Der Mann, der seine Heimat suchte

Zwischen den Fronten, auf der Suche nach Heimat – ein bewegendes Zeitzeugnis. Als russlanddeutscher Kriegsgefangener wird Johann Ostermann auf einen badischen Bauernhof geschickt – zurück in jenes Land, das seine Vorfahren einst verließen. Dort begegnet er einer erschöpften Familie, die mit Verlust, Mangel und der Willkür der Kriegswirtschaft kämpft. Ostermann wird zum stillen Beobachter, zum Teil des Alltags, zum Spiegel einer zerrissenen Gesellschaft – und zum Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft. Adam Scharrers eindringlicher Roman ist nicht nur ein literarisches Dokument der Kriegszeit, sondern auch eine zutiefst... alles anzeigen expand_more

Zwischen den Fronten, auf der Suche nach Heimat – ein bewegendes Zeitzeugnis.

Als russlanddeutscher Kriegsgefangener wird Johann Ostermann auf einen badischen Bauernhof geschickt – zurück in jenes Land, das seine Vorfahren einst verließen. Dort begegnet er einer erschöpften Familie, die mit Verlust, Mangel und der Willkür der Kriegswirtschaft kämpft. Ostermann wird zum stillen Beobachter, zum Teil des Alltags, zum Spiegel einer zerrissenen Gesellschaft – und zum Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft.

Adam Scharrers eindringlicher Roman ist nicht nur ein literarisches Dokument der Kriegszeit, sondern auch eine zutiefst menschliche Erzählung über Identität, Solidarität und den langen Weg zur inneren und äußeren Heimat.



Frau Kißling verzog ihr faltiges, kränkliches Gesicht zu einem verlegenen Lächeln und verschwand mit dem Topf in der Küche. Dann brachte sie Pantoffeln für ihren Mann und nahm ihm die Pelerine ab. „Wir werden nämlich von der Kriegshilfe unterstützt“, sagte Kißling. „Unser Mittagessen müssen wir vom Kloster holen.“ Ostermann setzte sich auf die Bank und streichelte die Katze, die durch das Fenster erstaunt auf die durcheinanderspringenden Hagelkörner schaute.

Frau Kißling brachte Hagebuttentee. „Brot haben wir leider keines im Haus“, sagte Kißling. „Wir bekommen erst übermorgen neue Brotkarten, und bei zwei erwachsenen Menschen lässt es sich schwer einrichten.“ Er wärmte seine Hände am Teeglas und fragte dann: „Wie geht es eigentlich den deutschen Kolonisten in Russland?“

Ostermann hatte lange Zeit keine Nachrichten aus der Heimat erhalten. Die letzte war von seinem Bruder. Er war an der türkischen Front bei einem Straßenbaukommando. Er hatte geschrieben, dass ihm und seinen Kameraden die Kleider in Fetzen vom Leibe hingen, dass das Essen so schlecht und unzureichend sei, dass schon viele Kameraden gestorben seien. „Vielleicht wird der Brief abgefangen“, fürchtete der Bruder, „dann steht mir sicher noch Schlimmeres bevor! Aber ich wollte Dir schreiben, solange ich noch schreiben kann.“

„Diesen Brief habe ich noch vor meiner Gefangenschaft erhalten“, sagte Ostermann. „Ob mein Bruder noch lebt, weiß ich nicht. Meine Schwestern arbeiten als Mägde bei deutschen Bauern, auch meine Mutter, sie ist über sechzig Jahre alt.“

„Unter den Kolonisten gab es also vor dem Kriege schon viele verarmte?“, fragte Kißling.

„Viele. In unserem Dorf gibt es heute mehr landlose Kolonisten als Landbesitzer. Auch ich arbeitete von meiner Kindheit an als Knecht.“

Kißling stopfte sich eine Pfeife und erzählte dann: „Ich war achtunddreißig Jahre Lehrer und kenne die Geschichte unseres Volkes ziemlich gut. Aus unserem Land sind viele ausgewandert. Es war um die Zeit des Siebenjährigen Krieges. Eine Zeit wie jetzt, wo auch niemand wusste, wann endlich die Menschheit wieder einmal zur Ruhe kommen wird. Auch noch in der Napoleonzeit sind viele fort, nach Amerika, Australien, Argentinien und Russland. Von den Auswanderern nach Russland sind schon auf der Reise viele durch Cholera und Typhus umgekommen und viele andere später, weil sie mittellos und ohne Obdach in den russischen Winter hineingeraten sind. Nun sind wir wieder soweit zum Auswandern, aber wohin?“ Kißling trank in kleinen Schlucken von seinem Tee und begegnete dem ängstlichen Blick seiner Frau. Er fuhr fort: „Sie haben es noch gut getroffen. Die Eckerts sind brave Leute. Die Frau stammt überdies von drüben, aus dem Elsässischen, er hat sie kennengelernt als Soldat.“



Adam Scharrer wurde am 13. Juli 1889 in Kleinschwarzenlohe (heute Gemeinde Wendelstein, Mittelfranken) geboren. Bereits in frühen Jahren prägte ihn das harte Leben der Arbeiterklasse. Nach einer Schlosserlehre führte ihn seine Arbeitssuche durch zahlreiche deutsche Städte sowie nach Österreich, die Schweiz und Italien. Während des Ersten Weltkriegs wurde er als Artillerist an die Ostfront eingezogen. Seine Erfahrungen als Soldat und seine Enttäuschung über die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten radikalisierten seine politische Haltung. Er trat dem Spartakusbund bei und engagierte sich später in der linksradikalen KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands).

Scharrer begann in den 1920er-Jahren mit dem Schreiben. Seine erste Erzählung „Weintrauben“ (1925) wurde anonym veröffentlicht und brachte ihm eine Anklage wegen „literarischen Hochverrats“ ein. Seine Werke sind stark autobiografisch geprägt und erzählen aus der Perspektive der unteren Gesellschaftsschichten. 1930 erschien sein wohl bekanntestes Werk „Vaterlandslose Gesellen“, eine proletarische Antwort auf Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Der Roman ist eine schonungslose Abrechnung mit dem wilhelminischen Militarismus und dem Ersten Weltkrieg.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 musste Scharrer untertauchen und floh zunächst in die Tschechoslowakei, dann in die Sowjetunion. Dort lebte er in einer Autorenkolonie und schrieb weiter über die Nöte der Arbeiter und Bauern. Während seines Exils entstanden unter anderem „Maulwürfe“ (1934), „Pennbrüder, Rebellen, Marodeure“ (1937) und „Der Krummhofbauer und andere Dorfgeschichten“ (1939).

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Scharrer 1945 nach Deutschland zurück und ließ sich in Schwerin nieder. Er arbeitete als Redakteur der „Schweriner Landeszeitung“ und wurde Leiter der Literatursektion im Kulturbund. Trotz seiner politischen Nähe zur Arbeiterbewegung trat er keiner Partei bei.

Adam Scharrer starb am 2. März 1948 in Schwerin an den Folgen eines Herzanfalls, der durch eine hitzige Debatte über den Umgang mit der NS-Vergangenheit ausgelöst wurde. Er hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk, das in der DDR große Verbreitung fand und als wichtiger Beitrag zur proletarischen Literatur gilt.

Seine Bücher, darunter „Vaterlandslose Gesellen“, „Der große Betrug“ und „In jungen Jahren“, geben bis heute Einblicke in das Leben und die Kämpfe der Arbeiterklasse und bleiben ein wichtiges Zeugnis der deutschen Literaturgeschichte.

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