Der Magen von Paris

Paris schläft nie – besonders nicht dort, wo das Leben am lautesten pocht: in den Markthallen. Mit scharfem Blick und eindringlicher Sprache führt Bernhard Kellermann den Leser mitten hinein in das nächtliche Herz der Stadt, wo der Glanz der Boulevards abrupt in ein Meer aus Dampf, Stimmen und Gerüchen übergeht. Zwischen dampfenden Gemüsewagen, schillernden Blumenhügeln, geschlachteten Tieren und fluchenden Lastträgern entfaltet sich ein Panorama, das gleichermaßen fasziniert wie erschüttert. Kellermann zeigt die pulsierende Metropole fernab touristischer Träumereien – ein Paris der Gegensätze, der... alles anzeigen expand_more

Paris schläft nie – besonders nicht dort, wo das Leben am lautesten pocht: in den Markthallen. Mit scharfem Blick und eindringlicher Sprache führt Bernhard Kellermann den Leser mitten hinein in das nächtliche Herz der Stadt, wo der Glanz der Boulevards abrupt in ein Meer aus Dampf, Stimmen und Gerüchen übergeht. Zwischen dampfenden Gemüsewagen, schillernden Blumenhügeln, geschlachteten Tieren und fluchenden Lastträgern entfaltet sich ein Panorama, das gleichermaßen fasziniert wie erschüttert.

Kellermann zeigt die pulsierende Metropole fernab touristischer Träumereien – ein Paris der Gegensätze, der Reichtümer und der Schatten. Eine atmosphärisch dichte Reportage, die die Stadt so lebendig werden lässt, als stünde man selbst mitten im Lärm und Duft der Hallen.



Bei Barrat kann man vornehm und reinlich, allerdings auch teuer, dinieren, befrackte Kellner mit verschlagenen Mienen und süßester Höflichkeit servieren. Barrat ist ein besseres Restaurant, wo sich die elegante Halbwelt versammelt, die ergebnislos bei Bullier tanzte und in den Tavernen vom Boulevard St-Michel promenierte. Hier spielt eine Kapelle, Paare drehen sich mit der unnachahmlichen Grazie der Pariser Tänzer, die Seidenhüte glänzen, und die gestickten Vorhemden blenden. Hier sah ich einmal ein Mädchen, das zu den schönsten Frauen zählte, die ich je erblickte. Sie hätte mit Adel einen Fürstenthron geziert.

Interessant ist es jedoch, den „Caveau des Innocents“ oder den „Ange Gabriel“ zu besuchen, die zwei berüchtigtsten Lokale von Paris. Den Eingang zum „Caveau des Innocents“ bildet eine kleine Bar, die man durchquert, um eine schmale steile Treppe hinabzusteigen. Dumpfe, verdorbene Luft und tobender Lärm steigen einem wie durch einen Kamin entgegen. Der Keller besteht aus etwa vier kleinen niedrigen Gewölben, die einem oder zwei kleinen Tischen Raum geben und vollgepfropft sind von schreienden, schlafenden, lachenden und stumm-verzweifelten Menschen. Zumeist sind es Apaches, alles dunkle Existenzen mit eindeutigen Gedanken hinter den geduckten Stirnen und verwegener Entschlossenheit in den glänzenden, unverhohlen prüfenden Augen. Im ersten Kellergewölbe sitzen zwei Stadtsergeanten mit Pistolen vor sich auf dem Tische. Verschlagene, freche, totenbleiche und abgelebte Gesichter heben sich erstaunt und neugierig. Das Lächeln der gesunkensten Dirnen von Paris grinst an den Tischen. Im letzten Gewölbe befindet sich ein ununterbrochen tobendes Klavier, das Gesänge begleitet, die einzeln oder im Chor gesungen werden. Der Text dieser Lieder ist nicht wiederzugeben, doch hörte ich einen Fremdenlegionär ein sehr schönes und schwermütiges Lied mit großem Anstande vortragen. Der Lärm hier ist unbeschreiblich. Ein junges, etwa fünfzehnjähriges Mädchen mit lieblichem Gesichte und unschuldig blickenden Augen verbringt hier seine Nächte, es singt, lacht und trinkt. Der Kopf des Klavierspielers ist wie eine Vision des Entsetzens, er ist ganz starr, bleich, ohne jedes Leben, mit großen, rollenden Augen, und ich würde ihn für tot gehalten haben, hätten nicht die Hände gehämmert und die Augen gerollt. Man erzählte mir, dass er taub und blind sei. Der „Caveau des Innocents“ ist alt, eine Kneipe, die die Toleranz der Polizei seit Jahrhunderten Verbrechern und Dieben und Arbeitsscheuen zur Belustigung und als einen Unterschlupf für die Nacht offenlässt. Die Wände sind mit Namensinschriften bedeckt, man zeigte mir die Namen berühmter Verbrecher.

Einen ganz anderen Charakter bietet der „Ange Gabriel“. Hier ist es schmutzig-elegant, das Publikum ist besser gekleidet, man entdeckt sogar Seidenhüte, und die aufgeschwemmten Damen, die hier Austern schlürfen, tragen Brillantboutons in den Ohren und feine Spitzen über den dicken Händen. Der „Ange Gabriel“ ist aber, wenn möglich, noch berüchtigter als der Caveau der Unschuldigen. Hier ist es still, etwas Atemverhaltenes, Lauerndes liegt in der Luft, und eine traurige Ironie grinst aus den schlechtgemalten Darstellungen von Szenen, in denen der Erzengel Gabriel figuriert, die die Wände bedecken. Hier kann man Augen sehen, die eine Tragödie enthalten, und ein Lächeln kann die letzte menschliche Verworfenheit offenbaren. Die Gäste hier sind geübt in der Beurteilung und Einschätzung der Menschen, mit einem scharfen, blitzschnellen Blick ist die Prüfung beendigt. Die Sprache ihrer Mimik ist hoch entwickelt, ein leises Senken des Augenlids übermittelt dem andern Beobachtungen, Abmachungen, Pläne etc. Ich habe hier ein kleines Abenteuer erlebt.

In all den hundert Kneipen rings um den Hallen kreist in jeder Nacht ein wirres und unfassbares Leben, der hüpfende, tanzende Schaum und Schmutz, den der große, tosende Strudel gegen die steinernen Ufer schleudert.



Bernhard Friedrich Wilhelm Kellermann (*4. März 1879 in Fürth; †17. Oktober 1951 in Klein Glienicke bei Potsdam) war ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Abgeordneter. Sein bekanntestes Werk ist der Roman Der Tunnel (1913), ein internationaler Bestseller, der millionenfach verkauft, in 25 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt wurde.

Kellermann studierte zunächst an der Technischen Hochschule München, später Germanistik und Malerei. Schon mit seinen frühen Romanen Yester und Li (1904) und Ingeborg (1906) gelang ihm der Durchbruch. Es folgten Reiseberichte aus den USA und Japan, die seine Beobachtungsgabe und literarische Vielfalt unter Beweis stellten.

Der Erste Weltkrieg prägte ihn tief: Als Kriegsberichterstatter veröffentlichte er Reportagen vom Frontgeschehen. Mit seinem gesellschaftskritischen Roman Der 9. November (1920), der den Umbruch am Ende des Krieges thematisiert, zog er sich den Hass der Nationalsozialisten zu – das Buch wurde 1933 verboten und verbrannt, Kellermann aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.

Nach 1945 engagierte er sich in der jungen DDR stark für kulturelle und politische Fragen. Gemeinsam mit Johannes R. Becher gründete er den Kulturbund, wurde Abgeordneter der Volkskammer und Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Für seinen Roman Totentanz erhielt er 1949 den Nationalpreis der DDR. In Westdeutschland hingegen geriet sein Name durch Boykottaktionen weitgehend in Vergessenheit.

Kellermann war zweimal verheiratet: 1915 mit der US-Amerikanerin Mabel Giberson (†1926) und ab 1939 mit Else „Ellen“ Michaelis, die nach seinem Tod seine Werke herausgab.

Bernhard Kellermann hinterließ ein vielseitiges Werk aus Romanen, Erzählungen, Reisebüchern und Reportagen. Er ruht auf dem Neuen Friedhof in Potsdam.

weniger anzeigen expand_less
Weiterführende Links zu "Der Magen von Paris"

Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)

Als Sofort-Download verfügbar

eBook
0,00 €

  • SW9783689125899458270

Ein Blick ins Buch

Book2Look-Leseprobe
  • Artikelnummer SW9783689125899458270
  • Autor find_in_page Bernhard Kellermann
  • Verlag find_in_page EDITION digital
  • Veröffentlichung 14.10.2025
  • Barrierefreiheit
    • Barrierefrei nach: EPUB Accessibility Spec 1.1
    • Aussehen von Textinhalten kann angepasst werden
    • Enthält ausführliche Alternativtexte
    • Navigation über Inhaltsverzeichnis
    • Für TTS-Nutzung optimiert
    • Kommentar vom Verlag: Dieses E-Book ist barrierefrei nach EPUB Accessibility 1.1. Es enthält strukturierte Navigation, maschinenlesbare Spracheinstellungen, Alternativtexte für alle Bilder und keine bekannten Zugangshindernisse. Geeignet für Screenreader und barrierefreie Lesesysteme.
  • ISBN 9783689125899
info