Säng
Mitten in den Basargassen von Leh an der tibetischen Grenze begegnet Bernhard Kellermann einem Hund, der mehr einem wilden Tiger als einem zahmen Tier gleicht: Säng. Groß wie ein Kalb, furchteinflößend und zugleich von ergreifender Schönheit, trägt er die Narben seines Schicksals – ein gebrochener Vorderfuß, Erinnerungen an Kämpfe mit Wölfen und ein Leben zwischen Stolz und Erniedrigung. Aus der Begegnung zwischen dem deutschen Reisenden und dem verwundeten Karawanenhund entsteht eine außergewöhnliche Freundschaft, die Grenzen von Sprache, Kultur und Spezies überwindet.
Kellermann erzählt in eindringlichen Bildern von Treue, Schmerz und der Sehnsucht nach Freiheit – eine zeitlose Parabel über Mitgefühl und die Macht echter Verbundenheit.
Eines Tages nun ereignete sich etwas wirklich Außergewöhnliches: Mein Freund erschien plötzlich am Tor des Bungalows. Er war mir, ohne dass ich es beobachtete, gefolgt und mit dem verwundeten Fuß den steilen Weg hinauf gehumpelt. Die Heilung seines Fußes machte übrigens, dies ganz nebenbei bemerkt, in letzter Zeit große Fortschritte. Wo der Knochen zersplittert war, hatte sich ein faustgroßer, abscheulich anzusehender Knoten gebildet. Zuweilen machte Säng schon den Versuch, mit der kranken Pfote den Boden zu berühren. Als sein breiter, verwegener Schädel im Hof des Bungalows auftauchte, entstand die größte Aufregung unter meinen Dienern.
„Sahib, Säng ist gekommen!“ Das klang fast, als beehre mich der König von Ladack mit seinem Besuch. Ich begrüßte Säng erfreut und lud ihn ein, einzutreten. Dazu war er aber nicht zu bewegen. Irgendetwas in seiner Erinnerung sträubte sich gegen den Gedanken, einen geschlossenen Hof zu betreten. Einige Leckerbissen wurden vom Koch herbeigeschafft, und Säng genoss Bewirtung und gute Aufnahme. Seine Visite dauerte ziemlich lange, denn schließlich hatte er ja nicht viel zu versäumen. Ich wagte bei dieser Gelegenheit zum ersten Male, Säng zu berühren. Als ich meine Hand seinem Kopf näherte, schielte er unbehaglich und beunruhigt. Er knurrte, kräuselte die Nase und stieß den Atem erregt durch das leicht geöffnete Gebiss. Er wollte mich warnen, denn schließlich wusste er selbst nicht, was geschehen würde. Aber als ich ihm gut zuredete, begann er mit dem Schwanz auf den Boden zu schlagen, und nun war es geschehen. Eine Menschenhand hatte ihn nach langer, langer Zeit wieder berührt! Anfangs war er unruhig, aufgewühlt, er konnte es nicht fassen, dann gab er sich der Liebkosung völlig hin. Er brummte, um seiner Behaglichkeit und seinem Dank Ausdruck zu geben. Dazwischen ging sein Brummen in ein grollendes Knurren über, denn schließlich hatte ja alles seine Grenzen. Im Übrigen war er ein Karawanenhund und kein Pekinese, der die Zunge aus dem Maul hängt, wenn man ihn hinter den Ohren krault. Eine halbe Stunde hockte er noch vor der Tür des Bungalows, nachdem ich gegangen war, und niemand wagte, in den Hof hereinzukommen oder hinauszugehen. Dann humpelte er langsam davon. Vielleicht, dachte ich, war er in seiner Jugend einmal im Lager eines Europäers gewesen, irgendeines Reisenden oder Jägers, und seine Zuneigung zu mir entsprang dieser Erinnerung.
Säng besuchte mich einige Male. Schließlich wagte er sich bis an die Veranda des Bungalows heran. Meine Diener aber wichen ihm immer noch in respektvollem Bogen aus.
Bernhard Friedrich Wilhelm Kellermann (*4. März 1879 in Fürth; †17. Oktober 1951 in Klein Glienicke bei Potsdam) war ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Abgeordneter. Sein bekanntestes Werk ist der Roman Der Tunnel (1913), ein internationaler Bestseller, der millionenfach verkauft, in 25 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt wurde.
Kellermann studierte zunächst an der Technischen Hochschule München, später Germanistik und Malerei. Schon mit seinen frühen Romanen Yester und Li (1904) und Ingeborg (1906) gelang ihm der Durchbruch. Es folgten Reiseberichte aus den USA und Japan, die seine Beobachtungsgabe und literarische Vielfalt unter Beweis stellten.
Der Erste Weltkrieg prägte ihn tief: Als Kriegsberichterstatter veröffentlichte er Reportagen vom Frontgeschehen. Mit seinem gesellschaftskritischen Roman Der 9. November (1920), der den Umbruch am Ende des Krieges thematisiert, zog er sich den Hass der Nationalsozialisten zu – das Buch wurde 1933 verboten und verbrannt, Kellermann aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.
Nach 1945 engagierte er sich in der jungen DDR stark für kulturelle und politische Fragen. Gemeinsam mit Johannes R. Becher gründete er den Kulturbund, wurde Abgeordneter der Volkskammer und Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Für seinen Roman Totentanz erhielt er 1949 den Nationalpreis der DDR. In Westdeutschland hingegen geriet sein Name durch Boykottaktionen weitgehend in Vergessenheit.
Kellermann war zweimal verheiratet: 1915 mit der US-Amerikanerin Mabel Giberson (†1926) und ab 1939 mit Else „Ellen“ Michaelis, die nach seinem Tod seine Werke herausgab.
Bernhard Kellermann hinterließ ein vielseitiges Werk aus Romanen, Erzählungen, Reisebüchern und Reportagen. Er ruht auf dem Neuen Friedhof in Potsdam.
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- Artikel-Nr.: SW9783689125776458270
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Autor
Bernhard Kellermann
- Verlag EDITION digital
- Veröffentlichung 02.10.2025
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- ISBN 9783689125776
- Verlag EDITION digital