Tote Fische fängt man schneller, Mordesstund hat Gold im Mund & Der Tod schickt Blumen

Drei Mord an der Nordsee-Krimis in einem Band

Tote Fische fängt man schneller, Mordesstund hat Gold im Mund & Der Tod schickt Blumen
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Drei rätselhafte Morde und ein Küstenstädtchen in Aufruhr – Hobbyermittlerin Jenny hat alle Hände voll zu tun Ein humorvoll Cosy Krimi-Sammelband voller skurriler Verbrechen und nordischem Flair Mordesstund hat Gold im Mund Nachdem Pensionsbesitzerin Jenny erst vor Kurzem einen spektakulären Kriminalfall gelöst hat, kehrt in dem kleinen Küstenort Zuiderdijk immer noch keine Ruhe ein. Die Frau eines Gastes wird erstochen aufgefunden und für die Polizei steht der Mörder schnell fest: Der Ehemann verhält sich mehr als verdächtig und könnte sogar der seit Jahren gesuchte "Zeeland Ripper" sein. Das geht Jenny... alles anzeigen expand_more

Drei rätselhafte Morde und ein Küstenstädtchen in Aufruhr – Hobbyermittlerin Jenny hat alle Hände voll zu tun
Ein humorvoll Cosy Krimi-Sammelband voller skurriler Verbrechen und nordischem Flair



Mordesstund hat Gold im Mund



Nachdem Pensionsbesitzerin Jenny erst vor Kurzem einen spektakulären Kriminalfall gelöst hat, kehrt in dem kleinen Küstenort Zuiderdijk immer noch keine Ruhe ein. Die Frau eines Gastes wird erstochen aufgefunden und für die Polizei steht der Mörder schnell fest: Der Ehemann verhält sich mehr als verdächtig und könnte sogar der seit Jahren gesuchte "Zeeland Ripper" sein. Das geht Jenny nun wirklich zu weit und sie stürzt sich in waghalsige Ermittlungen, um die Unschuld ihres Gastes zu beweisen – ob die Polizei nun will oder nicht …



 



Tote Fische fängt man schneller



In dem beschaulichen Örtchen Zuiderdijk in Zeeland geht eigentlich alles seinen gewohnten Gang – bis zu dem Tag, an dem Pensionsbesitzerin Jenny am Deich auf ihren Gast Markus trifft … ermordet. Die Ermittlungen der Polizei laufen schleppend, und als eine zweite Leiche gefunden wird, kann Jenny nicht widerstehen, dem müden Polizeiapparat ein bisschen unter die Arme zu greifen. Mit detektivischem Eifer macht sie den Bruder des ersten Opfers ausfindig, der sich sicher ist, dass Markus in krumme Geschäfte verwickelt war. Gemeinsam folgen sie den dubiosen Spuren des Verstorbenen durch das behagliche Küstenstädtchen auf der Suche nach dem Mörder. Doch wer ist hier eigentlich wem auf den Fersen?



 



Der Tod schickt Blumen



Ein jahrelanger Dauercamper bekommt tagelang schwarze Tulpen geschickt … und am zehnten Tag wird seine Leiche gefunden. So ein merkwürdiges Verbrechen hat der kleine Küstenort noch nie gesehen. Als der Blumenhändler erneut anonyme Bestellungen für schwarze Tulpen bekommt, wendet er sich an die Polizei – und an Pensionswirtin Jenny, die für ihre Spürnase inzwischen stadtbekannt ist. Sie muss so schnell wie möglich die Gemeinsamkeit zwischen den Blumen-Empfängern finden, um den Täter zu stellen, denn er scheint noch lange nicht fertig zu sein …



Erste Leser:innenstimmen
„Unterhaltsame und fesselnde Kriminalfälle – perfekt zum Miträtseln und voller Charme.“
„Drei spannende Wohlfühlkrimis voller skurriler Charaktere und cleverer Wendungen.“
„Küstenkrimis mit Suchtpotenzial: Die perfekte Mischung aus Spannung, Humor und Atmosphäre!“
„Amateurermittlerin Jenny macht diese Cosy Krimis zu einem wahren Lesegenuss für alle Fans von gemütlichen Nordseekrimis.“





1. Kapitel



Jenny van Oosterburg stand an der Empfangstheke und betrachtete den Zweiertisch ganz vorn im Speisesaal, der nach wie vor für einen Gast gedeckt war. Für einen Gast, der allem Anschein nach verschwunden war.



„Soll ich abräumen?“, fragte ihre Angestellte Sietske, die sich seit ein paar Tagen mit einer feuerroten Kurzhaarfrisur präsentierte, an deren Anblick sich Jenny noch immer nicht gewöhnt hatte. Das würde wohl auch eine Weile so bleiben, da es ihr schwerfiel, das neue Aussehen zu akzeptieren. Bis vor Kurzem war die junge Frau mit bis tief in den Rücken reichenden, tiefschwarzen Haaren gesegnet gewesen, die ihren von Natur aus dunklen Teint unterstrichen hatten.



„Hm? Oh. Nein, noch nicht“, antwortete sie, als sie sah, dass Sietske auf den Zweiertisch zeigte. Das Frühstücksbuffet war vor wenigen Minuten abgeräumt worden. Natürlich gab es auch danach die Möglichkeit, ein Frühstück zu bestellen, weil ihre Gäste es zu schätzen wussten, wenn sie nicht auch im Urlaub mit starren Vorschriften konfrontiert wurden, von denen sie im Alltag schon mehr als genug hatten. Sollte ihr verschollener Gast gleich zur Tür hereinspaziert kommen, dann würde er dennoch ein Frühstück serviert bekommen, wenn er es wollte.



„Guten Morgen!“ Eine Männerstimme riss sie auf Deutsch aus ihren Gedanken, die ihr irgendwie vertraut war, aber einen Akzent aufwies, den sie so nicht in Erinnerung hatte.



Sie sah zur Eingangstür, wo ein großer Mann mit grauem Bart und grauen Haaren stand, die er zurückgekämmt und zum Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er trug eine dicke Stoffjacke, die den mittlerweile herrschenden Temperaturen durchaus angemessen war, und in jeder Hand hielt er einen altmodischen Koffer, die offenbar keine Rollen hatten, auf denen er die beiden hinter sich hätte herziehen können.



„Guten Morgen“, erwiderte sie zögerlich, da sie noch nicht so genau wusste, wo sie diesen Mann hinsortieren sollte. „Was kann ich für Sie tun?“



„Erst mal kannst du zum Du zurückkehren, Blondie“, sagte er, grinste sie breit an und kam näher. Dann stellte er die Koffer ab.



Sie kniff die Augen zusammen und murmelte: „Niemand wagt es, mich Blondie zu nennen …“



„Außer …?“



„… außer Rainer Trompeter“, führte sie den Satz zu Ende und schüttelte den Kopf. „Bist du das wirklich, Rainer?“



„Tja, entweder bin ich es oder ich bin ein anderer und trage nur eine Maske, die aussieht wie ich“, konterte er. „Was meinst du?“



„Das werde ich schon herausfinden“, sagte sie. „Wenn du anfängst, zu schreien, sobald ich versuche, dir die Maske vom Gesicht zu reißen, weiß ich ja, ob ich einen Betrüger vor mir habe.“ Dabei machte sie mit ihren Fingern Lockerungsübungen, als wollte sie ihre letzten Worte jeden Moment in die Tat umsetzen. Sie tat drei Schritte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals, was kein leichtes Unterfangen war, da er mehr als einen Kopf größer war als sie.



Allerdings kam der Mann ihr entgegen, indem er sich gleichzeitig vorbeugte, sodass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren, während sie sich an ihn drückte. „Beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt“, sagte er. „Ich hatte eine Frau mit wallenden goldblonden Locken erwartet, nicht mit diesem kümmerlichen Rest da oben auf dem Kopf.“



„Von den goldblonden Locken hab ich mich schon vor langer Zeit verabschiedet, weil die bei dem Wind, der hier fast immer weht, einfach auf Dauer unpraktisch sind. Aber erzähl mir lieber, wieso du hier bist. Wie hast du mich gefunden?“, wollte sie wissen, als sie sich wieder von ihm gelöst hatte.



„Das war ganz einfach“, sagte Rainer. „Na, okay, ganz so einfach war es nicht. Ich kannte nur die alte Telefonnummer von deinen Eltern, aber der Anschluss existiert nicht mehr. Dann habe ich mir im Internet den Stadtplan von Westkapelle angesehen und festgestellt, dass einer der Souvenirläden immer noch den gleichen Inhaber hat wie damals. Also habe ich da angerufen und er hat mir die Telefonnummer vom Hotel deiner Eltern in Lissabon gegeben. Ich dachte zuerst, der gute Mann hat was durcheinandergeworfen, aber dann meldete sich tatsächlich deine Mutter, als ich da anrief.“



„Ja, mein Großvater hat meiner Mutter das Hotel vererbt. Sie konnte einfach nicht widerstehen, das Haus zu übernehmen. Aber das ist jetzt auch schon wieder acht oder neun Jahre her.“



„Ich störe nur ungern, Jenny“, meldete sich ein Mann, der noch keine dreißig zu sein schien und dessen rötliches Haar auffallend schütter war. „Aber ich muss einen Berg Rechnungen überweisen und ich weiß nicht, ob du diese drei sachlich richtig gezeichnet hast oder ob das …“



„Gekritzel“, half sie ihm mit einem Grinsen auf die Sprünge, als sie sein Zögern bemerkte.



„… ob das ‚Gekritzel‘ etwas anderes zu bedeuten hat.“ Er hielt ihr die Rechnungen hin.



Sie betrachtete ihre Notiz und grübelte einen Moment lang, was das von ihr stammende Kürzel bedeuten sollte. „Ach ja, richtig. Bei den Rechnungen stimmt das Datum nicht. Der neue Kaffeelieferant hat die Rechnung und das Lieferdatum um zwei Wochen zurückdatiert, womit sie jetzt schon überfällig sein müssten, obwohl er erst am Freitag geliefert hat. Da hattest du ja frei.“



„Gut, dann werde ich ihn anrufen, damit er das korrigiert“, sagte er.



„Schreib ihm lieber eine Mail, dann können wir es besser dokumentieren, falls es bei ihm eine Masche ist, um seinen Kunden Mahngebühren in Rechnung zu stellen.“



„Bestimmt nur ein ‚Computerfehler‘“, gab der Mann ironisch zurück.



„Ganz bestimmt“, pflichtete sie ihm augenzwinkernd bei. Sie drehte sich zu ihrem Besucher um. „Das ist übrigens Jan-Willem Dekker, meine rechte Hand.“



„Hallo“, begrüßte ihn Rainer mit einem Nicken. Der Mann erwiderte die Geste.



"Und das ist", fuhr sie fort, "ein alter Freund von mir. Rainer Trompeter. Rainer ist …“



„… Software-Entwickler für Computerprogramme“, fiel er ihr ins Wort.



„Ja, richtig“, sagte sie, nachdem sie eine Sekunde lang gestutzt hatte.



„Irgendwelche Programme, die man kennt?“, fragte Jan-Willem interessiert.



„Nur, wenn man sich in der chemischen Industrie auskennt“, antwortete Rainer.



„Oh“, machte der jüngere Mann. „Das ist ganz und gar nicht mein Fachgebiet.“



Rainer lächelte ihn verständnisvoll an. „Das höre ich so ungefähr zehnmal am Tag.“



„Wir kennen uns schon ewig“, redete Jenny weiter. „Rainer war früher bereits Gast im Hotel meiner Eltern.“



„Richtig“, stimmte der ihr zu. „Ich glaube, als ich sie das erste Mal gesehen habe, muss sie vier oder fünf gewesen sein. Und beim letzten Mal so ungefähr vierzehn, fünfzehn. Aber das ist schon ewig her.“



„Das ist gerade mal zwanzig Jahre her“, berichtigte sie ihn prompt. „Für wie alt soll Jan-Willem mich denn halten, wenn das ewig her wäre? Siebzig? Achtzig? Und vergiss nicht, dass du zwanzig Jahre älter bist. Dann würde er dich für neunzig oder hundert halten.“



„Maximal fünfundneunzig“, gab er lachend zurück. „Aber das ist natürlich Blödsinn. Niemand würde dich für einen Tag älter halten, als du wirklich bist. Schließlich siehst du aus wie eine junge Meg Ryan vor ihren Schönheitsoperationen.“ Dann fügte er noch rasch ironisch an: „Wobei ich nicht verstehe, warum wir Deutschen immer von Schönheitsoperationen reden, wenn doch üblicherweise das genaue Gegenteil dabei herauskommt.“



„Ich … ähm … will nicht unhöflich sein“, meldete sich Jan-Willem wieder zu Wort, „aber ich müsste mich jetzt um die Überweisungen kümmern.“



„Jan-Willem, du musst dich nicht erst abmelden“, sagte Jenny. „Wir beide reden sowieso gerade über alte Zeiten, und das meiste davon würde dich ohnehin nur langweilen, weil du nicht mit dabei warst.“



„Okay, danke“, sagte er und zog sich zurück.



Jenny deutete auf die Hocker, die vor der Empfangstheke standen. „Im Sitzen lässt es sich besser reden, glaube ich.“



„Ich werde dir nicht widersprechen“, gab Rainer zurück.



„Außer es geht um deinen Beruf“, meinte sie grinsend.



„Außer es geht um meine Ruhe“, stellte er richtig. „Ich will hier nur Rainer Trompeter sein, der Privatmensch, aber nicht Arnold Shaeffer, der preisgekrönte Maskenbildner aus Hollywood …“



„Der Oscar-Preisträger“, ergänzte Jenny.



„Ja, den habe ich auch bekommen“, räumte er ein. „Aber nicht für die Arbeit, für die ich den Oscar eigentlich verdient hätte. Nur weil dieser Herzschmerzfilm so viele Millionen Menschen ins Kino gelockt hat, wurde dem auch noch der Oscar für die besten Masken hinterhergeworfen.“



„Aber du hast die Auszeichnung trotzdem im Jahr darauf bekommen.“



„Das ja, aber für eine mittelmäßige Arbeit, weil man mich im Jahr davor übergangen hatte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das ist so ähnlich wie ein Oscar fürs Lebenswerk. Man ist auch bei zwanzig Nominierungen nicht ein einziges Mal besser als die Konkurrenz. Und zum Trost wird man fürs Lebenswerk ausgezeichnet, was ja so grandios gar nicht gewesen sein kann …“



„Klar, weil man ja vorher nie gewonnen hat“, sagte Jenny. „Das kann ich nachvollziehen. Doch jetzt verrat mir endlich, wieso du mit zwei Koffern hier hereinspaziert bist.“



Er räusperte sich, während Sietske vorbeikam und eine Handvoll Servietten auf einen der Tische legte. Mit gespielter Geschäftigkeit wartete er, bis Sietske nicht mehr zu sehen war, bevor er antwortete: „Weil ich beschlossen habe, eine Auszeit zu nehmen. Hollywood geht mir auf den Geist. Ich weiß gar nicht, wie ich das zwanzig Jahre lang ausgehalten habe. Ständig dieses falsche Lächeln und die gegenseitige Bewunderung und Verehrung. Und sobald du jemandem den Rücken zudrehst, marschiert er geradewegs zum anwesenden Produzenten und schwärzt dich wegen irgendeiner unüberlegten Äußerung an. Dann bist du den nächsten großen Job los, ohne dass du weißt, wem du eigentlich was getan hast. Meine Söhne dürfen sich damit herumschlagen, die sollen meine Werkstatt sowieso irgendwann übernehmen. Ich will jetzt erst mal meine Ruhe haben.“



„Die hast du hier“, versicherte sie ihm. „Wie lange willst du bleiben? Vier Wochen? Fünf Wochen?“



„Oh, ich dachte eher an sechs oder sieben Monate. Wenn das kein Problem darstellt.“



„Warum sollte das ein Problem sein?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe drei, vier Gäste, die sich auch für ein paar Monate hier einquartieren. Es gibt auch einen ordentlichen Rabatt auf den normalen Zimmerpreis.“



„Hast du hier auch so was wie eine Suite?“, wollte er wissen. „Früher haben mir diese kleinen Zimmer nichts ausgemacht. Und eine Woche könnte ich’s schon auf ein paar Quadratmetern aushalten, notfalls auch noch länger. Aber es wäre schön, wenn du etwas verschwenderisch Großes hättest.“



„Natürlich habe ich das im Angebot", antwortete sie und fügte grinsend hinzu: „Die Koningskamer nimmt das halbe Dachgeschoss in Anspruch. Die habe ich schließlich nur eingerichtet, weil ich wusste, dass du eines Tages eine Auszeit in Zeeland nehmen wirst. Dafür wollte ich gewappnet sein.“



Er lachte. „Das könnte ich fast noch glauben. Aber sag mal, wieso bist du hier und nicht in Lissabon?“



„Der Süden ist nichts für mich. Alles, was südlicher liegt als Zeeland, ist nicht meine Welt“, erwiderte sie. „Vor allem meine Mutter fühlt sich da unten pudelwohl. Meinem Vater ist es ziemlich egal, ob es kalt, warm oder brütend heiß ist. Ich bin hier in meinem Element.“



„Und wie kommt es, dass du dich hier in Zuiderdijk niedergelassen hast, anstatt die Pension deiner Eltern in Westkapelle zu übernehmen?“



„Meine Eltern hatten mir die alte Pension sogar überlassen“, erzählte sie. „Ich sollte mit dem Haus und dem Grundstück machen, was ich für richtig hielt. Verkaufen war genau das, was ich wollte.“



„Aber die Pension lief doch gut“, wandte Rainer ein. „War das nicht ziemlich riskant, das alte Zuhause zu verkaufen und hier neu anzufangen?“



Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ganz im Gegenteil. Es nicht zu machen, wäre ein Fehler gewesen. Westkapelle wird seit einer Weile von immer mehr Touristen überlaufen. Und es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis der Punkt kommt, an dem der Trubel einem großen Teil der Stammgäste zu viel wird und dann bleiben sie weg. Ich habe das Haus und das Grundstück nicht sofort verkauft, sondern erst noch zwei bis drei Jahre die Pension weiterbetrieben. Doch da gab es schon die ersten Klagen meiner Gäste, dass es draußen auf der Straße nachts zu laut ist. Und tagsüber waren etliche von ihnen gar nicht glücklich darüber, kaum aus dem Haus zu kommen, weil immer wieder Massen von Touristen vorbeiströmten. Wenn sich diese Unzufriedenheit erst mal herumspricht, dann verlieren mögliche Investoren das Interesse und damit sinken die Immobilienpreise.“ Sie machte eine vage Handbewegung. „Man könnte sagen, dass mir für unsere alte Pension ein Angebot gemacht wurde, dass ich nicht ausschlagen konnte.“



„Und dann hast du ein paar Kilometer weiter nördlich gleich eine neue Pension eröffnet“, sagte er und nickte beeindruckt.



„Ja, aber das Hauptgebäude hier war vorher schon eine Pension gewesen“, antwortete sie. „Ich bekam das Haus mehr oder weniger geschenkt, weil der Eigentümer kurz zuvor verstorben war und der einzige Sohn nach Australien ausgewandert ist, wo er es zum Multimillionär gebracht hatte. Er wollte den Verkauf so schnell und so unkompliziert wie möglich abwickeln. Und da ich als Erste angefragt habe, überließ er mir die Pension für einen Spottpreis.“



„Glückspilz“, kommentierte Rainer.



„Von dem Geld, das ich hier eingespart habe, konnte ich die beiden angrenzenden Einfamilienhäuser dazukaufen, die glücklicherweise gerade leerstanden“, fuhr sie fort. „Damit habe ich die Zahl der Betten verdoppelt.“



„Und die Gäste fallen entsprechend ein?“, fragte er.



Sie nickte und lächelte zufrieden. „Fast all unsere Gäste aus Westkapelle sind uns hierher gefolgt. Und sie sind von Zuiderdijk so begeistert, dass sie uns ihren Freunden und Bekannten weiterempfehlen. Hier gibt es nicht so viele Lokale und bei denen handelt es sich durchweg um Restaurants.“



„Also keine Wirtschaft, in die man gehen kann, nur um zu trinken?“



„Richtig. Das macht dieses Dorf so uninteressant für die Leute, für die Urlaub in erster Linie darin besteht, sich jeden Tag zu betrinken. Ich hoffe, das bleibt hier auch noch lange so.“



„Wie sieht es denn mit der Konkurrenz für dich aus?“, wollte Rainer wissen. „Gibt es noch andere Pensionen? Oder Hotels?“



„Nein, nur Privatleute, die ein Zimmer oder eine umgebaute Garage auf dem Hinterhof an Touristen vermieten“, erwiderte sie. „Keine Konkurrenz für mich. Wer will, kann drei Mahlzeiten am Tag buchen. Das spart eine Menge Geld im Gegensatz zu täglichen Restaurantbesuchen und darauf achten viele meiner Gäste.“



„Also ein richtig schöner, rundum langweiliger Urlaubsort“, stellte er amüsiert fest. „Und man muss nicht mal das Haus verlassen, um ein Mittagessen oder ein Abendessen zu bekommen.“ Er nickte angetan. „Es war richtig von mir herzukommen. Ich brauche so einen Ort, an dem einfach gar nichts passiert.“



Jenny musste lachen, während sie mahnend den Zeigefinger hob. „Einfach gar nichts stimmt so nicht. Dienstags müssen wir bis um sieben Uhr morgens die Mülltonnen rausstellen.“



Rainer verzog das Gesicht. „So viel Aufregung ist nicht gut für mich, glaube ich.“ Er stutzte, als ihm auffiel, dass Jenny einen der Tische mit einem düsteren Blick bedachte. „Stimmt irgendwas nicht?“, fragte er besorgt.



„Nein, nein, alles in Ordnung“, beteuerte sie.



„Na, komm schon, Jenny“, erwiderte Rainer. „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, wann etwas nicht in Ordnung ist. Und das ist jetzt gerade der Fall.“



„Na ja, es ist einfach seltsam“, brachte sie nach kurzem, nachdenklichem Schweigen heraus.



„Was ist seltsam?“



„Einer meiner Gäste ist verschwunden“, sagte sie.



„Verschwunden? Saß er eben noch da und ist jetzt weg?“



„Nein, er ist nicht zum Frühstück erschienen.“



„Dann hat er wohl verschlafen“, meinte Rainer.



„Ich habe seine Codekarte überprüft. Er hat gestern Abend um kurz nach halb zehn sein Zimmer verlassen und ist seitdem nicht wieder aufgetaucht.“ Jenny seufzte. „Es würde mich nicht so irritieren, wenn er nicht gestern nach dem Abendessen ausdrücklich gesagt hätte, dass er heute Morgen eine große Portion Rührei haben wollte.“



„Na, wenn du jetzt nicht weißt, wohin damit, dann kannst du mir das Rührei überlassen“, scherzte er.



Aber sie blieb ernst und schüttelte flüchtig den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass sie das Ganze nicht lustig fand. „Möchtest du was essen?“, fragte sie. „Oder etwas trinken? Entschuldige, aber daran habe ich bis jetzt nicht gedacht, weil ich viel zu erstaunt war, dich nach so langer Zeit wiederzusehen.“



„Kein Problem, Jenny“, versicherte er ihr. „Wenn ich was haben möchte, melde ich mich schon, okay?“



Sie lächelte ihn an. „Ja, okay.“



„Was deinen verschwundenen Gast angeht“, überlegte Rainer, „hat er vielleicht gestern Abend eine nette Dorfbewohnerin kennengelernt und die Nacht mit ihr verbracht. Da wäre es doch kein Wunder, wenn er darüber vergisst, dass hier eine große Portion Rührei auf ihn wartet.“



Jenny seufzte frustriert. „Natürlich wäre das möglich, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ihm etwas zugestoßen ist.“



„Ah“, machte Rainer und musste unwillkürlich lächeln. „Du meinst, ihm hat womöglich ein Scharfschütze aufgelauert, angeheuert von einem wütenden Ehemann, der davon überzeugt ist, dass dein Gast eine Affäre mit seiner Frau hat?“



„Ausgeschlossen ist so was doch nicht“, gab sie zurück.



„Bist du immer noch so ein Krimi-Fan wie damals?“, fragte Rainer.



„Ja, aber was hat das …“ Sie riss ungläubig die Augen auf. „Moment mal, willst du mir unterstellen, ich würde gleich ein Verbrechen vermuten, nur weil ich Krimis liebe?“



„Weißt du was, Jenny?“, sagte er. „Was hältst du davon, wenn wir beide ein bisschen auf dem Deich spazieren gehen, um da weiterzureden?“



Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Hast du Angst, ich könnte mich vor meinen Angestellten und meinen Gästen zum Gespött machen, wenn jemand meine Mordtheorie mitbekommt?“



Rainer legte seine Hand auf ihre Schulter. „Nein, ich befürchte vielmehr, dass spätestens morgen die wildesten Gerüchte die Runde machen, wenn irgendjemand mitbekommt, welche Möglichkeiten du in Betracht ziehst.“



„Oh.“ Jenny verzog den Mund. „Daran hatte ich gar nicht gedacht. Stimmt, draußen können wir ungestörter reden.“



„Gut. Dann bringe ich mein Gepäck nach oben, mache mich kurz frisch und danach können wir losgehen.“ Er ging zurück zu seinen Koffern.



„Und du willst wirklich nicht vorher noch etwas essen oder trinken?“, vergewisserte sie sich.



„Wenn du dir unbedingt Umstände machen willst, dann hätte ich gern ein … wie hieß das … ein Broodje Kaas. Mit jungem Gouda.“



„Sollst du bekommen“, versprach sie ihm und steckte ihm die Codekarte für sein Zimmer in die obere Jackentasche, da er bereits die Koffer in den Händen hielt.



Als sie die steile Treppe bewältigt hatten, die auf der anderen Straßenseite schräg gegenüber der Pension hinauf zum Deich führte, blieben sie stehen und drehten sich um, weil Rainer einen Blick auf das idyllische Dörfchen Zuiderdijk werfen wollte. Von einem Meer aus roten Ziegeldächern zu reden, wäre sicher übertrieben gewesen. Das Rot reichte nicht bis zum Horizont, sondern nur bis zu einem ausladenden Wald, der im übertragenen Sinn das gegenüberliegende Ufer von Zuiderdijk darstellte. Lediglich die Kirche und der Leuchtturm ragten hoch über die Dächer hinaus – und in gewisser Weise galt das auch für Jennys Pension: Ihr Gebäude war das Einzige im Ort, das noch ein zweites Stockwerk hatte. Allerdings wirkte sich dieser Umstand nicht nachteilig aus, da der Dachfirst noch unterhalb der Deichkrone lag und die Sicht auf das Dorf dadurch nicht beeinträchtigt wurde. Zudem stand das Haus genau an der Straße, die direkt am Deich entlang verlief, sodass es nicht einmal Nachbarn gab, die gegenüber wohnten und sich in ihrem Sichtfeld eingeschränkt fühlen konnten.



„Huis Zonnebloem“, las er den Namen vor, der in großen weißen Buchstaben auf dem Dach geschrieben stand, um Touristen auf dem Deich auf sich aufmerksam zu machen. „Bei uns würde deine Pension Haus Bienlein heißen.“



„Bienlein? Nicht Sonnenblume?“, fragte Jenny verwundert und zog den Reißverschluss ihrer leicht gefütterten Jacke zu. Obwohl die Sonne schien, war es nicht so warm, wie man hätte vermuten können. Ein kräftiger Wind trieb die Wellen mit ihren weißen Schaumkronen in Richtung Küste und sorgte dafür, dass man lieber zu einem dünnen Pullover griff, wenn man das Haus verließ.



„Eigentlich müsste sie Pension Sonnenblume heißen“, stimmte er ihr zu und genoss den kühlen Wind so sehr, dass er sich mit einem dünnen Jeanshemd und einem leichten Mantel begnügte, den er nicht mal zugeknöpft hatte. „Aber in deinem Fall würde sie trotzdem Bienlein heißen, weil ich mir sicher bin, dass du bei diesem Namen an Professor Zonnebloem gedacht hast. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du damals die ‚Tim und Struppi‘-Alben gelesen hast …“ Er bemerkte ihren fragenden Blick. „Was bei euch ‚Kuifje‘ heißt. Das waren ja auch immer kleine Krimis.“ Jetzt nickte sie verstehend. „Euer Professor Zonnebloem heißt bei uns Professor Bienlein. So viel wie kleine Biene.“



„Dir entgeht auch nichts, wie? Du bist wirklich gut“, sagte sie. „Zu gut. Und du weißt zu viel. Ich werde dich verschwinden lassen müssen. Ganz unauffällig.“



„Sag mir, wenn ich dir dabei behilflich sein kann“, konterte er ironisch. „Vielleicht die Axt halten? Oder die giftige Tinktur rühren?“



„Ich werde dir schon Bescheid sagen“, erwiderte sie und zeigte auf die beiden einzigen markanten Punkte von Zuiderdijk. „Da rechts siehst du unseren Leuchtturm, der aber schon vor Jahren abgeschaltet wurde. Besichtigen kann man ihn aber immer noch.“



„Und viele viele Stufen bewältigen. Danke, aber das ist nichts für mich.“ Nachdenklich betrachtete er das schmale, hohe Bauwerk. „Ich könnte schwören, dass ich hier früher mal durchgefahren bin und den weiß-rot gestreiften Leuchtturm gesehen habe, nicht komplett in Backsteinrot.“



„Deine Erinnerung trügt dich nicht, Rainer“, antwortete sie. „Früher hatte der Leuchtturm weiße Streifen, aber nicht von Anfang an. Irgendwann hat irgendwer beschlossen, ihm weiße Streifen zu verpassen. Aber als daraus ein Denkmal werden sollte, stellte man fest, dass das nicht der Originalzustand war. Also wurde erst mal die weiße Farbe entfernt, ehe er zum Denkmal werden konnte.“



„Interessant. Und die Kirche?“, wollte er wissen und zeigte nach links. „Ist das noch eine Kirche?“



„Auch schon lange nicht mehr.“ Jenny musste grinsen und stupste ihn an, damit er sich umdrehte und sie auf dem Deich entlanggehen konnten. Am Strand rechts von ihnen waren ein paar Leute mit ihren Hunden unterwegs, die sich jetzt wieder dort tummeln durften, nachdem die letzten Touristen abgereist waren. „Das Kuriose daran ist, dass die Menschen aus Zuiderdijk auf dem Platz rund um die Kirche einen Markt haben wollten. Doch die Kirchenleitung hat sich immer geweigert, den Platz dafür freizugeben. Nachdem die Kirche dann keine Kirche mehr war, hat die Gemeinde beschlossen, sie in eine Markthalle umzubauen, in der die Händler vor Wind und Wetter geschützt ihre regionalen Waren anbieten können. Es war ein voller Erfolg und das ist bis heute so geblieben.“



„Und ein Tritt in den Hintern der Kirchenoberen, würde ich sagen.“



„Wir hatten alle unseren Spaß auf deren Kosten“, bekräftigte Jenny amüsiert, wurde dann aber ernst. „Lass uns über meinen verschwundenen Gast reden, Rainer.“



Er schüttelte den Kopf. „Erst will ich wissen, ob du immer noch so eine Krimifanatikerin bist wie früher, als du dir so gut wie jede Krimiserie angesehen hast.“



„Nicht so gut wie jede“, stellte sie schnell klar. „All das blutrünstige Zeug wollte ich nie sehen und das will ich heute auch noch nicht. Mich interessiert mehr, wie die Polizisten ermitteln und wie sie dann den Täter überführen. Du weißt schon: So wie bei ‚Derrick‘ und ‚Der Alte‘ und ‚Baantjer‘.“



„Was ist ‚Baantjer‘?“, fragte er.



„Ach, stimmt, die kannst du ja gar nicht kennen. Die lief nur bei uns“, antwortete sie. „‚Baantjer‘ ist so was wie der ‚hollandse Derrick‘, aber noch viel cooler.“



„Also jung und dynamisch?“



„Ganz im Gegenteil. Commissaris de Cock ist eher so ein Typ, bei dem man denkt, dass er nächste Woche pensioniert wird. Der wirkt immer total entspannt, geht von einem Verdächtigen zum nächsten, stellt Fragen, macht Notizen und kurz vor Ende präsentiert er den Mörder, wenn er sich ganz sicher ist, dass er den Richtigen hat.“



Rainer runzelte die Stirn. „Wenn der Kommissar de Cock heißt, wer ist dann dieser ‚Baantjer‘?“



„So heißt der Mann, der die Romane geschrieben hat, nach denen die Serie entstanden ist“, erklärte sie. „Aber nur weil ich Krimis liebe, heißt das nicht, dass ich überall Mord, Raub und andere Verbrechen sehe.“



„Du meinst, so wie damals, als deine beste Freundin entführt worden war, nur weil sie nicht wie verabredet an eurem Stammtreffpunkt erschienen war?“, fragte Rainer schmunzelnd. „Oder als du die Polizei angerufen hast, weil du davon überzeugt warst, dass euer Klassenlehrer seine Frau im Keller gefangen hielt? Oder als …“



„Schon gut, hör auf!“, ging sie dazwischen. „Damals war ich zehn oder elf. Da haben solche Geschichten eine ganz andere Wirkung. Heute sehe ich nicht überall Mörder oder Entführer oder was weiß ich. Trotzdem bin ich mir sicher, dass meinem Gast etwas zugestoßen ist.“



„Kannst du ihn nicht anrufen?“



„Das habe ich heute früh schon versucht, als ich festgestellt habe, dass er nicht zurück ins Haus gekommen ist“, antwortete Jenny frustriert. „Dummerweise ist der Teilnehmer nicht erreichbar.“



„Dann ruf die Polizei an, wenn dir das so zu schaffen macht“, schlug er vor.



Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Dann glaubst du mir? Dass ihm etwas zugestoßen ist?“



Sofort hob er abwehrend die Hände. „Nicht so hastig, Blondie. Ich glaube dir, dass du beunruhigt bist, aber aus meiner Sicht spricht nichts für ein Verbrechen oder ein Unglück. Ich sage nur, dass du deine Beobachtung der Polizei melden könntest. Wenn du seinen Namen und eine Personenbeschreibung liefern kannst, dann können die sich umhören, ob er zum Beispiel in einen Unfall verwickelt war und im Krankenhaus liegt.“



Jenny verzog den Mund. „Leider habe ich das schon versucht, aber der zuständige Agent …“



„Agent ist ein einfacher Polizist, richtig?“, unterbrach er. „Ich habe in zwanzig Jahren zwar einiges vergessen, aber ich glaube, das ist noch im Hirn.“



„Richtig, Rainer“, sagte sie. „Auf jeden Fall meinte er, ich müsste mindestens achtundvierzig Stunden warten, wenn ich keinen konkreten Anhaltspunkt für ein Verbrechen habe.“



„Hat er das näher definiert?“



„Nein, er sagte nur, mein Gefühl würde nicht zählen, auch nicht meine Gewissheit.“



„Dann frage ich mich, was zählt“, sagte Rainer und ließ den Blick über das Meer schweifen. Möwen kreisten kreischend dort über dem Wasser, wo ein kleiner Fischkutter seine Netze ausgeworfen hatte. Einige Frachtschiffe waren nahe der Küste unterwegs, da sie wohl den Hafen von Antwerpen ansteuerten.



„Seine Leiche“, flüsterte Jenny.



„Wenn du erst mal seine Leiche gefunden hast, dann musst du ihn ja nicht mehr als vermisst melden“, gab er zurück.



„Nein, seine Leiche“, wiederholte sie. „Da unten liegt seine Leiche.“



2. Kapitel



„Was redest du da?“, fragte Rainer verwundert und drehte sich zu ihr um.



Jenny zeigte nach unten auf die Büsche, die am Rand des Deichs gepflanzt worden waren, um Spaziergänger dazu zu zwingen, nur die angelegten Treppen zu benutzen, aber nicht an jeder beliebigen Stelle den Deich platt zu trampeln.



„Da liegt er“, flüsterte sie. „Da unten! Das ist Markus Sänger, mein vermisster Gast!“



Er stellte sich zu ihr, beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. „Wie willst du das bitte erkennen? Mir ist ja nicht mal klar, was ich da überhaupt sehe.“



„Der Mann liegt längs unter den Büschen. Die Füße links, der Kopf rechts“, erklärte sie. „Mir war seine etwas … sagen wir mal extravagante Farbkombination schon am ersten Tag aufgefallen. Da trug er diese gelbe Jacke mit roten Streifen. Sie war mir direkt aufgefallen, weil er von Weitem genauso wie einer von diesen Paketauslieferern aussah. Dazu diese weinrote Hose und diese Sneakers in Schwarz und Giftgrün.“



„Jemand läuft freiwillig so durch die Gegend?“, wunderte sich Rainer.



„Sagt der Mann, der in Hollywood jahrelang von noch exotischeren Vögeln umgeben gewesen ist“, konterte sie.



„Ja, aber das war das schrille Hollywood, nicht das beschauliche Zuiderdijk in Zeeland“, erwiderte er.



„Vielleicht war Sänger ja auch schon mal da und hat den Stil von da mitgebracht.“



Rainer sagte nichts, sondern ließ sich ihre Beschreibung der Kleidung dieses Mannes noch einmal durch den Kopf gehen. Stück für Stück begriff sein Verstand das Bild, das sich ihm bot. Und dann auf einmal konnte er genau erkennen, was Jenny sofort durchschaut hatte. Da lag tatsächlich eine Person im Gebüsch, die keine Anzeichen dafür erkennen ließ, dass sie noch lebte.



Rainer schaute nach links und rechts. „Es kommt keiner, lass uns hier runtergehen“, sagte er und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um auf dem feuchten Gras nicht auszurutschen.



Jenny folgte ihm. Am Gebüsch ging sie in Höhe des Kopfs neben dem Toten in die Hocke. Eine innere Stimme ermahnte sie, nicht gleich vom Schlimmsten auszugehen, denn Markus Sänger war womöglich nur ohnmächtig.



Da er mit dem Rücken zu ihr lag, musste sie ihn ein Stück weit zu sich drehen. Der Kopf hing nach rechts. Doch als sie mit Rainers Hilfe fest genug an dem Körper zog, rollte er sich auf einmal wie von selbst auf den Rücken. Durch den Schwung kippte auch sein Kopf nach links, sodass seine Augen Jenny mit leerem Blick anstarrten.



Sie brauchte einen Moment, um sich von diesem erschreckenden Anblick zu erholen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Das ist Markus Sänger“, sagte sie mit absoluter Gewissheit. Sie hatte den Mann in den letzten paar Tagen etliche Male gesehen und sich immer über dies und jenes unterhalten, weshalb es keinen Zweifel an seiner Identität gab. Und an der Tatsache, dass er tot war. „Sieh dir mal seinen Hals an“, bat sie Rainer, da er so aussah, als hätte jemand mit einem Messer ringsherum eine tiefe Kerbe hineingeritzt.



„Er wurde wohl mit einem Draht stranguliert“, erklärte Rainer. „Sieh dir nur an, wie tief der sich ins Fleisch geschnitten hat.“



Jenny sah ihn erstaunt an. „Bist du Fachmann für so was?“



„Ja, bin ich“, gab er zurück. „Aber nicht, was du denkst. Ich hatte das ‚Vergnügen‘, für einen Film gleich fünf Schauspielerinnen mit solchen Maskenteilen zu versehen, damit es exakt so aussieht wie mit einem Draht stranguliert.“



„Dann wirst du wohl recht haben“, stimmte sie ihm zu und griff nach dem Smartphone, um den Notruf zu wählen. Als ihr Anruf endlich angenommen wurde, schilderte sie ihren Fund. „Es kommt so schnell wie möglich jemand her“, sagte sie, nachdem sie wieder aufgelegt hatte.



„Na, dann bin ich mal gespannt, wie schnell ‚so schnell wie möglich‘ ist“, kommentierte Rainer.



„Vor allem frage ich mich, was wir jetzt machen sollen“, überlegte Jenny. „Ich meine, wenn wir hier weiter rumstehen, wird irgendwer aus der Nachbarschaft auf uns aufmerksam werden und uns fragen, was denn los ist. Wenn wir gehen und lassen ihn so liegen, bemerken ihn andere und kommen auch noch her, um sich anzusehen, wer da liegt und was wohl passiert ist.“



Rainer kratzte sich nachdenklich am Kinn und sah sich wieder um. „Sag mal, hinter den Bäumen da befindet sich doch dein Gästeparkplatz, richtig?“



„Ja, richtig.“



„Dann bin ich gleich wieder da“, sagte er und schob zwei Büsche auseinander, um auf die andere Seite der Hecke zu gelangen.



Unterdessen stand Jenny da und betrachtete ihre Umgebung, da sie sich fragte, wo Sänger von seinem Mörder angegriffen und getötet worden sein mochte. Hatte sich die Tat oben auf dem Deich ereignet? Ja, das war durchaus möglich, weil sich dieser Abschnitt genau zwischen zwei Laternen befand und damit so sehr im Dunkeln lag, dass selbst ein Beobachter des Mordes nichts Genaues hätte erkennen können. Außerdem war die Stelle weit genug von den Häusern unten am Deich entfernt, sodass das Risiko eines zufälligen Augenzeugens schon deutlich geringer war. Hatte er ihn einfach hier runterrollen lassen, ohne sich weiter um sein Opfer zu kümmern? Sie sah sich den Toten genauer an, kam aber zu dem Schluss, dass das wohl nicht der Fall gewesen war. Seine Kleidung war weitestgehend sauber und das wäre kaum möglich gewesen, wenn er über das Gras gerollt wäre. Erde und ein paar Halme wären sicher am Stoff hängengeblieben.



Etwas verwunderte sie in diesem Moment über alle Maßen: Sie sah heute zum ersten Mal in ihrem Leben einen toten Menschen und dazu noch jemanden, der einem Mord zum Opfer gefallen war. Sie hatte immer gedacht, dass sie so reagieren würde wie viele Leute in ihren Lieblingskrimis, die nach einem Blick auf den Toten erst mal ins Gebüsch liefen, weil sie sich übergeben mussten.



Aber das war nicht der Fall. Stattdessen war sie die Ruhe selbst und machte sich darüber Gedanken, wie sie mit dem Toten am besten verfahren sollten, bis die Polizei eintraf. Sie hatte nicht mal vor Schreck aufgeschrien, sie war nicht verängstigt zurückgewichen oder vor Entsetzen nicht in der Lage, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.



Es erschien ihr nicht sehr überzeugend, dass die vielen Filmtoten sie hatte abstumpfen lassen. Denn da war ihr ja immer klar gewesen, dass es sich bei ihnen um Schauspieler handelte, die nach der Szene wieder quicklebendig waren. Im Fall von Markus Sänger wusste sie, dass er nicht wieder aufstehen würde. Aber vielleicht war es ja diese Gewissheit, nichts mehr tun zu können, die ihr diese innere Ruhe gab. Womöglich wäre es anders gewesen, wenn sie ihn schwer verletzt vorgefunden hätten und jetzt darum bangen müssten, dass die Ambulanz rechtzeitig eintraf, um ihn ins Krankenhaus zu bringen und sein Leben zu retten. Ja, vermutlich wäre sie dann ein Nervenbündel gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass es auf jede Sekunde ankam. Für Markus Sänger kam dagegen jede Hilfe zu spät. Das Einzige, was man für ihn noch tun konnte, war die Überführung und Verurteilung seines Mörders.



„Da bin ich“, rief Rainer ihr zu, der sich soeben wieder zwischen den Büschen hindurchgezwängt hatte und ihr eine große graue Plastikplane präsentierte. „Die ist für den Dachgepäckträger gedacht. Darum ist sie groß genug, um sie über deinen Toten zu legen.“



„Er ist nicht mein Toter“, widersprach Jenny, griff nach einem Ende der Plane, hielt dann aber inne. „Augenblick“, sagte sie und zog ihr Smartphone aus der Tasche, tippte auf das Kamerasymbol und schoss Fotos von dem Toten.



„Jetzt sag nicht, du machst zum Andenken ein paar Fotos“, knurrte Rainer ungehalten, der sein Ende der Plane noch festhielt.



„Ich würde es liebend gern nicht machen“, versicherte sie ihm. „Aber ich will mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen müssen, wenn die Polizei nach drei oder vier Wochen noch mal vorbeikommt und weitere Fragen hat. Bis dahin hat sich in der Pension und ringsherum so viel ereignet, dass ich irgendein Detail längst vergessen habe.“



„Ich wüsste zwar nicht, welches Detail so wichtig sein könnte“, entgegnete Rainer, „aber prinzipiell hast du sicher recht. Wir neigen alle dazu, in unserer Erinnerung das eine oder andere zu verändern, wenn nur genügend Zeit verstrichen ist. Da sind Fotos schon besser, weil sie unbestechlich sind. Jedenfalls solange sie niemand bearbeitet.“



„Danke“, sagte sie leise und machte weitere Fotos auch von der Umgebung, um die Stelle zweifelsfrei wiederfinden zu können. Als sie das Gefühl hatte, jeden maßgeblichen Winkel erfasst zu haben, steckte sie ihr Smartphone wieder ein, griff nach dem anderen Ende der Plane und breitete sie über dem Toten aus. „Wir sollten am besten auf dem Deich warten, bis die Polizei kommt. Da oben finden sie uns am leichtesten und von hier aus gelangen sie auch besser an den Toten.“



„Keine Einwände von meiner Seite“, sagte Rainer und folgte ihr zurück auf die Deichkrone. Ein paar Radfahrer waren dort unterwegs, aber keine anderen Spaziergänger.



„Du wirkst sehr gefasst, Jenny“, stellte er fest, nachdem sie eine Weile schweigend Seite an Seite dagestanden hatten und jeder von ihnen seinen Gedanken nachgehangen war.



„Ja, das war mir selbst schon aufgefallen, als du die Plane geholt hast.“ Sie schilderte ihm, zu welcher Erkenntnis sie gekommen war.



Rainer konnte ihr nur zustimmen, denn er hatte sie als mitfühlenden Menschen kennengelernt, auch wenn sie da erst dreizehn oder vierzehn gewesen war.



„Du bist aber auch die Ruhe selbst“, entgegnete Jenny schließlich.



„Das bringt wohl der Beruf als Maskenbildner so mit sich“, antwortete er und verzog den Mund. „Jeden Tag modellierst du blutende Fleischwunden, Verbrennungen jeden Grades, Verletzungen wirklich aller Art. Da denkst du nach einer Weile …“ Er unterbrach sich. „Halt mich bitte nicht für herzlos oder pietätlos, wenn du das gleich hörst. Aber wenn ich bei deinem Ex-Gast diese Verletzung sehe, dann denke ich: ‚Ach, so sieht das in echt aus? Davon kann ich mir was abgucken.‘ Bei anderen Fotos von Verletzungen denke ich dann wieder: ‚Also, wenn ich so was mache, dann sieht das aber viel besser aus.‘ Glaub mir, ich hasse mich selbst dafür.“



„Das ist ja … ich weiß gar nicht, wie ich das bezeichnen soll“, murmelte Jenny und musste unwillkürlich auflachen, woraufhin sie erschrocken eine Hand vor den Mund hielt. „Oh, das … das wollte ich gar nicht, tut mir leid. Aber irgendwo hat das schon was Lustiges, muss ich sagen.“



„Das sind halt die üblichen Berufskrankheiten“, sagte er. „Ein Malermeister entdeckt bei jeder Wand auf Anhieb die eine Stelle, an der die Farbe nicht richtig aufgetragen wurde. Ein Korrektor sieht sofort die zwanzig Rechtschreibfehler auf der Speisekarte beim Italiener. Dich kann man in ein beliebiges Hotelzimmer irgendwo auf der Welt stellen und du siehst sofort, was beim Bett falschgemacht wurde, was nicht da steht, wo es hingehört, wo nicht Staub gewischt wurde und so weiter …“



„Solange es uns nicht zu herzlosen Menschen macht“, meinte Jenny, „ist noch alles in Ordnung.“



„Richtig“, stimmte er ihr zu und sah hinaus aufs Meer, während ihnen der Seewind ins Gesicht blies. „Wären wir das, dann könnten wir auch nicht eine solche Aussicht genießen.“



„Oh ja“, flüsterte Jenny und kniff die Augen zu, um das Meeresrauschen auf sich wirken zu lassen, das sie stets in einen tiefenentspannten Zustand versetzte, aus dem sie am liebsten gar nicht geweckt werden wollte. Etwas sagte ihr, dass sie diese intensive Entspannung jetzt noch genießen sollte, weil sie später kaum noch Gelegenheit dazu bekommen würde. Warum sie so empfand, konnte sie sich nicht erklären …



Die Erklärung erhielt sie nur eine Dreiviertelstunde später, als die Polizei eintraf, allen voran Commissaris Ilse Ruijters, noch keine dreißig, sehr bestimmend und sicher auch sehr ehrgeizig – und sehr engstirnig, wie sich in den nächsten Minuten zeigen würde. Die dunkelbraunen Haare hatte sie streng nach hinten gekämmt und zu einem kurzen und so straffen Pferdeschwanz zusammengebunden, dass es so wirkte, als würde ihr ganzes Gesicht mit nach hinten gezogen. Vermutlich war sie nicht mal in der Lage, irgendeine Gefühlsregung zu zeigen, weil die Haut keinen Spielraum mehr hatte. Sie trug ein Jackett und eine Anzughose und machte den Eindruck einer Managerin, die nur kurz ein Meeting verlassen hatte, um frische Luft zu schnappen. Wobei die Sache mit dem Luftschnappen gar nicht so einfach zu sein schien, da das Jackett wie auf den Leib genäht saß und scheinbar nur flache Atemzüge zuließ.



„Guten Tag, ich bin Commissaris Ruijters“, sagte sie in einem unverbindlichen Tonfall. „Sie haben uns informiert, dass Sie hier eine Leiche gefunden haben?“



„Ja, ich bin Jenny van Oosterburg“, stellte sie sich vor und deutete mit einem Kopfnicken auf ihren Begleiter. „Und das ist Rainer Trompeter, ein guter Freund meiner Familie.“



Die Polizistin, die in Begleitung von zwei uniformierten Polizisten auf den Deich gekommen war, nickte nur knapp und fragte. „Und wo ist die Leiche.“



„Da unten am Fuß des Deichs“, sagte Jenny und zeigte in die entsprechende Richtung.



Commissaris Ruijters stutzte. „Woher wussten Sie, dass unter der Plane eine Leiche liegt?“



„Der Tote lag nicht unter der Plane“, erklärte Rainer. „Die haben wir eben über ihn gelegt, um ihn vor den Blicken von Gaffern zu schützen.“



„Das heißt, Sie haben den Tatort verändert“, sagte die Frau und schnaubte.



„Wir wollten nicht, dass jemand auf ihn aufmerksam wird und vielleicht auch noch Fotos im Internet postet“, gab Jenny zurück. „Außerdem muss sich das nicht gleich im ganzen Dorf herumsprechen.“



Die Polizistin gab ihren Kollegen ein Zeichen, dass sie nach unten gehen sollten, und folgte ihnen auf ihren flachen Schuhen, die sich mit ihrem sonst so adretten Outfit stachen.



Jenny und Rainer gingen hinter ihr her, da damit zu rechnen war, dass es Fragen zu beantworten gab. Als sie unten ankamen, zogen die beiden Polizisten die Plane weg und gaben sie an Rainer zurück, der mit Handzeichen seinen Besitzanspruch geltend gemacht hatte. Er nahm sie an sich und faltete sie ordentlich zusammen.



„Und so haben Sie ihn hier entdeckt?“, fragte die Polizistin.



„Nein, er lag auf der rechten Seite unter der Hecke“, erklärte Jenny. „Bemerkt habe ich ihn auch nur wegen seiner auffällig gefärbten Kleidung.“



Die Polizistin sah sie eindringlich an. „Sie haben den Leichnam bewegt?“



„Ja“, antwortete Jenny. „Wir mussten uns ja wenigstens vergewissern, dass er tot ist.“



„Das hätten wir schon noch erledigt.“



„Nachdem Sie fast eine Stunde gebraucht haben, um herzukommen, Mevrouw Commissaris?“, konterte Jenny. „Vielleicht hätte er noch gelebt, als wir ihn fanden, aber nicht eine Stunde lang durchgehalten. Hätte ich ihn sterben lassen sollen?“



„Sie haben die Position des Toten verändert, das ist nicht gut.“



„Ich habe sie verändert, um festzustellen, ob er noch lebt!“, beharrte sie. „Ich frage Sie noch einmal, Commissaris: Hätte ich ihn sterben lassen sollen? Dann wäre ich noch wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht gestellt worden.“



„Natürlich hätten Sie ihn nicht sterben lassen sollen, Mevrouw van Oosterburg. Aber es gibt auch andere Mittel und Wege, um festzustellen, ob ein mutmaßlich Toter auch tatsächlich tot ist.“



„Tut mir leid“, gab Jenny zurück. „Aber ich hatte das Handbuch für tausend unerwartete Situationen leider zu Hause vergessen. Außerdem war ich noch nicht bis zum Kapitel zehn ‚Tot oder nicht tot?‘ gekommen.“



Die Polizistin ließ den vorwurfsvollen Ton von sich abprallen, als würde sie nur dabeistehen und das Geschehen beobachten. „Man kann der mutmaßlich toten Person auch einen Taschenspiegel vor Mund und Nase halten, um zu sehen, ob der Spiegel beschlägt.“



„Ich hatte aber keinen Spiegel zur Hand.“



„Man kann auch den Puls fühlen“, gab sie zu bedenken.



Jenny verzog den Mund. „Wenn es danach ginge, wäre ich schon seit Jahrzehnten tot. Ich kann ja nicht mal meinen eigenen Puls ertasten.“



Die Polizistin atmete seufzend aus und schüttelte den Kopf, bevor sie sich die Umgebung rund um den Toten ansah. Nach einem Blick auf Jennys und Rainers Schuhe fuhr sie fort: „Ich muss wohl annehmen, dass da alles Abdrücke Ihrer Schuhsohlen sind, richtig?“



„Richtig“, bestätigte Jenny. „Wir mussten ja schließlich erst feststellen, ob da wirklich jemand liegt oder ob nur irgendwer Kleidung da hingelegt hat. Ich glaube, Sie wären nicht hergekommen, wenn ich angerufen und gemeldet hätte, dass hier eine Jacke, eine Hose und ein Paar Schuhe so im Gebüsch liegen, dass es aussieht, als hätte man eine Leiche zurückgelassen.“



Die Polizistin zog eine Augenbraue hoch.



„Sie dürfen gerne sagen, dass wir uns richtig verhalten haben“, fügte Jenny mürrisch an. „Oder hätten Sie in den Medien lieber die Schlagzeile ‚Sterbender Mann liegt am Deich – fünfzig Spaziergänger schauen weg‘ gelesen?“



Commissaris Ruijters sah auf ihr Tablet, als würde dort die Antwort auf Jennys Frage zu finden sein. Schließlich murmelte sie: „Sie haben sich richtig verhalten. Trotzdem hätte ich es lieber gesehen, wenn der Tatort nicht verändert worden wäre.“ Als Jenny zu einem erneuten Protest ansetzen wollte, hob die Polizistin abwehrend die Hand: „Ja, ich weiß. Sie mussten sich erst mal vergewissern, ob da überhaupt jemand liegt, und Sie konnten nicht ohne Weiteres feststellen, ob die Person noch lebt. Beides kann aber dazu geführt haben, dass wichtige Spuren zerstört wurden, die uns zum Täter hätten führen können.“



„Wie sollten wir das verhindern?“, warf Rainer ein. „Jeder würde doch erst mal instinktiv versuchen, einen möglicherweise Schwerverletzten zu retten, wenn es nicht wirklich offensichtlich ist, dass derjenige ohne Zweifel tot ist. Ich meine, man kann ja auch nicht zuallererst von einem Verbrechen ausgehen. Er könnte ja auch auf dem Deich das Bewusstsein verloren haben, ist zur Seite gekippt und die Schräge hinuntergerollt.“



Die Polizistin hörte sich scheinbar geduldig alles an, was die beiden ihr zu sagen hatten, auch wenn es mehr als offensichtlich war, dass sie sie am liebsten einfach hätte stehen lassen. In gewisser Weise tat sie das auch, da sie Einweghandschuhe anzog, sich hinkniete und den Leichnam abtastete. „Ich verstehe, was Sie meinen, und ich verstehe auch das Dilemma, in dem man sich in einem solchen Moment befindet. Ich möchte Sie nur dafür sensibilisieren, möglichst wenig zu verändern, wenn Sie das nächste Mal einen Toten finden …“



„… was hoffentlich nie geschehen wird“, gab Jenny zurück. „Eine Leiche reicht mir fürs ganze Leben.“



„Was können Sie mir über den Mann sagen?“, wechselte Commissaris Ruijters das Thema.



„Er heißt Marcus Sänger, kommt aus Deutschland, hat einige Nächte in meiner Pension verbracht …“



„Welche Pension ist das?“



„Die Einzige in Zuiderdijk. Huis Bie… Zonnebloem“, antwortete sie und warf Rainer einen gespielt wütenden Blick zu, da er bei ihrem Versprecher zu grinsen begonnen hatte.



„Okay“, sagte die Polizistin und machte eine Notiz.



„Er wollte noch bis nächste Woche bleiben. Gestern Abend ist er gegen halb zehn am Abend noch mal weggegangen. Für heute Morgen hatte er ausdrücklich Rührei bestellt, aber zum Frühstück ist er nicht mehr erschienen.“



„Haben Sie ihn als vermisst gemeldet?“



„Das habe ich heute Morgen versucht, aber der Mitarbeiter in Ihrer Dienststelle, oder wo auch immer er gesessen haben mag, war der Meinung, dass ich so schnell noch keine Vermisstenmeldung machen könne“, erklärte Jenny.



„Dem Kollegen werde ich mal Bescheid geben müssen, dass es so nicht geht“, erwiderte die Polizistin.



„Oh, ich möchte aber nicht, dass der junge Mann meinetwegen Ärger bekommt!“



„Keine Sorge, es wird nur eine Ermahnung sein.“ Dann zeigte sie auf den Toten. „Er hat keine Papiere bei sich. Kann es sein, dass die sich noch in Ihrer Pension befinden?“



„Das ist möglich“, antwortete Jenny. „Ich habe heute früh nur einen flüchtigen Blick in sein Zimmer geworfen, um mich zu vergewissern, dass er nicht doch in der Nacht zurückgekommen ist und das System das nicht erfasst hat.“



„Gut, dann lasse ich anschließend einen meiner Leute zu Ihnen kommen, damit er nach den Papieren sucht und sich bei der Gelegenheit das Zimmer ansieht, ob Hinweise auf den Täter zu finden sind.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Vorausgesetzt, Sie haben dort nicht auch irgendwelche Veränderungen vorgenommen.“



„Keine Sorge“, antwortete sie ein wenig pikiert. „Während wir auf Ihre Ankunft gewartet haben, habe ich meinen Zimmermädchen gesagt, dass sie den Raum komplett in Ruhe lassen sollen.“



„Gut. Der Kollege wird bei der Gelegenheit auch die Personalien von Ihnen beiden aufnehmen“, fuhr sie fort. „Ach ja, und er wird von Ihnen beiden die Schuhsohlen fotografieren und Ihre Fingerabdrücke nehmen. Umso leichter finden wir vielleicht noch brauchbare Spuren, wenn wir wissen, was wir alles unberücksichtigt lassen können.“



„Wir stellen alles zur Verfügung, was Sie benötigen, um diese grausige Tat aufzuklären“, versicherte Jenny ihr. „Ich will schließlich wissen, wer meinen Gast auf dem Gewissen hat und warum Sänger sterben musste.“



„Sie wissen aber, dass ich Ihnen während der Ermittlungen keine Auskunft darüber erteilen kann, was wir herausgefunden haben?“, hakte die Polizistin nach.



„Ja, ich weiß“, bestätigte Jenny. „Aber wenn von dem Täter Gefahr für andere Gäste ausgehen könnte, werden Sie mir doch Bescheid geben, nicht wahr?“



„Selbstverständlich, Mevrouw van Oosterburg“, antwortete Commissaris Ruijters, doch ihre Worte klangen mehr wie eine dahingesagte Floskel.



Jenny konnte nur hoffen, dass dieser Eindruck täuschte und die übrigen Gäste in ihrer Pension vor dem Mörder sicher waren.





Mordesstund hat Gold im Mund



Nachdem Pensionsbesitzerin Jenny erst vor Kurzem einen spektakulären Kriminalfall gelöst hat, kehrt in dem kleinen Küstenort Zuiderdijk immer noch keine Ruhe ein. Die Frau eines Gastes wird erstochen aufgefunden und für die Polizei steht der Mörder schnell fest: Der Ehemann verhält sich mehr als verdächtig und könnte sogar der seit Jahren gesuchte "Zeeland Ripper" sein. Das geht Jenny nun wirklich zu weit und sie stürzt sich in waghalsige Ermittlungen, um die Unschuld ihres Gastes zu beweisen – ob die Polizei nun will oder nicht …



 



Tote Fische fängt man schneller



In dem beschaulichen Örtchen Zuiderdijk in Zeeland geht eigentlich alles seinen gewohnten Gang – bis zu dem Tag, an dem Pensionsbesitzerin Jenny am Deich auf ihren Gast Markus trifft … ermordet. Die Ermittlungen der Polizei laufen schleppend, und als eine zweite Leiche gefunden wird, kann Jenny nicht widerstehen, dem müden Polizeiapparat ein bisschen unter die Arme zu greifen. Mit detektivischem Eifer macht sie den Bruder des ersten Opfers ausfindig, der sich sicher ist, dass Markus in krumme Geschäfte verwickelt war. Gemeinsam folgen sie den dubiosen Spuren des Verstorbenen durch das behagliche Küstenstädtchen auf der Suche nach dem Mörder. Doch wer ist hier eigentlich wem auf den Fersen?



 



Der Tod schickt Blumen



Ein jahrelanger Dauercamper bekommt tagelang schwarze Tulpen geschickt … und am zehnten Tag wird seine Leiche gefunden. So ein merkwürdiges Verbrechen hat der kleine Küstenort noch nie gesehen. Als der Blumenhändler erneut anonyme Bestellungen für schwarze Tulpen bekommt, wendet er sich an die Polizei – und an Pensionswirtin Jenny, die für ihre Spürnase inzwischen stadtbekannt ist. Sie muss so schnell wie möglich die Gemeinsamkeit zwischen den Blumen-Empfängern finden, um den Täter zu stellen, denn er scheint noch lange nicht fertig zu sein …

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  • Autor find_in_page Annie de Vries
  • Autoreninformationen Annie de Vries ist in Den Haag geboren und arbeitet seit dem… open_in_new Mehr erfahren
  • Verlag find_in_page dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
  • Seitenzahl 480
  • Veröffentlichung 01.06.2025
  • ISBN 9783690902908

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