebe“' wird organisiert
Das Bett
Ziegen am Olymp
Topfgucker
„Cigarette, please!“
DREIGETEILTE HAUPTSTADT
Sonntagshose für Athen
Der Durst der Nation
Fürstliche Kuppelei
Zu Füßen der Akropolis
Marktplatz der Mittellosen
Die kleine Tänzerin
DAS WUNDER FINDET NICHT STATT
Marschbefehl: Hoffnung
Göttliche Wundertäterei
Eine Schiffsladung Elend
Gespräch mit dem Soldaten
Jeder brüllt für eigene Rechnung
Jesusse mit Anstecknadel
Der Mensch als Vierbeiner
Welcome to you
WELCOME TO YOU!
Das erste Wunder
Porzellaneulen und Christusbilder
Der fotografische Himmelsfunken
Streit um die Gottesmutter
Maria und die Kanoniere
Der Himmel war taub
AKROPOLIS
Dreifach zum Tode verurteilt
Der entblößte Fahnenmast
Die Verhaftung der Liebesleute
KÖNIG TABAK
und die Bettler an seinem Hofe
„Er ist unser Leben"
Die kurze Nacht ist viel lang
REPUBLIK DER MÖNCHE
Brückenbauer wider Willen
„Viel Kommunist tot machen! Ich!“
Dorf ohne Zeugung und Geburt
Schwarzseidene Eleganz
Der Himmel hat eine kräftige Schulter
Das Stundenholz
Der Orient ist nahe
LAND AM RANDE DER WÜSTE
BEGRÜSSUNG IN SYRIEN
Die Soldaten
Die Krämer
Die Schulkinder
DAMASZENER SKIZZEN
Die Jahrtausende atmen
Zwei Heidelberger Herren
Das Geheimnis der Säbelklinge
Die letzten Messermacher
Das Kamel und die spanische Fliege
Der Garküchenmann
Abends am Mont Quassium
Ungewöhnlicher Abend in Homs
IN KASSIMS DORF
Der Schwererziehbare
Ein Bote Allahs
Maskerade
Die Gesichter auf den Dächern
… und züchtiget sie
Über den echten arabischen Kaffee
Mohammed und der König
Die Blechgeige
Erdnusskerne
UNTER DEN SCHWARZEN ZELTEN
Befriedete Wüste
Säcke aus Kamelhaar
Vierbeinige Hilfspolizei
Ein Kamel zählt bis drei
Ein Wettlauf und zwei Sieger
Auf der Seeräuberinsel
Nachts im Kastell
Der Schwammboss
Ein Familienfoto
Wird die Reise weitergehen?
Sesam, öffne dich!
HEIMWÄRTS
NORDAFRIKANISCHE BILDER
Der König
Inschriften
Sturm
Totenscheine
Gasthaus in der Wüste
Sie trinken aus der Straße
Der Feldwebel von Tripolis
Der letzte Tag in Afrika
Weiße Tücher – schwarze Schleier
Karthago auf Reisen
Afrika lässt uns nicht los
EUROPA HAT UNS WIEDER
Schilder und Goethe
Der Ätna glüht
Wenn bei Capri …
Kombinat für Körperpflege
Kein Rendezvous mit Lollo
Heimwärts mit einem Hemd
… und züchtiget sie
Diesen Vorgang haben wir in den Dörfern ungezählte Male beobachtet: Eine Horde Jungen tummelt sich beim Spiel, lustig und laut. Kleine Mädchen schauen aus respektvoller Entfernung dem Treiben zu. Sie wissen bereits, dass sie nicht mitspielen dürfen, und hier zu stehen, ist schon Ungehorsam. Die Jüngsten aber, die das mit ihrer kleinen Erfahrung noch nicht glauben können, wagen sich doch an die Jungen heran, zögernd, wieder ein Schrittchen. Das geht eine Zeitlang gut. Dann werden sie plötzlich davongejagt, laut und grimmig, wie man Hühner aus dem Erdbeergarten verjagt.
Das ist der Anfang.
In der Schule – falls sie den Unterricht überhaupt besuchen – sitzen die Mädchen streng von den Jungen getrennt. Schon bald müssen sie auf dem Felde mitarbeiten oder Pflichten im Haus übernehmen: bei der Pflege der kleineren Geschwister, beim Brotbacken. Sie tragen auf ihren Köpfen Wasser heran, decken den Tisch für die Männer und essen danach in der Küche, was übrig geblieben ist.
Niemals haben wir ein verliebtes Pärchen gesehen, in der Abenddämmerung etwa und am Rande des Dorfes, Arm in Arm. Es gälte als böse Provokation. Es ist völlig undenkbar. Die Liebe, wo sie sich einstellt, gehört ins Haus. Dann und wann darf der Bräutigam die Angebetete besuchen, unter Kontrolle der Familie natürlich. Auch nicht minutenlang ließe man die beiden allein.
Meist aber gedeiht die „Liebe“ auf dem tauben Boden der ökonomischen Berechnung. Schließlich wird das Mädchen verkauft, und die Eltern haben stets eine klare Vorstellung davon, wie viel dieses Geschäft einbringen muss. Der Vater des Bräutigams hat den Kaufpreis für die Braut zu entrichten, je nach Vermögen und nach Güte des Gegenstands: zwei Schafe oder fünf oder auch drei Kilo Gold. Manchmal noch mehr.
Nun wird die Frau dem Manne untertan. Geselligkeit ist ihr nur selten gestattet und auch nur unter ihresgleichen. Sie darf nicht ins Café und nicht mit den Gästen des Hausherrn sitzen und plaudern. Sie muss eine zweite Frau neben sich im Hause dulden oder eine dritte und vierte, wenn dem Manne das gefällt und seine Mittel dafür ausreichen. In der Moschee des Dorfes zu beten ist ihr verboten. Das muss sie in der Küche tun oder in einem anderen Winkel des Hauses. Ihre Rechte sind bescheiden. Wenn der Mann sie verstößt, darf sie mitnehmen, was sie auf dem Körper trägt: ihre Kleider, ihren Schmuck. In der vierten Sure des Korans steht:
„Männer sollen vor Frauen bevorzugt werden, weil auch Gott die einen vor den anderen mit Vorzügen begabt und auch weil jene diese unterhalten. Rechtschaffene Frauen sollen daher gehorsam und verschwiegen sein, auf dass auch Gott sie beschütze. Denjenigen Frauen aber, von denen ihr fürchtet, dass sie durch ihr Betragen euch erzürnen, gebet Verweise, enthaltet euch ihrer, sperret sie in ihre Gemächer und züchtiget sie. Gehorchen sie euch aber, dann suchet keine Gelegenheit, gegen sie zu zürnen; denn Gott ist hoch und erhaben.“ Diese Weisungen gelten noch. Sie scheinen unsichtbar in die Gemäuer zahlloser Hütten gemeißelt, Gesetz für die Männer, unanfechtbarer Urteilsspruch für die Frauen.
Zur gleichen Zeit aber praktizieren im Lande schon Hunderte von Ärztinnen. Tausende von Schwestern sind tätig und Lehrerinnen, gebildet, selbstbewusst. Sogar in der Armee leisten Frauen als Offiziere Dienst für ihr Land. Das Ringen um die Befreiung der Frau ist im Gange, erbittert und langwierig.
Dabei geschieht es zuweilen, dass die alte Lebensart sich drohend aufbäumt und noch einmal, in der Sterbestunde, ihre fühllose Macht zur Schau stellt. Es ist dann, als zeichnete die Gegenwart, widerstrebend, doch gefügig, ein grausames Märchen der Vergangenheit auf.
Es geschah in diesem Dorf, vor Jahresfrist, an einem späten Abend im September. Am Hause des Grundbesitzers pocht jemand dringlich an die Pforte.
Der Alte geht, um zu öffnen. Ein Mädchen steht da, atemlos und sichtlich erschöpft. Sie bricht vor der Tür zusammen, noch ehe sie ein Wort über die Lippen bringt. Man trägt sie ins Haus und bettet sie. Ein heißer Tee wird eilig bereitet. Das Mädchen ist jung, siebzehn Jahre vielleicht. Zu sich gekommen, berichtet sie das Vorgefallene, stockend und immer wieder unterbrochen von ihren Tränen. Sie stammt aus dem Nachbardorf, Tochter wohlhabender Eltern, und liebt einen Burschen, dessen Vater nennenswerte Reichtümer nicht besitzt. Die Liebe bleibt geheim. Dann und wann gelingt es, sich zu treffen, nachts, wenn das Dorf schläft, im schwachen Lichte der Gestirne und hinter Mauern verborgen. Diese wenigen Nächte sind ein ganzer Himmel, Sterne und Glück. Das Leben scheint ein guter Traum zu sein. Aber der Tag kommt, da sie weiß, dass sie ein Kind erwartet. Damit endet das Glück, denn der Umwelt preisgegeben, muss ihr Glück sich ins Gegenteil kehren. Das Dasein ist plötzlich eine grimmige Last. Nach Wochen qualvoller Verschwiegenheit vertraut sich das Mädchen der Mutter an. Rettung bedeutet das nicht. Stattdessen nimmt jetzt das Unheil seinen Lauf. Die strafende Hand der Familie streckt sich nach ihr aus. Was bleibt, ist die Flucht. So kommt sie in dieses Haus, Asyl und Hilfe zu erbitten.
Der Alte sichert ihr beides zu. Er trachtet in den nächsten Tagen, die Schande auf gütlichem Wege zu tilgen. Er begibt sich ins Nachbardorf und verhandelt mit den Parteien. Ein Ausweg bliebe: die sofortige Heirat der jungen Leute. Aber Standesdünkel und lange Debatten um den Preis der Braut verzögern die Einigung. Inzwischen wächst in der Familie des Mädchens der stumpfsinnige Zorn heran; ein wildes, hirnloses Ungeheuer.
Die Katastrophe tritt wenige Tage nach der Flucht des Mädchens ein. Es mag gegen zehn Uhr abends sein. Die Männer des Dorfes sitzen noch wie immer beim Gespräch. Plötzlich schreckt sie gellendes Kreischen auf, Schreie aus dem Haus des Grundherrn, Hilferufe. Die Männer, eilig herbeigelaufen, finden das Mädchen durch Messerstiche getötet.
Herbert Otto:
15. März 1925 in Breslau geboren. Bis 1943 Lehre als Bankkaufmann, Soldat von 1943 bis 1944, sowjetische Kriegsgefangenschaft.
1948 - 1949 Studium der Ästhetik und Philosophie in Moskau, danach Dramaturg und Verlagslektor, seit 1956 freischaffender Autor.
Wahl ins P.E.N.-Zentrum 1987.
Theodor-Fontane-Preis 1956 und 1961, Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste 1971, Vaterländischer Verdienstorden 1977, Nationalpreis der DDR 1978, Kunstpreis der Gewerkschaften 1975 und 1985.
Am 24. August 2003 in Ahrenshoop verstorben.
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- Artikel-Nr.: SW9783956553196458270
- Artikelnummer SW9783956553196458270
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Autor
Herbert Otto
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 330
- Veröffentlichung 05.06.2020
- ISBN 9783956553196
- Wasserzeichen ja