Der Highlander aus einer anderen Zeit

Ein romantischer Zeitreiseroman in Schottland, der jedes Herz zum Schmelzen bringt

Ein geheimnisvoller Schatz und eine Liebe, die die Grenzen der Zeit überwindet Der sinnliche und romantische Zeitreise Roman von Bestsellerautorin Linda Howard  Grace St. John, eine junge und ambitionierte Wissenschaftlerin, stößt in einem Stapel alter Dokumente auf ein besonderes Manuskript, welches die Spur zu einem sagenumwobenen keltischen Schatz enthält. Völlig fasziniert von ihrer Entdeckung ahnt Grace nicht, dass diese der Schlüssel zu unbegrenzter Macht darstellt und ihr bereits skrupellose und machthungrige Mörder auf den Fersen sind. Der Einzige, der Grace jetzt noch helfen kann ist Niall – ein Krieger, der das... alles anzeigen expand_more

Ein geheimnisvoller Schatz und eine Liebe, die die Grenzen der Zeit überwindet
Der sinnliche und romantische Zeitreise Roman von Bestsellerautorin Linda Howard 



Grace St. John, eine junge und ambitionierte Wissenschaftlerin, stößt in einem Stapel alter Dokumente auf ein besonderes Manuskript, welches die Spur zu einem sagenumwobenen keltischen Schatz enthält. Völlig fasziniert von ihrer Entdeckung ahnt Grace nicht, dass diese der Schlüssel zu unbegrenzter Macht darstellt und ihr bereits skrupellose und machthungrige Mörder auf den Fersen sind. Der Einzige, der Grace jetzt noch helfen kann ist Niall – ein Krieger, der das Gelübde abgelegt hat, den Schatz bis in alle Ewigkeiten zu schützen. Das Problem dabei ist nur, dass Niall in den schottischen Highlands des 14. Jahrhunderts lebt. Der jungen Frau bleibt also nichts anderes übrig, als die Grenzen der Zeit mit einem magischen Ritual zu überwinden und ihren Krieger zu finden. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass die beiden nicht nur der geheimnisvolle Schatz verbindet, sondern eine unbändige Leidenschaft, die stark genug sein muss, um allen Gefahren zu trotzen …



Erste Leser:innenstimmen
„Grace und Niall sind ein traumhaftes Paar, deren Liebe über Zeit und Raum hinweg strahlt.“
„Eine leidenschaftliche Reise durch die Zeit!“
„Ein fesselnder historischer Liebesroman mit einer Prise Zeitreise-Magie!“
„Dieser schottische Liebesroman hat alles, was das Herz begehrt: eine starke Heldin, einen mutigen Krieger und eine packende Schatzsuche.“





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27. April 1996





Ein hustendes Rattern verkündete der gesamten Nachbarschaft, dass Christian Sieber von der Schule nach Hause gekommen war. Er fuhr eine Chevelle aus dem Jahre 1966, die mitsamt ihren gurgelnden acht Zylindern liebevoll restauriert worden war. Die Karosserie war ein mehrfarbiges Stückwerk, da die Teile verschiedenen anderen Chevelles entnommen worden waren. Bemängelte jemand das äußere Erscheinungsbild in irgendeiner Weise, brummte Christian nur, er werde sich schon noch darum kümmern. In Wahrheit aber scherte ihn das Äußere seines Autos nicht. Vielmehr begeisterte ihn, dass das Auto lief wie damals, als es nagelneu gewesen war und ein Mann jedes Mädchen mit seiner schnurrenden Kraft hätte einfangen können. In der Männern eigenen instinktiven, urwüchsigen Art, glaubte Christian, dass die Kraft des Autos sein eigenes Image als Außenseiter verbessern konnte, und dass die Mädchen sich dann darum reißen würden, mit ihm in seinem großartigen Auto mitfahren zu dürfen. Bisher war zwar nichts dergleichen geschehen, aber noch hatte Christian die Hoffnung nicht aufgegeben. Als das ratternde Auto an ihrem Haus vorbeifuhr und um die Ecke bog, kostete Grace St. John an ihrem eben gekochten Gulasch. »Christian ist gekommen«, sagte sie und sprang auf. »Nicht möglich«, neckte sie Ford. Er zwinkerte ihr zu, als sie die Aktentasche mit ihrem Laptop und den zahlreichen Seiten ihrer Übersetzung aufhob. Die weiche Ledertasche beulte sich nach außen aus, weil sie mit Disketten und Notizen vollgestopft war. Sie hatte schon vorher ihr Modem abgeschaltet, die Kabel aufgewickelt und es auf die Tasche gelegt. Sie hielt Tasche und Modem vor ihrem Körper und beugte sich zu Ford hinunter. Ihr Kuss war kurz, aber herzlich.



»Ein paar Stunden wird es wohl dauern«, meinte sie. »Wenn er den Fehler gefunden hat, will er mir noch ein paar seiner neuen Programme zeigen.«



»Früher waren es die Briefmarkensammlungen«, murmelte ihr Bruder Bryant. »Jetzt sind es die neuen Programme.« Die drei nahmen die meisten ihrer Mahlzeiten gemeinsam ein, eine Bequemlichkeit, die sie alle gleichermaßen schätzten. Als Bryant und Grace das Haus von ihren Eltern geerbt hatten, hatten sie daraus ein Doppelhaus gemacht. Grace und Ford lebten auf der einen Seite, Bryant auf der anderen. Die drei arbeiteten nicht nur für dieselbe archäologische Stiftung, Bryant und Ford waren obendrein bereits seit ihrer Studienzeit miteinander befreundet. Bryant hatte Ford mit Grace bekannt gemacht und klopfte sich angesichts des Resultats heute noch ständig anerkennend auf die Schulter.



»Du bist ja nur neidisch, dass du mir den Computer nicht reparieren kannst«, erwiderte Grace ungerührt, und Bryant stöhnte. Da sie beide Hände voll hatte, stand Ford auf und öffnete ihr die Küchentür. Er beugte sich nochmals zu ihr hinunter, um sie zu küssen. »Verliere dich nicht in Christians Programmen, und vergiss die Zeit nicht darüber«, mahnte er, und seine blauen Augen blitzten sie auf eine Art und Weise an, die sie nach acht Ehejahren immer noch bis in die Fingerspitzen elektrisierte.



»Werde ich nicht tun«, versprach sie. Als sie fast schon draußen war, hielt sie auf der obersten Stufe inne. »Ich habe meine Handtasche vergessen.«



Ford holte sie aus der Abstellkammer und hing ihr den Riemen über die Schulter. »Wozu brauchst du denn die Handtasche?«



»Da sind die Schecks drin«, erwiderte sie und pustete sich eine Haarsträhne aus ihren Augen. Sie bezahlte Christian für seine Reparaturen, obwohl der es auch umsonst getan hätte, da er leidenschaftlich gerne mit fremden Computern herumspielte. Seine eigenen Computer waren teuer, und er wusste besser mit ihnen umzugehen als die meisten anderen Fachleute, die sie kannte. Er hatte sich das Geld redlich verdient. »Außerdem lade ich ihn wahrscheinlich zu einer Pizza ein.«



»So viel wie der Junge isst, sollte er eigentlich zweihundert Kilo wiegen«, bemerkte Bryant.



»Er ist neunzehn. Natürlich isst er da eine Menge.«



»Ich glaube nicht, dass ich jemals in meinem Leben so viel gegessen habe. Was meinst du, Ford? Als wir auf der Uni waren, haben wir da so viel wie Christian verschlungen?« Ford warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Fragst du wirklich mich, nachdem du dreizehn Pfannkuchen und ein Pfund Würstchen zum Frühstück verdrücken konntest?«



»Ist das wahr?« erkundigte sich Bryant stirnrunzelnd. »Daran kann ich mich aber gar nicht mehr erinnern. Und wie war das mit dir? Ich habe dich vier Big Macs und vier große Tüten Fritten hintereinander herunterschlingen sehen.«



»Ihr habt beide so viel gegessen, als hättet ihr Bandwürmer«, entschied Grace die Auseinandersetzung und ging die Stufen hinunter. Ford schloss hinter ihr die Tür. Sein Lachen klang ihr noch in den Ohren.



Dichtes, widerstandsfähiges Gras federte ihre Schritte ab, als sie durch den rückseitigen Garten lief und über den langen Rasen der Murchinsons eine Abkürzung nahm. Die Nachbarn waren auf einem vierwöchigen Urlaub in South Carolina und würden erst gegen Ende der Woche wieder zurück sein. Es war wirklich schade: Sie waren dem schönen Wetter und dem Frühling hinterhergefahren und hatten ihn so zu Hause verpasst.



Es war ein ungewöhnlich warmer April gewesen, und der Frühling war in Minneapolis ausgebrochen. Der Rasen war grün und üppig, das Laub brach an den Bäumen aus, die Blumen blühten. Obwohl die Sonne bereits untergegangen und nur noch ein letzter Lichtschimmer geblieben war, duftete die warme Abendluft. Grace atmete wohlig ein. Sie liebte den Frühling. Eigentlich mochte sie jede Jahreszeit, denn sie hatten jede ihre Vorzüge.



Christian stand am Hintereingang der Siebers und wartete bereits auf sie. »Hallo«, grüßte er sie fröhlich. Er war immer bester Laune, wenn er mit ihrem Laptop herumspielen durfte. Er hatte kein Licht gemacht. Grace ging durch den dunklen Waschkeller hindurch in die Küche. Audra Sieber, Christians Mutter, schob gerade ein Blech Brötchen in den Ofen. Sie blickte lächelnd auf. »Hallo, Grace. Wir essen heute Abend Lammkoteletts. Isst du mit uns mit?«



»Danke, aber ich habe gerade gegessen.« Grace mochte Audra, die gute fünfzig Jahre alt war, ein wenig übergewichtig, und die die Obsession ihres Sohnes mit Gigabytes und Festplatten voll und ganz unterstützte. Äußerlich ähnelte Christian ganz seinem Vater Errol: groß, dünn, mit dunklem Haar und kurzsichtigen blauen Augen und einem unauffälligen Adamsapfel, der in seinem Hals auf und ab hüpfte. Selbst wenn man es Christian auf die Stirn tätowiert hätte, er hätte einem Computerfreak nicht noch mehr ähneln können.



Grace erinnerte sich an seinen Appetit und meinte: »Chris, das hier kann warten, bis du fertig gegessen hast.«



»Ich mache mir einen Teller und komme damit nach oben«, erwiderte er, nahm ihr die Computertasche ab und wiegte sie liebevoll in seinen Armen. »Das ist dir doch recht, Mama?«



»Aber sicher doch. Geh nur und amüsiere dich.« Audra lächelte die beiden an, und Christian verschwand sofort mit seiner Trophäe aus der Küche die Treppe nach oben in sein elektronisch vollgestopftes Zimmer.



Grace folgte ihm etwas langsamer und dachte, dass es jetzt wirklich an der Zeit wäre, die zwanzig Pfund wieder abzuspecken, die sie seit ihrer Hochzeit mit Ford zugenommen hatte. Das Problem war allerdings, dass sie sich bei ihrer Arbeit nicht bewegen konnte. Als Spezialistin und Übersetzerin alter Sprachen verbrachte sie viel Zeit mit einer Lupe über alte Fotos und Dokumente gebeugt. Selten mal las sie auch Originale, denn meistens waren diese zu empfindlich, als dass man sie hätte berühren dürfen. Den Rest der Zeit arbeitete sie an ihrem Computer, wo sie das Übersetzungsprogramm benutzte, das sie zusammen mit Christian ausgetüftelt hatte. Mit dieser Art von Gehirnarbeit fiel es allerdings schwer, Kalorien zu verbrennen. An diesem Tag hatte sie sich auch wieder in die Universitätsbibliothek einklinken und Informationen herunterladen wollen, aber der Computer war nicht ihren Anweisungen gefolgt. Sie war sich nicht sicher, ob es direkt am Computer oder aber am Modem lag. Sie hatte Christian mittags zu Hause abgefangen und sich nach der Schule mit ihm verabredet.



Die Warterei hatte sie beinahe verrückt gemacht. Sie war von dem Übersetzungsauftrag absolut fasziniert, den sie für ihren Arbeitgeber, die Amaranthine Potere Stiftung, ein riesiges archäologisches Forschungsinstitut, bearbeitete. Sie liebte ihre Arbeit auch sonst, aber dieser Auftrag war etwas Besonderes. Er war sogar so besonders, dass es ihr schwerfiel, ihrer eigenen Übersetzung Glauben zu schenken. Sie fühlte sich auf eine Weise in die Dokumente hineingezogen, wie sie es noch niemals vorher erlebt hatte. Ford hatte sie gefragt, worum es in den Dokumenten ging, und sie hatte ihm nur zögernd ein wenig davon erzählt, sich dabei allerdings auf das Thema beschränkt. Normalerweise erzählte sie Ford immer von ihrer Arbeit, diesmal jedoch war es anders. Ihre Gefühle gegenüber den merkwürdigen alten Dokumenten waren so stark, dass sie es kaum in Worte fassen konnte. Also hatte sie nur sehr beiläufig über die Angelegenheit gesprochen, so als ob sie nicht weiter interessant wäre.



In gewisser, ihr noch unbegreiflicher Hinsicht waren sie jedoch … sehr interessant. Sie hatte bislang kaum ein Zehntel der Arbeit übersetzt. Und doch spannten die sich daraus ergebenden Möglichkeiten sie buchstäblich auf die Folter. Sie konnte es noch nicht richtig begreifen, wie bei einem Puzzle, bei dem man erst den Rand fertig hat. In diesem Fall jedoch hatte sie keine Ahnung, wie das fertige Produkt aussehen würde. Sie wusste lediglich, dass sie nicht eher aufhören würde, bis sie es herausgefunden hatte.



Sie war oben auf dem Treppenabsatz angekommen und betrat Christians Zimmer, ein einziges Kabelgewirr, zwischen dem gerade ausreichend Platz für sein Bett war. Er besaß vier Telefonanschlüsse, einen für den Laptop, zwei für die Computer und einen für das Faxgerät. Einer der großen Computer war angestellt, auf seinem Monitor war ein Schachspiel zu sehen. Christian betrachtete es, seufzte und bewegte mit der Maus einen Läufer. Er dachte einen Augenblick lang über das Resultat nach, ehe er die Maus ein weiteres Mal betätigte, um auf das anstehende Problem zurückzukommen. Dann schob er einen Stapel Papiere zur Seite und legte einen weiteren auf dem Bett ab. »Was ist denn nicht in Ordnung?« fragte er, während er die Tragetasche öffnete und ihren Laptop hervorholte.



»Ich weiß es nicht«, erwiderte Grace, zog sich einen Stuhl heran und beobachtete, wie er geschickt die Verbindungskabel von dem zweiten Computer und dem Modem löste und damit ihren Laptop verkabelte. Er schaltete ihn ein, und der Monitor leuchtete blassblau auf. »Ich habe heute Morgen versucht, in die Universitätsbibliothek zu kommen, aber nichts passierte. Ich weiß nicht, ob es am Computer oder am Modem liegt.«



»Das werden wir gleich herausfinden.« Christian kannte sich in ihrem Bedienungsmenü genauso gut aus wie sie selbst. Er klickte das gewünschte Programm an, klickte zweimal auf das Telefonsymbol, wählte die Nummer der elektronischen Abteilung der Universitätsbibliothek und war keine zehn Sekunden später damit verbunden. »Modem«, diagnostizierte er. Seine Finger flogen über die Tastatur. »Was hattest du suchen wollen?«



Sie beugte sich näher zu ihm hinüber. »Mittelalterliche Geschichte. Genauer gesagt, die Kreuzritter.«



Er fuhr die Angebotsliste nach unten. »Das da«, sagte Grace und klickte mit der Maus. Die Inhaltsangabe füllte den Monitor.



Er rutschte etwas beiseite. »Hier, übernimm du das hier. Ich versuche derweil herauszufinden, was mit dem Modem nicht in Ordnung ist.«



Sie nahm seinen Platz vor dem Computer ein. Er knipste die Schreibtischlampe an, schob automatisch seine Brille die Nase hoch und fing an, das Modem auseinanderzunehmen.



Es gab mehrere Hinweise auf die kriegerischen religiösen Orden von damals, die Hospitalritter und den Orden des Tempels. Letzterer war es, den sie suchte. Sie klickte auf das gewünschte Kapitel, und der Monitor füllte sich mit Informationen.



Sie las aufmerksam, denn sie suchte einen ganz bestimmten Namen, den sie allerdings nicht finden konnte. Der Text fasste den Beitrag des Ordens zu den Kreuzritterzügen zusammen, aber abgesehen von ein paar großen Meistern war niemand weiter namentlich erwähnt.



Sie wurden kurz unterbrochen, als Audra den gefüllten Teller für Christian hereinbrachte. Christian stellte ihn neben das auseinandergebaute Modem und kaute zufrieden, während er arbeitete. Grace ging wieder zu der allgemeinen Auflistung zurück und suchte sich einen anderen Text heraus.



Etwas später merkte sie, dass Christian entweder ihr Modem bereits repariert oder aber die Reparatur aufgegeben hatte, denn er beugte sich über ihre Schulter und las mit. Es fiel ihr schwer, sich aus der mittelalterlichen Welt der Intrigen und der Bedrohung in die moderne Computerwelt zurückzureißen. Sie blinzelte, um sich zu orientieren und war sich dabei der merkwürdig starken Anziehungskraft der längst vergangenen Zeit bewusst. »Hast du es reparieren können?«



»Klar doch«, erwiderte er abwesend, da er immer noch las.



»Es war nur ein loses Kabel. Was war denn dieser Tempelorden?«



»Ein kriegerischer religiöser Orden des Mittelalters. Habt ihr das denn nicht im Geschichtsunterricht durchgenommen?«



Er schob seine Brille die Nase hoch und grinste sie ungerührt an. »Unsere Zeitrechnung beginnt mit dem Jahr 1946.«



»Es gab auch schon Leben vor den Computern.«



»Analoges Leben, willst du wohl sagen. Vorgeschichtlich.«



»Was für ein Tachometer hast du denn in diesem verrückten Ding, das du als Auto bezeichnest?«



Er blickte sie entsetzt an, als ihm bewusst wurde, dass sein geliebtes Gefährt hoffnungslos veraltet war. Es hatte ein analoges Tachometer anstelle einer digitalen Messanzeige. »Ich feile bereits daran«, murmelte er und hob seine schmalen Schultern. »Aber dieser Tempelorden, wenn sie wirklich so religiös waren, warum wurden sie dann wie Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt?«



»Ketzerei«, murmelte sie und wandte sich wieder dem Monitor zu. »Feuer war die Strafe für vielerlei Verbrechen, nicht nur für Hexerei.«



»Damals nahmen die Leute ihre Religion offenbar sehr ernst.« Christians Nase kräuselte sich angesichts einer Darstellung von drei an einen Pfahl gebundenen Männern, unter denen die Flammen bis zu ihren Knien aufloderten. Alle drei waren in weiße Tuniken gekleidet und hatten Kreuze vorne eingebrannt. Ihre Münder erschienen als schwarze Löcher, die gepeinigt aufschrien.



»Auch heute noch werden Menschen ihrer Religion wegen gehenkt«, erklärte Grace. Sie zuckte beim Anblick der Darstellung, als sie sich die grenzenlosen Qualen vorstellte, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden. »Im Mittelalter war die Religion der Mittelpunkt menschlichen Lebens. Jeder, der sich dagegen auflehnte, bedeutete eine Bedrohung. Religion gab einerseits die Regeln des zivilisierten Zusammenlebens vor, bedeutete darüber hinaus aber noch mehr. Damals gab es zu vieles, was noch unbekannt und unverstanden war. Die Menschen wurden durch Kometen erschreckt oder ohne Vorwarnung von Krankheiten befallen. Heute wissen wir, dass das ganz normale Ereignisse sind, aber damals hatten die Menschen keine Möglichkeit, solche Phänomene zu begreifen. Stell dir nur mal vor, wie beängstigend ein Herzinfarkt gewirkt haben musste. Sie wussten ja nicht, was ihnen da zustieß, welche Ursachen es hatte oder wie man es hätte verhindern können. Die Zauberei war ihnen ganz geläufig. Die Religion gab ihnen einen gewissen Schutz vor diesen unbekannten und beängstigenden Kräften. Selbst wenn sie sterben mussten, so stand ihnen doch Gott bei, und die bösen Geister konnten nicht die Oberhand gewinnen.«



Christians Augenbrauen zogen sich angesichts der Vorstellung zusammen, in einer Zeit solcher Ignoranz leben zu müssen. Das war für ihn als ein Kind der Computergeneration kaum vorstellbar. »Fernsehen hätte sie vermutlich vollkommen durcheinandergebracht, was?«



»Besonders dann, wenn sie sich eine Talk-Show angesehen hätten«, feixte Grace. »Denn dort gibt es tatsächlich böse Geister.«



Christian kicherte, wobei ihm seine Brille die Nase hinunterrutschte. Er schob sie wieder hoch und blinzelte den Monitor an. »Hast du denn gefunden, was du gesucht hast?«



»Nein, ich suche die Erwähnung eines ganz bestimmten Mannes aus dem Tempelorden. Jedenfalls glaube ich, dass er dem Orden angehörte.«



»Gibt es denn nicht irgendwelche anderen Anhaltspunkte, unter denen du ihn finden könntest?«



Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen hieß.« Niall von Schottland. Mehrmals war sie bereits auf seinen Namen gestoßen, als sie die in altem Französisch abgefassten Dokumente bearbeitet hatte. Warum wurde sein Nachname nicht erwähnt, wo doch damals Familie und Tradition eine so wichtige Rolle gespielt hatten? Soweit sie aus den Dokumenten bisher hatte in Erfahrung bringen können, war er innerhalb des Ordens der Tempelbrüder ausgesprochen einflussreich gewesen. Er selbst war Ritter, kam also aus adliger Familie und war kein Leibeigener. Ein Teil der Dokumente war auf Gälisch geschrieben, was auf eine nicht bekannte Verbindung mit Schottland schließen ließ. Sie hatte den schottischen Teil der Geschichte in ihrer Enzyklopädie nachgelesen. Dort allerdings fand der geheimnisvolle Niall nirgendwo Erwähnung, schon gar nicht zu Zeiten des Tempelordens. »Ist wohl eine Sackgasse«, meinte Christian gutgelaunt. Offenbar war er der Ansicht, dass sie nun bereits genügend Zeit für einen Mann vergeudet hatten, der schon lange vor dem analogen Zeitalter gestorben war. Christians blaue Augen leuchteten, als er seinen Stuhl etwas näher heranrückte. »Willst du mal in dieses coole Buchhaltungsprogramm hereinschauen, das ich ausgetüftelt habe?«



»Ich glaube nicht, dass das Wort ›cool‹ und Buchhaltung gut zusammenpassen«, bemerkte Grace, ohne mit der Wimper zu zucken.



Christian sah sie empört an. Er blinzelte mehrmals und sah dabei aus wie ein kurzsichtiger Kranich. »Du machst wohl Witze, was?«, brachte er schließlich hervor. »Es ist das allererste Programm seiner Art! Warte, bis du es gesehen hast. Du machst dich nur lustig, ich weiß es.«



Grace’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie drückte auf die Tasten und kappte die Verbindung zur Universitätsbibliothek. »Ach ja? Woher willst du das denn wissen?«



»Du presst immer die Lippen zusammen, damit du nicht lachen musst.« Er sah auf ihre Lippen, dann wandte er schnell den Blick ab und errötete ein wenig.



Grace spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und heftete ihren Blick auf den Monitor. Christian war ein klein wenig verliebt in sie, hauptsächlich wegen seiner Begeisterung für ihren teuren, sehr leistungsstarken Laptop. Aber ein paarmal hatte er auch etwas gesagt oder getan, was bezeugte, dass er auch körperlich von ihr Notiz genommen hatte.



Das hatte sie ein bisschen beunruhigt. Sie war immerhin dreißig Jahre alt und weiß Gott keine Femme fatale. Sie schätzte sich selbst als vollkommen durchschnittlich ein und besaß nichts, was die Lust eines Neunzehnjährigen ansprechen könnte. Andererseits konnte jedes beliebige weibliche Wesen bei Männern dieses Alters romantische Gefühle auslösen. Wo Christian der typische Computerfreak war, sah sie sich selbst als typisch akademischen Menschen: glattes dunkelbraunes Haar, bei dem sie Lockenfrisuren bereits seit langem aufgegeben hatte. Jetzt trug sie es zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Hellblaue, fast schon graue Augen, die gewöhnlich von einer Brille umrandet wurden, kein Make-up, weil sie damit nicht umgehen konnte, praktische Kleidung, meist Cordhosen oder Jeansröcke. Sie war wohl kaum das Material, aus dem erotische Träume entstehen.



Ford allerdings hatte seit jeher behauptet, sie hätte den schönsten Kussmund aller Zeiten. Es beunruhigte sie, dass Christian gerade ihre Lippen so aufmerksam betrachtet hatte. Um ihn abzulenken, sagte sie: »Also gut, schauen wir uns dein irres Programm doch einmal an.« Sie konnte nur hoffen, dass schon bald ein schickes Mädchen dem Zauber der Chevelle erlag und sowohl die PS-Stärke als auch Christians Computerprogramme schätzen würde.



Für den Themenwechsel dankbar, öffnete Christian eine Plastikhülle, entnahm eine Diskette und legte sie ein. Grace rückte etwas beiseite, so dass er die Tastatur besser bedienen konnte. Er instruierte den Computer, das Diskettenlaufwerk zu lesen, dann hörte man ein elektronisches Surren, bevor das Menü auf dem Bildschirm erschien.



»Wie heißt denn deine Hausbank?« fragte Christian.



Grace sagte es ihm und runzelte die Stirn, als er die Liste absuchte. Christian lenkte den Pfeil auf das gesuchte Wort, klickte, und wieder veränderte sich der Bildschirm. »Volltreffer!« gurrte er, als ein neues Menü erschien, diesmal das aller Bankdienstleistungen. »Ich bin doch super, findest du nicht?«



»Du bist illegal, und sonst gar nichts!« Grace beobachtete, wie er ein weiteres Wort eintippte. Sofort wurden alle ihre Transaktionen auf dem Girokonto angezeigt. »Du hast dich in das Computernetz einer Bank eingeschlichen! Geh da lieber wieder raus, ehe du richtigen Ärger bekommst. Ich meine das ernst, Chris! Das ist ein schweres Verbrechen. Du hast mir erzählt, du hättest ein Buchhaltungsprogramm und nicht einen Hintereingang zu allen Banken in der Umgebung.«



»Willst du denn gar nicht wissen, wie ich es geschafft habe?« fragte er, offensichtlich enttäuscht darüber, dass sie seine Begeisterung nicht teilte. »Ich stehle ja nichts. Hiermit kann man nur sehen, wie lange es dauert, ehe ein Scheck gebucht wird. Daraus kann man dann ein Muster ableiten. Manche Banken buchen nur ein einziges Mal in der Woche. Du hast deine Geldtransaktionen besser in der Hand, wenn du das weißt. Auf diese Weise kannst du deine Zinserträge erhöhen, du kannst deine Zahlungen zeitlich genau zu deinen eigenen Gunsten platzieren, so dass dein Guthaben nie unter das dafür notwendige Minimum fällt.«



Grace starrte ihn völlig verwundert über die Art und Weise seines Denkens an. Geldangelegenheiten waren für sie eine ganz einfache Sache: eine bestimmte Summe kommt aufs Konto, und dann muss man zusehen, dass die Ausgaben diese Summe nicht überschreiten. Ganz einfach also. Seit langem bereits teilte sie die Menschen in zwei Arten ein: mathematische Menschen und nichtmathematische Menschen. Sie war eine intelligente Frau, sie hatte einen Doktortitel. Aber mathematische Details, ob sie nun finanzieller Art waren oder ob es sich um Probleme der Quantenphysik handelte, hatten sie noch nie begeistern können. In Wörter dagegen konnte sie sich vollkommen versenken. Dort konnte sie fast besinnungslos die feinen Unterschiede in deren Bedeutung erkennen und ihren Zauber auf sich wirken lassen. Ford interessierte sich sogar noch weniger für Mathematik als sie, weshalb sie sich um die finanziellen Dinge kümmerte. Bryant gab sich Mühe, er las den Wirtschaftsteil der Zeitungen und abonnierte Anlageberatungszeitschriften – falls er jemals Geld haben sollte, das er anlegen könnte –, aber eigentlich hatte er auch keine Ahnung davon. Nachdem er eine Viertelstunde eine Investmentzeitschrift durchgeblättert hatte, schmiss er sie beiseite und griff nach irgendeiner beliebigen Veröffentlichung über Archäologie.



Christian aber war ein mathematischer Mensch. Grace hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er mit dreißig bereits Millionär sein würde. Er würde ein brillantes Computerprogramm aushecken, die Profite daraus klug anlegen und sich dann zurückziehen, um seine Zeit mit noch viel innovativeren Programmen zu verbringen.



»Ich bin mir ganz sicher, dass es für Anleger eine wirklich fantastische Sache ist, aber es ist illegal. Du kannst es also nicht vermarkten.«



»Es ist doch nicht für die Öffentlichkeit, ich spiele nur gerne damit herum. Man würde annehmen, dass die Banken bessere Sicherheitsvorkehrungen getroffen hätten. Mir ist aber nicht eine einzige untergekommen, bei der ich ernstliche Probleme gehabt hätte.«



»Mein liebes Kind, entweder du wirst berühmt werden oder aber im Gefängnis landen.«



Er zog den Kopf ein wenig ein und grinste. »Ich habe noch etwas, was ich dir zeigen möchte«, sagte er aufgeregt, während seine Finger über die Tastatur huschten, um das Bankprogramm wieder zu verlassen.



Grace beobachtete, wie sich die Monitoroberfläche ständig veränderte, während er von dem einen in das nächste Programm schaltete. »Werden sie denn nicht merken, dass du in ihren Unterlagen warst?«



»Nicht mit diesem Programm hier. Ich gehe nämlich mit einem vollkommen legalen Codewort in ihr Programm. Ich ziehe mir sozusagen einen elektronischen Schafspelz über. So wissen sie nicht, dass sich ein Wolf in ihrer Gegend umgesehen hat.«



»Wie bist du denn an das Codewort gekommen?«



»Ich habe herumgeschnüffelt. Ganz gleich, wie kodiert die Information auch ist, es gibt doch immer eine Hintertür. Deine Bank hat für ihre Sicherheit nicht gerade den besten Computer«, stellte er mit offensichtlichem Missfallen fest. »Ich an deiner Stelle würde die Bank wechseln.«



»Ich werde es mir mal durch den Kopf gehen lassen«, versicherte sie ihm mit diesem etwas unglücklichen Lächeln, das ihn immer zum Lachen brachte.



»Das ist ja nur ein Teil des Programms. Hier ist das Buchhaltungsprogramm.« Er holte eine neue Oberfläche hervor und bedeutete Grace, näher heran zu rutschen. Gehorsam rückte sie ihren Stuhl etwas näher, während er ihr die vielen Aspekte seiner digitalen Erfindungen erläuterte. Grace hörte aufmerksam zu, denn sie erkannte, dass es tatsächlich ein gutes und vor allen Dingen unglaublich einfach zu bedienendes System war. Er hatte es so programmiert, dass man einen Neuzugang mit den bereits auf diesem Konto getätigten Eingängen vergleichen konnte. Wenn also jemand versehentlich 115 Dollar statt 15 Dollar eintippte, dann machte das Programm den Benutzer darauf aufmerksam, dass sich die Summe nicht mit der anderen deckte und forderte ihn auf, nachzusehen, ob ihm ein Eingabefehler unterlaufen war.



»Das gefällt mir«, sagte sie nachdenklich. Sie hatte ihre Rechnungen und ihre Buchhaltung immer auf ganz altmodische Art und Weise getätigt, nämlich mit Papier und Stift. Da sie sich aber mit Computern sehr sicher fühlte, gab es eigentlich keinen Grund, weswegen sie nicht ihre Haushaltsfinanzen elektronisch abwickeln sollte.



Christians Gesicht leuchtete auf. »Das hatte ich mir schon gedacht.« Seine langen Finger berührten die Tastatur und luden das Programm auf ihren Computer. »Es heißt Gehe zu zahlen.«



Bei dem lächerlichen Namen stöhnte sie auf, musste aber dann doch lachen. »Tu mir einen Gefallen. Wenn sie dich schnappen, weil du dich in die Bankcomputer einschleichst, dann verrate ihnen bitte nicht, dass ich auch eine Kopie besitze, okay?«



»Ich habe dir doch gesagt, es ist vollkommen sicher, solange die Banken ihre Codewörter nicht ändern. Dann wirst du einfach nicht mehr einsteigen können. Ich könnte aber immer noch reinkommen«, brüstete er sich. »Aber den meisten würde es dann nicht mehr gelingen. Ich gebe dir auch eine Liste der Codewörter mit.«



»Die will ich gar nicht haben«, wehrte sie eilig ab, aber Christian beachtete sie gar nicht. Er durchwühlte einen Haufen Papiere und zog drei eng bedruckte Seiten hervor, die er in ihre Computertasche steckte.



»Hier. Dann hast du sie wenigstens, falls du sie mal brauchen solltest.« Er hielt kurz inne und starrte auf den Monitor, auf dem immer noch das Schachspiel zu sehen war. Sein Gegner hatte einen Zug gemacht. Christian legte den Kopf zur Seite und blickte das Schachbrett an, dann frohlockte er. »Ach so! Den Zug kenne ich, aber er wird dir nichts bringen!« Zufrieden bewegte er einen Bauern und klickte die Maus.



»Gegen wen spielst du denn?«



»Keine Ahnung«, erwiderte er abwesend. »Er nennt sich der Fischermann.«



Grace starrte blinzelnd auf den Bildschirm. Nein, das konnte nicht wahr sein. Christian spielte gegen jemanden, der sich den Namen vermutlich mit einem Hintergedanken ausgesucht hatte. Der richtige Bobby Fischer würde nicht auf der Suche nach einem Schachpartner durch das Internet surfen. Er konnte überall gegen jeden seiner Wahl spielen und dafür auch noch hohe Geldsummen erhalten.



»Wer gewinnt denn normalerweise?«



»Wir sind ziemlich ausgeglichen. Er ist gut«, gab Christian zu und schloss derweil den zweiten Computer wieder an.



Grace öffnete ihre Handtasche und zog ihr Scheckheft hervor. »Möchtest du denn eine Pizza essen?« fragte sie. Er legte den Kopf zur Seite, als er sich von der Cyberwelt zurückzog und den Zustand seines Magens begutachtete. »Klar doch, immer«, erklärte er. »Ich bin kurz vorm Hungertod.«



»Dann bestell dir eine, ich lade dich ein.«



»Wirst du denn noch bleiben und sie mit mir teilen?«



Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe zu Hause noch so viel zu erledigen.« Sie konnte gerade noch ein Erröten verhindern. Ford hätte lauthals aufgelacht, wenn er sie hätte hören können.



Sie stellte einen Scheck über fünfzig Dollar aus, dann zog sie einen Zwanzigdollarschein hervor, um für die Pizza zu zahlen. »Danke, mein Lieber. Du hast mir das Leben gerettet.«



Christian nahm den Scheck und das Trinkgeld entgegen und betrachtete beides zufrieden. »Das wird eine steile Karriere werden, nicht wahr?« fragte er stolz.



Grace musste lachen. »Wenn du nicht ins Gefängnis kommst, schon.« Sie stellte den Laptop wieder in die Tasche zurück und legte das reparierte Modem auf ihre offene Handtasche. Christian nahm ihr galant die Computertasche ab und trug sie ihr die Treppe hinunter. Beide Eltern waren nicht zu sehen, aber das Geräusch von Pistolenschüssen aus dem Wohnzimmer verriet ihren Aufenthaltsort. Beide Siebers liebten vorbehaltlos alle Actionfilme mit Arnold Schwarzenegger. Christians Zuvorkommenheit hielt nur bis zur Küche vor, wo er sich an die noch nicht telefonisch bestellte Pizza erinnerte. Grace nahm ihm die Computertasche ab, und Christian blieb vor dem Wandtelefon stehen. »Danke, Chris«, sagte sie und verließ das Haus ebenso, wie sie gekommen war, erst durch den dunklen Waschraum und dann durch die Hintertür.



Sie hielt einen Augenblick inne, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Während sie bei Christian gewesen war, hatte es sich stark bewölkt. Die Sterne waren fast verdeckt, obwohl man hier und da ein Stück klaren Himmels erkennen konnte. Heimchen zirpten, und eine kühle, nach Regen duftende Brise wehte.



Das Licht aus ihrem Küchenfenster keine fünfzig Meter vor ihr wirkte auf sie wie ein Lockmittel. Ford war da und wartete auf sie. Bei dem Gedanken an ihn wurde ihr warm. Vorsichtig ging sie auf ihr Zuhause zu, um in der Dunkelheit nicht über eine Unebenheit zu stolpern. Die weiche Grasnarbe federte ihre Bewegungen lautlos ab. Sie durchquerte bereits Murchinsons Garten, als sie jemanden in ihrer Küche bemerkte, der für kurze Zeit am Fenster aufgetaucht war. Grace blieb stehen und legte die Stirn in Falten, denn bei dem Mann handelte es sich weder um Ford noch um Bryant.



Himmel, sie hatten Besuch. Ihre Stirnrunzeln vertieften sich. Vermutlich war es jemand, der sich für Archäologie interessierte und etwas mit der Stiftung zu tun hatte. Gelegentlich besuchten sie Jugendliche aus der Oberstufe, die sich für Archäologie interessierten. Manche von ihnen wollten Grace sprechen, wenn sie ein Problem mit einem griechischen oder lateinischen Begriff hatten. Wie auch immer, sie wollte jetzt mit niemandem reden, denn sie wollte mit ihrem Mann ins Bett gehen.



Sie zögerte, das Haus zu betreten, obwohl es irgendwann ohnehin nicht länger zu umgehen war. Sie konnte unmöglich draußen in der Dunkelheit warten, bis wer auch immer wieder ging. Unter Umständen konnte das nämlich Stunden dauern. Sie ging etwas nach rechts, um zu sehen, ob sie das Auto des Besuchers kannte und hoffte, dass es einem von Bryants Freunden gehörte. Wenn das der Fall war, könnte sie ihrem Bruder ein Zeichen geben, dass er seinen Besuch mit in seine Hälfte des Hauses hinübernahm.



Ihr Buick stand auf dem Parkplatz, daneben parkte Bryants schwarzer Cherokee Jeep. Fords zerkratzter und zerdellter Chevrolet Vierradantrieb, den sie für ihre Feldarbeit benutzten, stand ein wenig abseits. Ansonsten blockierte kein Auto die Auffahrt.



Das war merkwürdig. Sie wusste, dass sie Besuch hatten, denn der Mann, den sie kurz gesichtet hatte, hatte sandblonde Haare gehabt. Ford und Bryant aber waren beide dunkelhaarig. Wenn es kein Nachbar war, dann hatte sie keine Ahnung, wer es sein könnte. Sie kannte fast alle Nachbarn, und keiner sah so aus wie der Mann, den sie eben kurz gesehen hatte.



Wenn sie aber nicht ins Haus ging, würde sie nie herausfinden, um wen es sich handelte. Sie machte einen Schritt auf das Haus zu, hielt jedoch plötzlich inne und blinzelte in die Dunkelheit. Etwas zwischen ihr und dem Haus hatte sich bewegt, etwas Dunkles und Bedrohliches. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Eisiger Alarm schoss durch ihre Venen und ließ sie erstarren. Unglaubliche Möglichkeiten fuhren ihr durch den Kopf: ein Gorilla war aus dem Zoo ausgebrochen, oder ein wirklich sehr, sehr großer Hund strolchte durch ihren Garten.



Dann bewegte es sich wieder, diesmal schlich es sich langsam auf ihre Tür zu. Es war ein Mann. Sie kniff erstaunt die Augen zusammen und fragte sich, warum jemand in ihrem Garten herumschlich und statt der Eingangstür die Hintertür benutzte. Ein Raubüberfall? Warum sollte ein Einbrecher, der noch halbwegs bei Verstand war, in ein hellerleuchtetes Haus einbrechen, in dem die Bewohner ganz offensichtlich zu Hause waren? Dann wurde die Hintertür geöffnet. Sie mutmaßte, dass der Mann geklopft haben musste, wenn auch nur sehr leise, denn sie hatte nichts gehört. Ein anderer Mann stand im Türrahmen, ein Mann, den sie kannte. In seiner Hand hielt er eine Pistole mit einem merkwürdig verdickten Lauf.



»Nichts«, sagte der erste Mann mit leiser Stimme, die aber in der Stille der Nacht gut zu hören war. »Verflucht noch mal«, murmelte der andere Mann und ließ ersteren eintreten. »Jetzt kann ich nicht mehr zurück. Wir müssen die Sache einfach durchziehen.«



Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Grace starrte über den dunklen Garten auf die breite Hintertür. Warum war Parrish Sawyer in ihrem Haus, und warum trug er eine Pistole? Parrish Sawyer war ihr Chef. Wenn er sein Kommen angekündigt hätte, dann hätte Ford sie angerufen und nach Hause gerufen. Sie standen sich gut mit Parrish, obwohl sie privat nicht mit ihm verkehrten. Parrish bewegte sich eher in der Stratosphäre der Reichen und gutsituierten Menschen. Diese Qualifikation konnte Grace’ Familie nicht bieten.



»Einfach durchziehen«, hatte der Mann gesagt. Was denn durchziehen? Und warum konnten sie jetzt nicht mehr zurück? Verwirrt und unsicher trat Grace aus dem Schatten des Nachbargartens und durchquerte ihren eigenen Garten. Sie wusste nicht, was hier gespielt wurde, aber sie würde es herausfinden.



Beim Kochen vorhin hatte sie das Fenster geöffnet, um die frische Frühlingsluft hereinzulassen. Das Fenster stand auch jetzt noch halb offen. Deutlich hörte sie Ford sagen: »Verflucht, Parrish, was soll denn das?« Fords Stimme war rau und wütend und hatte einen Unterton, den sie an ihm nicht kannte. Grace erstarrte wieder, als sie gerade einen Fuß auf die Treppe setzte.



»Wo ist sie?« fragte Parrish, Fords Frage ignorierend. Seine Stimme war gleichgültig und kalt. Grace bekam eine Gänsehaut.



»Ich hab dir doch schon gesagt, in der Bibliothek.«



Eine Lüge. Ford log ganz bewusst. Grace stand regungslos, starrte das Fenster an und versuchte, sich vorzustellen, was hinter der Mauer gerade vor sich ging. Sie konnte niemanden sehen, aber sie wusste, dass mindestens vier Menschen in der Küche waren. Wo waren Bryant und der Mann, den sie in die Küche hatte gehen sehen?



»Erzähl mir keinen Unsinn. Ihr Wagen steht vor der Tür.«



»Sie ist mit einer Freundin gefahren.«



»Wie heißt die Freundin?«



»Serena-Sabrina, oder so ähnlich. Ich habe sie heute Abend zum ersten Mal gesehen.«



Ford war immer schon ein schneller Denker gewesen. Die Namen waren außergewöhnlich genug, um seiner Lüge die Glaubwürdigkeit zu verleihen, wie es mit einem gewöhnliche Namen wie Sally nicht gelungen wäre. Sie wusste nicht, warum Ford log. Aber allein schon die Tatsache, dass er es tat, war ihr Hinweis genug. Parrish hatte eine Pistole, und Ford wollte nicht, dass er erfuhr, wo Grace war. Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht.



»Also gut.« Es hörte sich so an, als ob Parrish durch seine geschlossenen Zähne hindurch ausatmete. »Wann wird sie zurück sein?«



»Sie sagte, sie wisse es nicht und dass sie viel zu tun hätten. Ich nehme an, wenn die Bibliothek schließt.«



»Und sie hat alle ihre Dokumente mitgenommen?«



»Sie waren in ihrer Computertasche.«



»Weiß denn diese Serena-Sabrina von den Dokumenten?«



»Keine Ahnung.«



»Tut auch nichts zur Sache.« Parrish klang jetzt geradezu gelangweilt. »Ich kann kein Risiko eingehen. Steht auf, alle beide.«



Sie hörte die Stühle auf dem Fußboden scharren und trat einen Schritt zur Seite, um so durch das Fenster zu blicken, wobei sie auf einen ausreichenden Abstand achtete. Sollte jemand aus dem Fenster sehen, so würde sie nicht in dessen Lichtkegel stehen.



Sie sah Bryant mit nacktem Oberkörper und noch feuchten Haaren. Er musste eben erst aus der Dusche gekommen sein, was wiederum bedeutete, dass Parrish und der andere Mann gerade erst gekommen waren. Das Gesicht ihres Bruders war angestrengt und blass, seine Augen merkwürdig ausdruckslos. Grace trat einen Schritt vor und zählte noch vier weitere Leute.



Zunächst war da Ford, ebenso blass wie Bryant. Seine Augen aber funkelten vor Wut, so wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Parrish stand, groß und edel, mit seinen teuer gestylten blonden Haaren mit dem Rücken zum Fenster. Der Mann, den sie vorhin schon gesehen hatte, stand neben ihm, ein weiterer lehnte bewaffnet im Türrahmen. Seine Pistole hatte ebenso wie die von Parrish eine Schalldämpfung. Der dritte Mann würde sicherlich genau wie die beiden anderen auch bewaffnet sein. Sie konnte sich keinen Reim auf die Situation machen. Aber eines war ihr vollkommen klar: Sie musste die Polizei holen. Sie konnte von den Siebers aus anrufen. Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück.



»Geht jetzt ins Schlafzimmer, alle beide«, hörte sie Parrish sagen. »Und macht keine Dummheiten, beispielsweise uns überrumpeln zu wollen. Ich habe keine Ahnung, wie weh es tut, erschossen zu werden. Aber ich werde es demonstrieren müssen, falls ihr nicht tut, was wir verlangen.«



Warum wollte er sie im Schlafzimmer haben? Sie hatte genügend mitbekommen, um zu wissen, dass sie eigentlich hinter ihr her waren. Er schien sich wegen der Dokumente, die sie dabeihatte, Sorgen zu machen. Wenn Parrish jedoch die Dokumente haben wollte, dann brauchte er es ihr lediglich zu sagen. Schließlich war er ihr Chef, und sie bearbeitete die Aufgaben, die sie von ihm aufgetragen bekam. Es würde ihr das Herz brechen, die geheimnisvollen Dokumente wieder abzugeben, aber sie hätte ihn nicht daran hindern können. Warum also hatte er sie nicht einfach angerufen und sie aufgefordert, sie am nächsten Morgen abzugeben? Warum war er mit einer Pistole bewaffnet zu ihr gekommen und hatte auch noch zwei bewaffnete Kerle mit dabei? Darauf konnte sie sich einfach keinen Reim machen.



Sie wollte schnell zu den Siebers rennen, ging aber so um das Haus, dass sie in das Schlafzimmer blicken konnte. Sie wartete darauf, dass das Licht anging und sie die Stimmen aus dem Schlafzimmer hören konnte. Dann erst merkte sie, dass Parrish die beiden zu Bryants Schlafzimmer führte, das auf der anderen Hausseite lag. Sie hatten das Haus so geteilt, dass Bryants Schlafzimmer zusammen mit der Küche im hinteren Teil des Hauses lag. Parrish musste sie also erst den vorderen Flur entlangführen, um zu der Verbindungstür zu Bryants Teil zu gelangen. Erst dann konnten sie das Schlafzimmer erreichen.



So schnell sie konnte, lief Grace zurück, achtete allerdings darauf, vollkommen im Schatten zu bleiben. Der Wasserschlauch lag wie eine dünne Schlange zusammengerollt unter dem hervorstehenden Wasserhahn. Sie wich ihm aus, ebenso einem großen Siebgitter, das einer der Männer gegen die Hauswand gelehnt hatte. Dies war ihr Zuhause. Sie kannte alle seine Eigenheiten, die kleinen Fallen für den Unaufmerksamen. Sie wusste, welche der Dielen knarrten, sie kannte die Risse in der Decke und die Wurzelknollen im Garten.



Aus Bryants Schlafzimmer schien bereits Licht. Mit an die Wand gepresstem Rücken ging sie seitlich weiter, bis sie direkt neben seinem Fenster stand. Langsam drehte sie ihren Kopf gerade so weit, dass sie in das Zimmer hineinsehen konnte.



Einer der Männer trat auf das Fenster zu. Grace riss ihren Kopf zurück und blieb regungslos stehen. Sie wagte noch nicht einmal Luft zu holen. Er zog die Gardinen vor das Fenster, so dass jetzt weniger Licht nach draußen drang. Das Blut pulsierte in ihren Ohren, und panische Angst schwächte sie. Sie konnte nicht atmen, ihr Herz fühlte sich an, als ob es tatsächlich in ihrem Hals schlagen und sie ersticken würde. Wenn der Mann sie gesehen hätte, wäre sie gefangen gewesen, denn sie hätte sich unmöglich bewegen können.



»Setz dich auf das Bett«, hörte sie Parrish durch ihren heftigen Herzschlag hindurch.



Endlich begannen Grace’ Lungen wieder zu arbeiten. Sie atmete tief ein, um ihre Nerven zu beruhigen, dann wechselte sie erneut ihre Haltung.



Die Gardine war nicht ganz zugezogen. Sie platzierte sich so, dass sie durch den Schlitz hindurch Ford und Bryant sehen konnte … Parrish hob ganz ruhig seine Pistole und schoss Ford in den Kopf, dann wechselte er blitzschnell die Richtung und erschoss Bryant. Ihr Bruder war bereits tot, noch bevor der Körper ihres Mannes auf die Seite gefallen war.



Nein, nein! Vollkommen gelähmt lehnte sie an der Wand. Ihr Körper hatte sich irgendwie aufgelöst, war ihr abhandengekommen. Sie konnte nichts fühlen, nichts denken. Ein dunkler Nebel behinderte ihre Sicht. Der unglaubliche Anblick entfernte sich, als ob sie es vom Ende eines Tunnels aus beobachtet hätte. Sie hörte sie mit merkwürdig verzerrten Stimmen miteinander reden.



»Hättest du nicht noch warten sollen? So wird es eine Diskrepanz beim Zeitpunkt ihrer Tode geben.«



»Das ist unwichtig.« Sie erkannte Parrishs Stimme. »In einer Mord-Selbstmord-Situation wartet der Mörder manchmal, bevor er sich selbst umbringt – oder sie sich selbst umbringt, wie in unserem Fall. Der Schock, verstehst du. Was für ein Jammer, ihren Ehemann und ihren Bruder direkt vor ihrer Nase in eine homosexuelle Affäre verwickelt zu wissen. Kein Wunder, dass die Kleine durchgedreht ist.«



»Und wie ist das mit der Freundin?«



»Ach ja, Serena-Sabrina. Pech für sie. Sie wird auf dem Nachhauseweg einen Unfall erleiden. Ich warte hier auf Grace. Und ihr beide setzt euch ins Auto und folgt Serena-Sabrina.«



Langsam hob sich der Nebel vor Grace’ Augen. Sie wünschte, er wäre geblieben. Sie wünschte, gleich hier an Ort und Stelle zu sterben, wünschte, ihr Herz würde einfach für immer stehenbleiben. Durch den Spalt in der Gardine hindurch konnte sie ihren auf dem Rücken ausgestreckten Mann sehen. Er hatte die Augen geöffnet, ohne etwas zu sehen. Seine dunklen Haare waren voller … voller … Ein Geräusch stieg in ihr auf, ein fast lautloses Ächzen in ihrem Hals. Es war wie das entfernte Heulen des Windes, dunkel und seelenlos. Der Schmerz bahnte sich einen Weg aus ihrem Körper. Sie wollte den Laut zurückhalten, aber er kam dennoch auf primitive, ursprüngliche Weise hervor. Parrish riss den Kopf herum. Für den Bruchteil einer Sekunde nicht länger – glaubte sie, dass sich ihre Blicke getroffen hatten, dass er durch den schmalen Gardinenspalt in die Nacht hatte blicken können. Er sagte etwas in scharfem Tonfall und raste auf das Fenster zu.



Grace entschwand in die Nacht.



2



Sie benötigte dringend Geld.



Durch den strömenden Regen hindurch fixierte Grace den Geldautomaten, der in der Dunkelheit anziehend wie ein Tempel leuchtete und sie aufzufordern schien, die Straße zu überqueren und den elektronischen Ritus zu vollziehen. Der Geldautomat war kaum dreihundert Meter entfernt. Bis dorthin hätte sie höchstens ein paar Minuten gebraucht, hätte die Ziffern eingeben und das Geld in ihrer Hand haben können. Sie musste ihr Konto leeren. Wahrscheinlich hielt ein Automat allein nicht genügend Bargeld bereit, so dass sie einen zweiten, wenn nicht noch einen dritten aufsuchen müsste. Mit jedem Mal würde sich die Gefahr, entdeckt zu werden, noch weiter vergrößern – ebenso wie die Gefahr, Opfer eines Überfalls zu werden.



Die automatischen Kameras würden ihr Bild aufnehmen, und die Polizei würde ganz genau wissen, wann sie wo gewesen war. Plötzlich trat ihr Fords Bild wieder vor das innere Auge. Rasender Schmerz schüttelte sie. O mein Gott. Wieder bahnte sich der unmenschliche, nicht zu unterdrückende Schrei ihre Kehle hinauf und schlug gegen ihre zusammengepressten Zähne. Eine vorbeistreunende Katze erstarrte bei diesem Wehlaut mit gesträubtem Fell und erhobener Pfote. Dann wandte sich das Tier ab und entfernte sich eilig von dem zusammengekrümmten Wesen, das einen solch schrecklichen Laut von sich gegeben hatte. Grace wiegte sich wie ein Kind, verschloss den Schmerz tief in ihrem Inneren und zwang sich zu logischem Denken. Ford hatte ihr Leben mit seinem bezahlt. Es wäre ein unvorstellbarer Verrat gewesen, wenn sie sein Opfer durch eine falsche Entscheidung zunichtemachen würde.



Eine Vielzahl nächtlicher Geldabhebungen, alle nach dem geschätzten Zeitpunkt des Verbrechens, würden den Anschein ihrer Schuld unweigerlich untermauern. Christian würde sich daran erinnern, wann genau sie das Haus der Siebers verlassen hatte. Ungefähr zu dieser Zeit waren Ford und Bryant ermordet worden. Beide lagen halb entkleidet in Bryants Schlafzimmer. Parrish hatte die Situation mit der ihm eigenen Gründlichkeit inszeniert. Jeder Polizist würde glauben, sie hätte ihren Mann und ihren Bruder bei einem homosexuellen Schäferstündchen ertappt und beide umgebracht. Ihr Verschwinden war nur noch ein weiteres Glied in der sie belastenden Beweiskette. Die Männer, die Parrish bei sich hatte, waren Profis in ihrem Metier. Sie waren wohl kaum so nachlässig, Fingerabdrücke zu hinterlassen. Kein Nachbar würde sich an vor dem Haus geparkte fremde Autos erinnern, denn sie hatten ihre Wagen andernorts abgestellt und waren zu Fuß gekommen. Es gab weder Zeugen noch Beweise, die auf irgendjemand anderen als auf sie hinwiesen.



Selbst wenn es ihr wie durch ein Wunder gelänge, die Polizei von ihrer Unschuld zu überzeugen, hatte sie noch keinen Beweis dafür, dass Parrish der Täter war. Sie hatte alles gesehen und konnte nichts beweisen. In der Logik der Polizisten hatte er nicht einmal ein Motiv gehabt, während gegen sie viele Verdachtsmomente sprachen. Welche Beweise hätte sie schon vorbringen können? Einen Haufen Papiere in verschiedenen Altsprachen, die sie noch nicht einmal entziffert hatte und die Parrish jederzeit von ihr einfach dadurch hätte erhalten können, dass er sie darum gebeten hätte?



Es gab kein Motiv, jedenfalls keines, das sie hätte beweisen können. Wenn sie jedoch jetzt aufgab, dann würde Parrish die Dokumente bekommen und sie selbst ermordet werden. Dafür zumindest würde er sorgen. Er würde es so aussehen lassen, als habe sie sich erhängt. Oder aber eine Überdosis Rauschgift würde ihrem Leben ein Ende setzen, wobei die Frage, wie sie im Gefängnis an das Gift gekommen war, einen Skandal auslösen würde. Wie auch immer, für sie jedenfalls wäre das Ergebnis immer das gleiche. Sie musste am Leben bleiben, sie durfte der Polizei nicht in die Hände fallen. Das war ihre einzige Chance, wenn sie den Grund herausfinden wollte, warum Parrish die beiden Männer umgebracht hatte – und wenn sie sich an ihm rächen wollte. Um jedoch in der Freiheit überleben zu können, benötigte sie dringend Geld. Dazu wiederum musste sie den Geldautomaten benutzen, auch wenn das den Verdacht gegen sie weiter verstärken würde. Würde man ihr Geldguthaben einfrieren? Dafür wäre vermutlich eine richterliche Verfügung notwendig. Das wiederum bedeutete einen zeitlichen Vorsprung für sie, einen Vorsprung, den sie in diesem Moment gerade dabei war zu vergeuden, indem sie hinter einer Mülltonne versteckt die Zeit vertrödelte, anstatt endlich die Straße zu überqueren und so viel Geld wie möglich abzuheben.



Doch sie fühlte sich benommen und unfähig, völlig normale Verrichtungen auszuführen. Die dreihundert Meter zum Automaten hätten ebenso gut hundert Kilometer sein können.



Die schwarzglänzende Oberfläche des nassen Asphalts spiegelte die fast unwirklich verzerrten Lichter: die bunten Farben der Leuchtreklamen, das kalte Weiß der Straßenbeleuchtung, der ewig rot-gelb-grüne Wechsel der Ampel, die einen nicht vorhandenen Verkehr regelte. Um zwei Uhr morgens fuhr nur gelegentlich ein Auto vorbei. In den letzten fünf Minuten war nicht ein einziger Wagen hier entlanggefahren. Kein Mensch war zu sehen, also genau der richtige Zeitpunkt, um den Automaten zu benutzen. Doch sie hockte immer noch da, wobei die überhängende Dachtraufe und die schwere Mülltonne sie zumindest teilweise vor dem Regen schützten. Ihr Haar klebte am Kopf, die feuchten Flechten hingen schlaff und schwer auf ihrem Rücken. Ihre Kleider waren ebenfalls durchnässt, und obwohl es eine für Minneapolis ungewöhnlich warme Nacht war, hatte die klamme Feuchtigkeit ihrem Körper alle Wärme entzogen. Sie zitterte vor Kälte und drückte einen Müllbeutel gegen die Brust. Es war einer jener kleinen Beutel, wie man sie in den Abfallkörben öffentlicher Gebäude findet. Sie hatte ihn aus der öffentlichen Bibliothek mitgenommen. Der Computer und die wertvollen Papiere waren so gut geschützt. Als es zu regnen begonnen hatte, war sie um die Sicherheit der kostbaren Dokumente sehr besorgt gewesen. Der einzige Schutz, der ihr eingefallen war, war ebenjene Tüte. Möglicherweise war es keine besonders kluge Idee gewesen, die Bibliothek aufzusuchen. Schließlich war es ein öffentlich zugänglicher Ort, noch dazu einer, den sie regelmäßig aufsuchte. Andererseits, wie oft würde die Polizei schon in Bibliotheken nach Mordverdächtigen suchen? Parrish konnte sie durch den Gardinenschlitz hindurch jedenfalls nicht deutlich erkannt haben. Aber der Gedanke war nicht abwegig, dass sie diejenige war, die durch das Fenster hineingespäht und alles gesehen hatte. Bestimmt waren er und seine Männer auf der Suche nach ihr. Aber selbst wenn Ford ihnen gesagt hatte, dass sie in der Bibliothek sei, bezweifelte sie doch, dass die Männer annehmen konnten, sie sei nochmals in die Bibliothek zurückgegangen, um sich vor ihnen zu verstecken. Es war ja nicht einmal sicher, dass die Polizei zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon von dem Doppelmord wusste. Parrish konnte keine Anzeige erstatten, ohne dass auch er verdächtigt wurde. Daran aber konnte ihm nicht gelegen sein. Die Nachbarn wiederum hatten nichts gehört, da die Pistolen mit Schalldämpfer ausgerüstet gewesen waren. Aber vermutlich war die Polizei doch schon unterrichtet. Parrish konnte nicht zulassen, dass Tage vergingen, ehe die Leichen – ihr Herz zog sich bei diesem Wort zusammen, aber sie zwang sich, den Gedanken fortzusetzen – entdeckt wurden. Konnten Polizei und Gerichtsmedizin bei der Spurensuche feststellen, ob Schalldämpfer benutzt worden waren? Wohl kaum. Parrish brauchte also nur von ›verdächtigen Geräuschen wie Pistolenschüsse‹, zu erzählen und ihre Adresse anzugeben. Die Spur des Anrufers würde sich nicht zurückverfolgen lassen.



Demnach wurde sie also gesucht: von Parrish und seinen Helfershelfern und von der Polizei. Trotzdem hatte sie das Hauptgebäude der Bibliothek betreten. Der Instinkt hatte sie dorthin gelenkt. Starr vor Schock und Entsetzen wirkte die ihr vertraute Bibliothek wie ein schützender Hafen. Der Geruch der Bücher, diese eigenartige Mischung aus Papier, Leder und Druckerschwärze, gab dem Ort etwas Feierliches, Beruhigendes. Wie vor den Kopf geschlagen war sie zunächst zwischen den Regalen umhergeirrt und hatte sich die Bücher angesehen, die noch bis vor wenigen Stunden ihre ganze Welt gewesen waren. Sie hatte versucht, ein Gefühl der Sicherheit und der Normalität wiederzuerlangen. Vergeblich. Nichts würde jemals wieder so sein wie zuvor. Schließlich war sie in den Waschraum gegangen und hatte bestürzt ihr Gesicht im Spiegel betrachtet. Diese Frau mit dem kreidebleichen Gesicht und den hohlen Augen war nicht sie. Das konnte nicht Grace St. John sein, die ihr Leben in der akademischen Welt verbracht und es dem Entziffern und Übersetzen altertümlicher Dokumente gewidmet hatte. Die Grace St. John, die sie kannte und die sie unzählige Male in anderen Spiegeln gesehen hatte, hatte fröhliche blaue Augen und entspannte Gesichtszüge – die Züge einer Frau, die liebte und im Gegenzug geliebt wurde. Ja, sie war zufrieden gewesen, auch wenn sie vielleicht ein wenig zu füllig war, um ein Titelbild für ein Hochglanzmagazin abzugeben. Was machte das schon? Ford hatte sie geliebt, und das allein war es, was in ihrem Leben zählte. Doch Ford war jetzt tot.



Das konnte nicht wahr sein. Das entsprach nicht der Wirklichkeit. Nichts von dem, was geschehen war, war tatsächlich geschehen. Wenn sie die Augen zumachte, würde sie vielleicht in ihrem Bett aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war oder dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Das wäre ein guter Tausch, dachte sie und kniff ihre Lider zusammen. Jede Situation wäre besser als die, in der sie sich zurzeit befand.



Sie versuchte es. Sie presste die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die Vorstellung eines Alptraums und darauf, dass sie aufwachen würde und alles wieder gut sein würde. Als sie jedoch die Augen wieder aufschlug, war alles noch genauso schrecklich wie zuvor. Noch immer starrte sie auf ihr trostloses, vom kalten Licht der Neonröhre erleuchtetes Gesicht, und Ford war immer noch tot. Ford und Bryant, Ehemann und Bruder. Die beiden einzigen Menschen auf der Welt, die sie liebte und von denen sie geliebt worden war. Sie waren beide fort, waren unwiderruflich und für immer gegangen. Keine Macht der Welt konnte sie wieder zurückbringen. Sie fühlte sich, als ob ihr Innerstes mit ihnen zusammen gestorben war. Sie empfand sich nur noch als eine leere Hülle und wunderte sich, wieso das Gerüst aus Fleisch und Knochen, das sie aus dem Spiegel anstarrte, nicht vor ihren Augen zusammenklappte.



Doch als sie sich selbst in die Augen blickte, fand sie den Grund dafür, warum sie nicht zusammengebrochen war. Sie war nicht so leer, wie sie angenommen hatte. Da war noch etwas in ihr, etwas Wildes und Bodenloses: eine barbarisch rohe Verquickung aus Schrecken, Wut und Hass. Sie musste gegen Parrish kämpfen, koste es, was es wolle. Wenn Parrish oder die Polizei sie aufspürten, dann hätte Parrish das Spiel für sich gewonnen. Diese Vorstellung aber war ihr unerträglich. Er wollte unbedingt an die Dokumente kommen. Sie hatte mit deren Übersetzung eben erst begonnen und kannte den Inhalt der Papiere noch nicht. Sie wusste nicht, was an ihnen so außerordentlich war, dass er Ford und Bryant ermordet hatte und sie ebenfalls umbringen wollte, nur weil sie von der Existenz dieser Dokumente wussten. Vielleicht vermutete Parrish, sie habe bereits mehr übersetzt, als es tatsächlich der Fall war. Er wollte die Dokumente nicht nur besitzen, er wollte, dass niemand von ihrem Inhalt, ja, noch nicht einmal von ihrer Existenz erfuhr. Was war in diesen Dokumenten verborgen? Weswegen hatten ihr Ehemann und ihr Bruder sterben müssen?



Um diese Fragen zu beantworten, musste sie ihren Laptop schützen. Ihr Computer enthielt all ihre Aufzeichnungen, ihre Tagebuchnotizen und ihre Sprachprogramme, die sie bei ihrer Arbeit unterstützten. Sie könnte ihre Übersetzung also fortsetzen. Und sie würde den Grund herausbekommen. Den Grund.



Wenn sie sich jedoch erfolgreich verstecken wollte, so brauchte sie Geld. Sauberes Geld, dessen Quelle man nicht zurückverfolgen konnte.



Sie musste sich ganz einfach zwingen, zu dem Automaten zu gehen. Sie musste alles abheben, was noch im Automaten war – falls zu dieser späten Stunde überhaupt noch etwas verfügbar war. Danach würde sie den nächsten Automaten aufsuchen. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Bibliothek zu verlassen und sich an diesem dunklen Platz zu verbergen.



Ihre Finger waren jetzt taub und blutleer. Es war zwar immer noch fast zwanzig Grad warm, sie war aber bereits seit mehreren Stunden durchnässt.



Sie hätte nicht sagen können, woher sie die Kraft nahm, sich wieder aufzurichten. Doch auf einmal stand sie aufrecht, wenn auch wackelig auf den Beinen und lehnte sich stützend gegen eine Wand. Sie stieß sich von dort ab, und der Schwung ließ sie einige Schritte vorwärtstorkeln. Das Entsetzen und die Erschöpfung hatten sie jedoch nach wie vor fest in ihrem Griff. Wieder hielt sie inne. Sie drückte die Plastiktüte gegen die Brust und spürte das beruhigende Gewicht des Laptops. Der Regen rann ihr das Gesicht herunter, und eine dumpfe, steinige Masse drückte auf ihr Zwerchfell. Ford, Bryant.



Herrgott.



Ihre Füßen kamen wieder in Gang, zwar stolpernd und schleppend, aber sie konnte laufen. Mehr musste sie auch nicht tun. Die Handtasche hing ihr über der Schulter und schlug gegen ihre Hüfte. Ihre Schritte verlangsamten sich, dann blieb sie stehen. Ich Trottel! Es war wirklich ein Wunder, dass man sie bis jetzt noch nicht überfallen hatte. War sie doch die ganze Zeit menschenleere Straßen entlanggelaufen und hatte ihre Handtasche mit der Geldbörse offen getragen!



Sie sprang panisch und mit klopfendem Herzen in den Schatten zurück. Einen Augenblick lang stand sie wie gelähmt und hielt unruhig in der Dunkelheit nach einer jener lichtscheuen Gestalten Ausschau, die nachts durch die Stadt streiften. Doch die kleine Straße blieb leer. Sie atmete schwer. Sie war allein. Vielleicht war ihr der Regen zu Hilfe gekommen, und die Obdachlosen, die Junkies und die Straßenräuber hatten sich in ihre Unterschlupfe verkrochen. Sie lachte in der Dunkelheit hysterisch auf. Obwohl sie in Minneapolis aufgewachsen war, wusste sie nicht, welche Viertel man besser meiden sollte. Sie kannte ihre Nachbarschaft, die Wege zur Universität, zu den Bibliotheken, zum Postamt, zum Supermarkt, zu ihrem Arzt und Zahnarzt. Dienstlich hatten Ford und sie sechs Kontinente und wer weiß wie viele Länder bereist, und sie hielt sich für gut unterrichtet. Doch nun wurde ihr bewusst, wie wenig sie über ihre Heimatstadt wusste, weil sie immer nur in ihre kleine, vertraute Welt eingesponnen gewesen war.



Um jetzt zu überleben, würde sie wachsamer und klüger sein müssen. Da reichte es nicht mehr aus, die Türen zu verriegeln, sobald man im Auto saß. Jetzt musste sie auf alles gefasst sein, in jedem Winkel konnte die Gefahr lauern. Sie musste bereit und fähig sein zu kämpfen. Sie würde wie die Straßenkinder das Überleben trainieren müssen, sonst würde sie keine Woche auf der Straße durchhalten.



Sorgfältig ließ sie die Scheckkarte in ihrer Tasche verschwinden und versteckte sich wieder unter dem überhängenden Dach. Nachdem sie den wertvollen, in der Plastiktüte versteckten Computer abgestellt hatte, öffnete sie ihre Handtasche und ging den Inhalt durch. Sie nahm alles Bargeld heraus und stopfte es blindlings in das Seitenfach der Computertasche. Viel konnte es nicht sein, vielleicht vierzig oder fünfzig Dollar, denn sie trug normalerweise nur wenig Bargeld bei sich. Bei den Scheckvordrucken zögerte sie, entschloss sich dann aber, sie vorerst noch zu behalten. Vielleicht würde sie sie ja doch noch benutzen können, obwohl sich ein Scheck natürlich zum Einlösungsort zurückverfolgen ließ. Ebenso verfuhr sie mit der American-Express Karte. Beides stopfte sie in die Plastiktüte und wusste, dass sie keines der beiden Dinge noch lange gebrauchen konnte. Minneapolis würde sie verlassen müssen. Wenn sie danach Schecks oder Kreditkarte benutzte, käme ihr die Polizei direkt auf die Spur. In den Innenfächern ihrer Handtasche steckten mehrere Fotos. Ohne sie anzusehen, wusste sie doch genau, was auf ihnen abgebildet war. Mit zitternden Händen riss sie die Plastikeinlage aus der Handtasche und stopfte sie ebenfalls in den Müllbeutel.



Was noch? Ihren Führerschein und ihre Sozialversicherungskarte. Wozu hätte sie die jetzt noch gebrauchen können? Der Führerschein könnte allenfalls zu ihrer Identifizierung dienen, was sie ja verhindern musste. Die Sozialversicherungskarte – sie verzog gequält die Lippen. Kaum wahrscheinlich, dass ihr zukünftiges Leben ihr soziale Sicherheit bieten würde. Jeden Identitätsnachweis, den sie zurückließ und der danach von einem anderen Menschen genutzt werden würde, würde eine falsche Spur legen und die Suche der Polizei aufhalten. Sie ließ also die Karten zurück. Einem plötzlichen Impuls folgend, nahm sie auch die Schecks wieder aus der Plastiktüte. Sie riss einen Scheck heraus und steckte ihn zu dem Bargeld. Danach steckte sie das Scheckheft wieder in die Handtasche zurück. Den Lippenstift ließ sie, wo er war, aber den Kamm wollte sie behalten. Wieder drohte ein unheimliches Lachen aus ihrer Kehle zu entweichen: Ihr Mann und ihr Bruder waren gerade ermordet worden, und ihr sollte es etwas ausmachen, sich nicht kämmen zu können? Dennoch wanderte der Kamm in die Plastiktüte.



Ihre zitternden Finger fuhren über mehrere Stifte und Kugelschreiber, von denen sie blind zwei herausfischte. Die Stifte waren für ihre Arbeit ebenso wichtig wie der Computer, denn manchmal, wenn sie an der Entzifferung einer einzelnen Passage oder auch nur eines einzelnen Wortes verzweifelte, konnte es ausreichen, die Stelle mit der Hand nachzuschreiben. Die Verbindung zwischen Hand und Auge weckte oftmals eine Erinnerung, und sie konnte das eine oder andere Wort begreifen, weil sie seine Ähnlichkeit zu anderen Sprachen und Schriften entdeckte. Die Stifte musste sie also mitnehmen.



Ihr dickes Notizbuch. Sie wollte nicht daran denken. Es hatte die Kleinigkeiten jenes täglichen Lebens festgehalten, das nun nicht mehr existierte: Verabredungen, Stichpunkte und Erinnerungsstützen für dieses und jenes. Sie wollte die gekritzelte Notiz für Fords nächsten Zahnarzttermin nicht sehen, auch nicht das Herz, das er unter ihrem Geburtsdatum in den Kalender gemalt hatte. Ihre Visitenkarten ließ sie ebenfalls zurück, da sie sie ohnehin kaum jemals benutzte. Papiertaschentücher, Brillenspray, Kopfschmerztabletten und Pfefferminzbonbons ebenfalls. Die Nagelfeile steckte sie in den Müllbeutel. Viel war es nicht, aber immerhin das einzige, was einer Waffe ein wenig ähnelte. Bei den Autoschlüsseln zögerte sie und überlegte, ob sie nicht doch zurückgehen und ihr Auto oder Fords Kleinbus holen sollte. Nein, keine gute Idee. Wenn jemand die Autoschlüssel fand, würde er vielleicht einen der Wagen stehlen und so die Polizei weiter in die Irre führen.



Kaugummi, Gummibänder, das Vergrößerungsglas. Sie identifizierte all diese Dinge lediglich durch Berührung. Nur die Lupe kramte sie hervor, denn die brauchte sie für ihre Arbeit. Warum nur trug sie immer so viel Krimskrams mit sich herum? Sie spürte, wie sie ungeduldig wurde. Es war das erste Gefühl, dem es gelang, die Dumpfheit ihrer Trauer und Verzweiflung zu durchbrechen. Es ging ja nicht nur um den Inhalt ihrer Handtasche. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen, kein unnützes Gepäck mit sich herumschleppen. Nichts durfte sich ihrem Ziel in den Weg stellen. Von jetzt ab musste jeder Schritt ein notwendiger Schritt sein. Kostbare Zeit und Energie durfte sie nicht verschwenden, nur weil die Angst sie lähmte. Sie musste jetzt, ohne zu zögern handeln, sonst würde Parrish die Oberhand bekommen.



Wütend schmiss sie die Handtasche auf den Müllhaufen. Eine aufgestörte Ratte rannte quiekend davon. Von irgendwoher nahm Grace die Kraft und wagte sich aus dem sicheren Unterschlupf auf die offene, schmutzige Straße hinaus. Die Lichter eines herannahenden Autos ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren, als sie gerade auf den Bürgersteig herausgetreten war. Der Wagen fuhr vorbei, die Reifen spritzten auf dem nassen Asphalt, und der Fahrer würdigte den durchnässten, zwischen zwei Häusern gedrängten Menschen keines Blickes.



An der nächsten Ecke bog das Auto rechts ab. Grace heftete ihren Blick auf den Geldautomaten, holte tief Luft und ging los. Sie war so sehr auf den hell erleuchteten Geldautomaten fixiert, dass sie die Bordsteinkante übersah, stolperte, und mit dem rechten Fuß umknickte. Ohne dem Schmerz irgendeine Aufmerksamkeit zu schenken, ging sie weiter. Wenn Sportler mit Schmerzen laufen konnten, dann konnte sie es auch.



Der Automat rückte näher und näher und leuchtete immer heller. Sie wäre gerne gerannt, um so schnell wie möglich wieder in den Schutz der Mülltonne zurückzukehren. Sie fühlte sich, als ob sie splitternackt wäre. Das Gefühl, allen Blicken preisgegeben zu sein, war so stark, dass sie um ihre Fassung ringen musste. Jeder konnte sie beobachten, in Ruhe abwarten, bis sie das Geld abgehoben hatte, sie dann überfallen, das Geld an sich nehmen und sie möglicherweise umbringen. Sie war jetzt im Bereich der Überwachungskameras der Bank, die jede ihrer Bewegungen festhielten.



Wieviel Geld hatte sie noch auf dem Konto? Verflucht, sie hatte das Scheckbuch weggeworfen, ohne einen Blick auf den letzten Auszug zu werfen. Jetzt aber konnte sie nicht mehr in die Seitenstraße zurückgehen und nach ihrer Handtasche suchen, selbst wenn sie sie noch hätte finden können. Sie würde halt einfach so lange Geld abheben, bis der Automat weitere Auszahlungen verweigerte.



Das allerdings tat er bereits nach dreihundert Dollar. Sie starrte verzweifelt die Computeranzeige an: »Auszahlung verweigert.« Sie war sich sicher, dass sie noch etwa zweitausend Dollar auf dem Konto hatte. Das war nicht viel, aber doch möglicherweise genau die Summe, die für sie zwischen Tod und Leben entscheiden konnte. Ihr war zwar bewusst, dass die Summe bei jeder Abhebung begrenzt war. Warum aber hatte der Automat schon beim zweiten Anlauf weitere Zahlungen verweigert? Vielleicht stand dem Automaten nicht mehr Geld zur Verfügung, um ihre Forderung zu erfüllen. Sie versuchte es noch einmal, tippte ihre Geheimzahl ein und forderte dieses Mal nur einhundert Dollar.



»Auszahlung verweigert.«



Panik ergriff sie. Konnte die Polizei etwa so schnell ihr Bankguthaben einfrieren?



Ein kategorisches Nein war die Antwort. Das war einfach unmöglich. Die Banken hatten geschlossen. Eine derartige Anordnung konnte morgen früh getroffen werden, zu dem jetzigen Zeitpunkt aber war das unmöglich. Sicherlich lag es daran, dass der Automat schlichtweg leer war.



Hastig stopfte sie die dreihundert Dollar in ihre Taschen. Sie verteilte die Scheine so, dass sie bei einem Überfall vielleicht ein Teil des Geldes würde retten können, falls ihr Gegner sie nicht gründlich durchsuchte. Sie hoffte nur, dass dem Computer nichts passieren würde. Geld würde sie sich widerstandslos abknöpfen lassen, um den Computer jedoch und die wertvollen Disketten würde sie kämpfen. Ohne sie würde sie den Grund für Fords und Bryants Tod niemals erfahren. Und diesen Grund musste sie wissen. Rache reichte ihr nicht aus, sie musste wissen, warum das Verbrechen geschehen war. Von Verzweiflung getrieben, beschleunigte sie ihre Schritte. Sie musste einen anderen Automaten finden, um mehr Geld abzuheben. Wo aber war der nächste Geldautomat? Bis jetzt hatte sie immer nur den an ihrer Bankfiliale benutzt. Andere standen vielleicht in Einkaufszentren, die jedoch zu dieser Stunde geschlossen hatten. Welche Läden hatten rund um die Uhr geöffnet und verfügten möglicherweise über einen Geldautomaten? Supermärkte vielleicht? Sie erinnerte sich, dass ihr die Bank bei der Kontoeröffnung eine Liste aller zentral gelegenen Geldautomaten überreicht hatte.



»Her mit den Kröten.«



Die beiden Männer waren so blitzschnell aus einer Seitenstraße herausgeschossen, dass sie gar nicht mehr reagieren konnte. Der eine Mann war weiß, der andere schwarz, beides Obdachlose. Der Weiße zückte ein Messer. Die Klinge blitzte im Regen unter dem Licht der Straßenlaternen geisterhaft auf. »Mach keine Zicken, Alte«, zischte er mit heiserer und bedrohlicher Stimme. »Her damit.« Ihm fehlten ein paar Schneidezähne, und ganz klar im Kopf schien er auch nicht zu sein.



Wortlos steckte sie die Hand in die Tasche und holte die Scheine hervor. Eigentlich hätte sie Angst haben sollen, aber der Mensch kann Angst nur bis zu einem bestimmten Grad empfinden. Ist dieses Maß erst einmal überschritten, wird gefühlsmäßig überhaupt nichts mehr wahrgenommen. Der schwarze Kerl schnappte sich die Scheine, der andere kam mit dem Messer auf sie zu und hielt es direkt vor ihre Augen. Grace zog ihren Kopf gerade noch rechtzeitig zurück, sonst hätte die Klinge ihre Wange aufgeschlitzt. »Mann, ich habe es doch gesehen, du Schlampe. Rück den Rest raus.«



Ihren großartigen Plan konnte sie abschreiben. Vermutlich hatten sie sie bereits beobachtet, als sie die Straße überquert hatte. Sie griff in die andere Tasche. Ihr gelang es, die Finger so zwischen das Bündel zu schieben, dass sie nur die Hälfte hervorholte. Der Schwarze grabschte sich auch diese Scheine. Dann tauchten die beiden wieder im Dunkel der Seitenstraße ab. Nach ihrer Plastiktüte hatten sie nicht einmal gefragt. Sie wollten lediglich Bargeld und nicht etwas, das ihnen zusätzlichen Ärger bescheren würde. Den Computer besaß sie also immerhin noch. Grace schloss die Augen und kämpfte dagegen an, unter der Last ihrer Verzweiflung zusammenzubrechen. Sie hatte keinen Mann mehr, keinen Bruder, aber den … verdammten … Computer, den hatte sie noch.



Ein heiseres Schluchzen ließ sie aufhorchen. Es dauerte eine Weile, ehe sie merkte, dass es aus ihrer eigenen Kehle kam. Es dauerte noch weitere Sekunden, ehe ihr klar wurde, dass sie wieder lief, irgendwie, irgendwohin. Regentropfen rannen ihr über das Gesicht, jedenfalls nahm sie an, dass es der Regen war. Sie konnte ihre Tränen nicht fühlen, aber sie fühlte auch nicht, dass sie lief. Sie ging einfach immer weiter. Vielleicht weinte sie, so vergeblich das auch sein mochte. Regen, Tränen, wo lag schon der Unterschied?



Immerhin besaß sie noch den Computer.



Computer, Christian.



Sie musste ihn warnen. Wenn Parrish den geringsten Verdacht schöpfte, dass Christian von den Dateien Kenntnis hatte, ja, sogar teilweise ihren Inhalt kannte, würde er nicht zögern, den Jungen umzubringen. Öffentliche Fernsprecher gab es gottlob zahlreicher als Geldautomaten. Sie fischte ein paar Münzen aus dem Beutel und hielt sie in ihrer klammen Hand. Dann bog sie in eine Seitenstraße ein, eilte einen Häuserblock entlang, bog wieder in eine Straße ab und versuchte so, möglichst viel Abstand zwischen sich und den beiden Gangstern zu schaffen. Wie verlassen die Straßen doch waren! Sie hätte nicht geglaubt, dass die Straßen einer Großstadt wie Minneapolis so einsam sein konnten. Ihre Fußtritte hallten über das Pflaster, sie atmete laut und rasselnd. Der Regen tropfte von den Dachrinnen und Markisen herunter, rings um sie herum bedrängten sie die Wolkenkratzer. Hier und da zeugte ein erleuchtetes Fenster von einem armen Büroangestellten, der die Nacht durcharbeitete. Dennoch war sie Lichtjahre von jenen entfernt, die trocken und warm in ihren Kokons aus Glas und Stahl hockten, während sie möglichst unauffällig durch den Regen lief. Schließlich kam sie keuchend vor einer Telefonzelle an. Im eigentlichen Sinne war es keine Telefonzelle mehr, es war einfach nur ein Apparat, der an beiden Seiten mit Plastikscheiben versehen war. Immerhin gab es eine Ablage, auf der sie ihre Tasche abstellen konnte. Sie hielt sie mit ihrem Körper fest, klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter und ließ einen Vierteldollar in den Einwurfschlitz fallen. Sie hatte Christians Nummer nicht mehr im Kopf, aber ihre Finger erinnerten sich. Ohne ihren Kopf zu Rate zu ziehen, bewegten sie sich sicher über das Tastenfeld. Gleich nach dem ersten Läuten hörte sie Christians Stimme. »Hallo?« Er klang angespannt und ungewöhnlich wach für diese Tages-, vielmehr Nachtzeit.



»Chris.« Sie brachte den Namen nur noch krächzend hervor. Sie räusperte sich, dann begann sie noch einmal von vorne. »Chris, ich bin es, Grace.«



»Grace, mein Gott. Überall ist die Polizei. Sie behaupten …« Er hielt plötzlich inne und senkte die Stimme. Sein Flüstern klang beinahe wütend. »Geht es dir gut? Wo steckst du denn?« Ob es ihr gutginge? Wie sollte es ihr gutgehen? Ford und Bryant waren tot, in ihrem Inneren klaffte ein großes, schwarzes Loch. Nie wieder würde es ihr gutgehen. Körperlich jedoch war sie unverletzt. Und sie wusste, dass Christians Frage darauf abgezielt hatte. Seine Frage verriet ihr auch, dass Parrish tatsächlich die Polizei benachrichtigt hatte. Das ruhige Wohnviertel musste in heller Aufregung sein.



»Ich habe gesehen, wie es passierte«, antwortete sie. Ihre Kehle war so zugeschnürt, dass ihre Stimme flach und hohl, wie die einer Fremden klang. »Sie werden behaupten, ich sei die Mörderin gewesen. Aber ich war es nicht. Parrish war es. Ich habe ihn gesehen.«



»Parrish? Parrish Sawyer, dein Vorgesetzter? Der Parrish? Bist du dir da auch ganz sicher? Was ist passiert?«



Sie wartete das Ende seiner Fragenkette ab. »Ich habe ihn gesehen«, wiederholte sie. »Sag mal, haben sie dich schon verhört?«



»Nur kurz. Sie wollten wissen, wann du hier weggegangen bist.«



»Hast du die Texte erwähnt, an denen ich arbeite?«



»Nein.« Seine Stimme klang fest. »Sie haben gefragt, warum du hier warst, und ich habe geantwortet, dass du dein Modem zur Reparatur vorbeigebracht hast. Das war alles.«



»Gut. Was du auch sagst, erwähne die Texte nicht. Wenn jemand fragt, behaupte einfach, du hättest keine Dokumente gesehen.«



»Okay. Aber warum soll ich das tun?«



»Damit Parrish dich nicht auch noch umbringt.« Ihre Zähne fingen zu klappern an. Ihr war so verdammt kalt, der leichte Wind schlug ihr die nassen Kleider gegen den Körper. »Hör zu, ich meine es ernst. Kein Mensch darf erfahren, dass du von meiner Arbeit wusstest. Ich weiß selbst nicht, was es mit diesen Dokumenten auf sich hat, aber offenbar will er jeden loswerden, der von ihrer Existenz weiß.« Nach langem Schweigen sagte Christian verwirrt: »Willst du damit sagen, dass Parrish verhindern möchte, dass jemand etwas über diesen Tempelritter erfährt, nach dem du gesucht hast? Der Mann hat, wenn überhaupt, dann vor circa siebenhundert Jahren gelebt. Wen zum Teufel interessiert das denn?«



»Offenbar interessiert es Parrish.« Sie kannte den Grund nicht, aber sie würde ihn herausbekommen. »Parrish«, wiederholte sie mit ersterbender Stimme.



Sie hörte seinen schnellen flachen Atem, der von dem Mundstück noch verstärkt wurde. »Abgemacht, ich sage kein Wort.« Er machte eine Pause. »Brauchst du Hilfe? Du kannst mein Auto haben.«



Fast hätte sie lachen müssen. Trotz der grauenhaften Vorkommnisse kribbelte ein Lachen in ihrer Kehle und blieb dort in der verkrampften Muskulatur hängen. Christians Männlichkeitssymbol in Form eines Automobils war die sprichwörtliche bunte Kuh, und die konnte sie jetzt nun wirklich nicht gebrauchen. »Nein, danke. Aber Geld brauche ich. Der Automat, an dem ich es gerade versucht habe, hatte kein Geld mehr. Außerdem bin ich sofort danach überfallen worden.«



»Das glaube ich nicht«, entgegnete Christian.



Er glaubte nicht, dass sie überfallen worden war? »Wie bitte?« fragte sie. Vor Erschöpfung konnte sie sich kaum noch bewegen und kaum noch denken, aber das konnte er unmöglich gemeint haben.



»Ich glaube nicht, dass der Automat kein Geld mehr hatte«, antwortete er. Plötzlich klang seine Stimme ganz erwachsen und hatte die kühle Intensität angenommen, die sie immer im Zusammenhang mit Computern bekam. »Wieviel hast du denn abgehoben?«



»Dreihundert Dollar. Ist das nicht der Höchstbetrag für jede Abhebung? Der Bankangestellte hatte, glaube ich, etwas von dreihundert Dollar gesagt, als wir das Konto eingerichtet haben.«



»Nicht dreihundert Dollar bei jeder Abhebung, sondern dreihundert Dollar am Tag«, erklärte Christian geduldig. »Du kannst so viele Abhebungen machen, wie du willst, allerdings höchstens dreihundert Dollar innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Jede Bank legt ihr eigenes Maximum fest, und das sind bei deiner Bank dreihundert Dollar.«



Seine Erklärung traf sie wie ein Donnerschlag. Selbst wenn sie einen anderen Geldautomaten auftreiben konnte, würde sie ihn erst in den Morgenstunden des nächsten Tages benutzen können. So lange konnte sie aber nicht warten. Wenn die Polizei ihr Bankguthaben einfrieren wollte, so käme sie nicht mehr an ihr Geld heran. Sie musste aus Minneapolis fliehen, um ein sicheres Versteck zu finden, wo sie die Dokumente entziffern und herausfinden konnte, weswegen Parrish Ford und Bryant umgebracht hatte. Dafür aber brauchte sie Geld, einen Telefonanschluss und den Zugang zu Datenbanken.



»Ich bin am Ende«, sagte sie mit bleierner Stimme.



»Nein!« schrie Christian. In ruhigerem Ton fügte er hinzu: »Nein, das kann ich für dich regeln. Wie hoch ist dein Kontostand?«



»Das weiß ich nicht genau. Ein paar tausend vielleicht.«



»Suche dir einen anderen Automaten«, riet er ihr. »Ich hacke mich in den Computer deiner Bank und ändere das Limit auf, sagen wir, fünftausend Dollar. Du hebst die Summe ab, danach stelle ich das Limit auf die übliche Summe zurück. Niemals wird irgendjemand herausfinden, wie das gelaufen ist, das verspreche ich dir.«



Etwas wie Hoffnung flackerte in ihr auf, nach den Schreckensstunden dieser Nacht ein merkwürdiges Gefühl. Jetzt musste sie nur noch einen Automaten finden. Das war leichter gesagt als getan, denn schließlich war sie zu Fuß unterwegs. »Sieh im Telefonbuch nach«, sagte er. »Jede Filiale deiner Bank hat einen Geldautomaten. Such dir den nächstgelegenen heraus.«



Natürlich. Wie einfach. Normalerweise wäre sie selbst darauf gekommen. dass sie jedoch nicht darauf gekommen war, zeugte vom Ausmaß ihres Schocks und ihrer Erschöpfung.



»In Ordnung, so werde ich es machen.« Glücklicherweise war ein Telefonbuch an die Ablage gekettet. Sie öffnete die Schutzhülle. Ein Teil war immerhin noch vorhanden. Sogar der wichtigste Teil, das Branchenbuch nämlich. Sie blätterte die Kladde bis zu dem Stichwort ›Banken‹ durch. Ihre Bank verfügte über sechzehn dieser sogenannten ›leicht erreichbaren‹ Filialen. Bis zu der nächstgelegenen würde sie schätzungsweise eine halbe Stunde brauchen. »Ich gehe jetzt los«, sagte sie. »Wenn nichts dazwischenkommt, dann brauche ich vielleicht eine halbe bis dreiviertel Stunde.« Die Polizei konnte sie aufgreifen, oder sie konnte erneut überfallen werden. Vielleicht kämmten ja auch Parrish und seine Gefolgsleute die Stadt nach ihr ab. Keine der beiden Möglichkeiten versprach ein gutes Ende.



»Ruf mich an«, sagte Christian nachdrücklich. »Ich schalte mich gleich in den Bankcomputer ein. Rufe mich aber trotzdem an und teile mir mit, ob alles glatt gelaufen ist.«



»Das werde ich tun«, versprach sie.



Sie brauchte für den Halbstundenweg fast eine volle Stunde. Sie war erschöpft, und der Laptop wurde mit jedem Schritt schwerer. Vor jedem vorbeifahrenden Auto musste sie sich verstecken. Einmal fuhr ein Streifenwagen direkt vor ihr über eine Kreuzung, das Blaulicht flimmerte durch die nächtliche Ruhe. Ihr wurde vor Panik ganz schwindlig, und ihr Herz pochte laut.



Die Innenstadt kannte sie nur punktuell. Sie hatte in den Vorstädten gelebt, war dort zur Schule gegangen und hatte dort eingekauft. Sie lief einige Häuserblocks weit in die falsche Richtung, bevor sie ihren Fehler bemerkte und zurückgehen musste. Nur zu deutlich war ihr bewusst, dass die Dämmerung nahte. Die Menschen würden aufstehen und im Fernsehen von dem Doppelmord erfahren. Die Polizei würde in ihrem Haus Fotos von ihr gefunden haben. Auf Hunderttausenden von Fernsehbildschirmen würde ihr Gesicht zu sehen sein. Bevor das geschah, musste sie unbedingt einen sicheren Unterschlupf gefunden haben.



Schließlich erreichte sie die Bankfiliale mit dem außen angebrachten, erleuchteten Geldautomaten. Die Überwachungskameras liefen: Wenn jemand hier ermordet wurde, so konnte man die Bilder gleich in den Abendnachrichten zeigen.



Sie war zu erschöpft, um sich wegen der Kameras oder eines eventuellen Raubüberfalls zu sorgen. Wenn sie wieder jemand berauben wollte, so würde sie sich diesmal zur Wehr setzen. Sie hatte nicht mehr viel zu verlieren, denn jetzt war Geld für sie gleichbedeutend mit Leben geworden. Sie ging auf den Automaten zu, holte ihre Bankkarte hervor, folgte den Anweisungen und forderte zweitausend Dollar.



Die Maschine begann Zwanzigdollarscheine auszuspucken. Sie hörte brav nach hundert Scheinen damit auf. Welch Segen der Automatisierung! Zusammen mit den dreihundert von vorhin konnte nicht mehr viel auf dem Konto sein. Sie bemühte sich auch gar nicht mehr, den genauen Kontostand zu erfahren. Sie hatte zweitausend Dollar Bargeld in der Hand, und die Zeit drängte. Sie eilte um die nächste Ecke und verbarg sich im Schatten. Dort kauerte sie sich an eine Wand und stopfte hastig die Scheine in die Computertasche, in ihre Hosentaschen, ihren Büstenhalter und in ihre Schuhe. Dabei suchte sie die ganze Zeit mit den Augen die Umgebung ab, doch die Straßen lagen ruhig und verlassen da. Die nächtlichen Streuner würden sich nun langsam in ihre Unterschlupfe zurückziehen und die Stadt den Tagesbewohnern überlassen.



Vielleicht verhielt es sich tatsächlich so. Sie durfte jetzt aber keine Risiken eingehen. Sie brauchte eine Waffe, ganz gleich, welche, und egal wie primitiv. Eine Waffe, mit der sie sich schützen konnte. Sich umblickend, hoffte sie, einen brauchbaren Knüppel zu finden. Aber auf dem Boden lagen nur ein paar Glasscherben und einige Steine. Eine primitivere Waffe als einen Stein gab es wohl kaum.



Sie las einige davon auf und steckte sie alle bis auf den größten in ihre Jackentasche. Den größten nahm sie in die Hand. Natürlich wusste sie, wie lächerlich diese Verteidigungswaffe war, dennoch gab der Stein ihr ein Gefühl der Sicherheit. Eine schlechte Waffe war besser als gar keine.



Sie musste Christian anrufen, und sie musste Minneapolis verlassen. Sie hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als sich hinzulegen, zu schlafen und wenigstens für ein paar Stunden vergessen zu dürfen. Diese Extravaganz aber würde warten müssen. Grace eilte durch die Straßen, während die Morgendämmerung anbrach. Langsam ging die Sonne auf. Es war ihr erster Tag als Witwe.





Grace St. John, eine junge und ambitionierte Wissenschaftlerin, stößt in einem Stapel alter Dokumente auf ein besonderes Manuskript, welches die Spur zu einem sagenumwobenen keltischen Schatz enthält. Völlig fasziniert von ihrer Entdeckung ahnt Grace nicht, dass diese der Schlüssel zu unbegrenzter Macht darstellt und ihr bereits skrupellose und machthungrige Mörder auf den Fersen sind. Der Einzige, der Grace jetzt noch helfen kann ist Niall – ein Krieger, der das Gelübde abgelegt hat, den Schatz bis in alle Ewigkeiten zu schützen. Das Problem dabei ist nur, dass Niall in den schottischen Highlands des 14. Jahrhunderts lebt. Der jungen Frau bleibt also nichts anderes übrig, als die Grenzen der Zeit mit einem magischen Ritual zu überwinden und ihren Krieger zu finden. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass die beiden nicht nur der geheimnisvolle Schatz verbindet, sondern eine unbändige Leidenschaft, die stark genug sein muss, um allen Gefahren zu trotzen …

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  • Artikelnummer SW9783989984363458270
  • Autor find_in_page Linda Howard
  • Mit find_in_page Inez Meyer
  • Autoreninformationen Linda S. Howington ist Bestsellerautorin für Liebesromane… open_in_new Mehr erfahren
  • Verlag find_in_page dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
  • Veröffentlichung 22.10.2024
  • ISBN 9783989984363

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